• 31. Juli

    July 31 in Norway ⋅ 🌫 14 °C

    Was für ein schöner Morgen. Hier oben auf der Höhe ist alles im Nebel, ich kann weder die Stadt noch sonstwas in der Entfernung sehen. Aus den beiläufigen Erwähnungen von gestern Abend weiß ich, dass es heute heiß werden soll und so zeichnet sich der gelbe Feuerball schon nach kurzer Zeit hinter den Nebelschwaden ab und arbeitet schwer an seiner Selbstinszenierung. Für mich ist der erste Weg natürlich heute am Morgen in den See. Es ist unglaublich warm und ich glaube, an 20° fehlt diesem Wasser hier nicht viel. Also tatsächlich etwas zum unbeschwert drinbleiben, rumschwimmen und genießen. Das ganze in einer außerordentlich stillen, wirklich ruhigen Atmosphäre, obwohl ich hier auf diesem Hügel ja direkt über der Stadt bin. Vielleicht ist es der Nebel, der alles Getöse schluckt. Und als wäre es meinem Wunsch nach erlebter Geschichte geschuldet, wird diese Ruhe beim gepflegten Frühstück auf dem Hügel ganz nahe der Bunkeranlagen um Punkt neun jäh unterbrochen, als das Horn des Postschiffes drei Mal laut wie an jedem Tag seine Einfahrt vom Fjord her ankündigt. Kurz darauf ist es dumpfes schweres Maschinengewehrfeuer vom Westen her, die Salven vom Übungsplatz dröhnen über eine Stunde lang immer wieder. Und wie als Paukenschlag zum Schluss gibt es ganz in der Nähe eine heftige Explosion. Eine Frau, die mit ihrem Hund gerade hier vorbei läuft, erzählt mir, dass wenige 100 m entfernt ein Haus gebaut wird und der Felsen darunter entsprechend mit Dynamit in die passende Form gebracht wird. Sie ist deshalb extra mit ihrem Hund hier rausgegangen, da am Morgen die Männer an den Häusern geklingelt und ihr Vorhaben angekündigt haben. Das lässt sich ja an wie eine wahre Geschichtsstunde. Ich habe just für heute um 12:30 Uhr den Besuch der Andersgrotta gebucht, des größten Luftschutzbunkers, den die Deutschen für die Zivilbevölkerung unter Anleitung des Minen-Ingenieurs Anders Elvebakk auf circa 300 m Länge und bis zu 70 m unter die Oberfläche in den Fels haben treiben lassen. Und so fühlt es sich ein bisschen an wie vor über 80 Jahren, als tatsächlich Explosionen und schweres Feuer, die Stadt erschütterten und die Menschen sich in dieser einzigen Zuflucht versteckten. Es ist trotz der sommerlich warmen Temperaturen außerhalb innen nur 4° über Null, im Winter war es herinnen vereist bei deutlich unter 10° Minus, wie der Guide erklärt. Es gab seinerzeit keine Elektrizität, Toiletten oder Ventilation hier drin, so dass die Menschen tatsächlich nur bei Fliegeralarm drinnen ausgeharrt haben. Das Ganze aber so oft wie nirgends sonst im zweiten Weltkrieg. Denn die Nähe zur russischen Grenze und nach Murmansk, was ja in wenigen Tagen erreicht werden sollte, war den Alliierten Anlass genug, diesen strategisch so enorm wichtigen Standort samt der ganzen Varanger-Region mit allen Mitteln zu beknien, schlussendlich ja mit Erfolg. Und er erklärt weiter, dass die schweren Eingangstüren immer offen standen, damit bei den über 1000 Fliegeralarmen und 800 Bombardierungen der Russen keine Sekunde verloren ging. Bis zu 3000 Menschen fanden hier drin Schutz und als die Deutschen das Feld geräumt hatten, war es für viele noch für längere Zeit eine Unterkunft. Was noch nicht zerbombt war, hat die „Taktik der verbrannten Erde“ zunichte gemacht. Es gab also faktisch nichts mehr, was hier gestanden hat und als Haus oder Wohnung nutzbar war. Entsprechend haben viele in irgendwelchen Höhlen oder auch im Bergwerk gelebt, bis Stück für Stück wieder Häuser und Hütten entstanden waren. Wirklich beeindruckt von alldem komme ich nach einer guten Dreiviertelstunde wieder raus in die brennend heiße Sonne und nehme wahr, dass ich ja hier in Wirklichkeit ein anderes Leben führe. Mich jetzt daran machen kann, ein paar neue Bremssättel als Leckerli für den Muli zu besorgen und danach zum Stadtfest zu gehen und mit wildfremden Menschen zu feiern. Da ich inzwischen zum x-ten Mal hier durch die Stadt und aus der Stadt heraus fahre, grüßen mich manche Autofahrer schon, weil wir uns zum wiederholten Male begegnen. Im ersten Laden gibt es nicht das erwünschte, aber wenn sie etwas sind, dann ist es hilfsbereit und empfehlen mir noch zwei weitere Läden, die überhaupt infrage kommen. Einer ist in der Stadt und den steuere ich auch erst mal an, aber auch hier ist das, was ich brauche, nicht verfügbar. Wenn ich schon mal da bin, schlendere ich entlang der Foodtrucks und Marktstände und tatsächlich ist es mir heute eine Freude, hier umherzuschleichen und mit verschiedensten Leuten ins Gespräch zu kommen. Da ist der Eiswagen, der mir in den letzten Wochen irgendwo in der Landschaft schon mehrmals aufgefallen ist, von dem ich immer angenommen habe, jemand nutzt ihn als Wohnmobil. Schräge Typen gibt es ja genug. Aber nein, es ist ein Pole, der den Stadtfesten und Festivals hier oben in einer Art Gruppe mit anderem fahrenden Volk hinterherzieht. Dann finde ich einen Käsestand, mal nicht aus Holland oder Italien, sondern tatsächlich von hier aus dem Pasviktal, dass ab morgen ohnehin auf meiner Liste als Destination steht. Ich unterhalte mich mit dem Betreiber, der also hier aus der Nähe stammt und eine Farm mit Kühen betreibt, sämtlichen Käse selbst herstellt. Die junge Frau, die mit ihm zusammen bedient, gibt sich als eine vor einem Jahr ausgewanderte Brandenburgerin zu erkennen, entsprechend locker und flockig ist das weitere Gespräch und die Preisverhandlungen mit dem Chef laufen dann auch auf Festivalniveau. Schließlich sitze ich auf dem recht vollen Marktplatz, habe heute doch einen Wal-Eintopf verdrückt und treffe auf Anja, eine Norwegerin und ihre russische Freundin Ira aus Murmansk. Es ist ein längeres Gespräch über das Warum, Wie, Wann und Ob, irgendwann sind wir natürlich auch beim Thema zweiter Weltkrieg, wo ich doch auch immer mehr feststelle, dass es den Bewohnern hier durchaus auch zu viel ist. Jeder fremde kommt hierher und fragt genau nach diesem Thema, obwohl all die Hügel und die Landschaft schon lange vor und auch lange nach der kurzen Besatzungszeit existiert haben und für sie deutlich mehr sind. Nichtsdestotrotz schickt mir Anja einen Link, wo es draußen in den Bergen ein Wrack eines deutschen Flugzeugs gibt, was im Großen und Ganzen so dort rumliegt, wie es während des Kriegs abgestürzt ist. Da das mehr oder weniger an meinem Weg liegt, wird das natürlich mein nächstes Ziel sein. Dazu sei gesagt, das Pasvikdalen zieht sich von Kirkenes aus gute 120 km Richtung Süden entlang der russischen Grenze bis hin zum Dreiländereck mit Finnland. Die Straße endet dort und ich werde das ganze Stück auch wieder zurückkommen müssen, wahrscheinlich auf dem Wege den Käsemann auf seiner Farm besuchen und mich hier in Kirkenes mit Ira im Terminal B, einer Kunstausstellung, noch mal treffen. Sie hat Kaffee und Waffeln versprochen. Jetzt heißt es für mich aber gegen halb fünf aufzubrechen, um außerhalb der Stadt im Intersport-Laden hoffentlich doch noch ein paar neue Bremsklötze zu ergattern. Mithilfe der freundlichen Verkäuferin ist das auch rechtzeitig noch vor um sechs getan und so breche ich jetzt auf in Richtung Pasvik auf, um in Sandnes abzubiegen und bis zu dem Punkt zu fahren, von wo aus ich wohl gute 7 km zu Fuß bis zu der Absturzstelle laufen werde. Es ist inzwischen gegen sieben, aber wie ich zu meiner Freude sehen kann, ist der Weg in die Berge, doch noch circa 3-4 km mit dem Rad befahrbar, so dass der Fußweg entsprechend kürzer wird. Gegen halb acht komme ich an einen Damm, der einen Fluss aufstaut, hier packe ich etwas Proviant zusammen und mache mich auf den Fußweg durch die Berge. Wie ich das genieße, bedarf keinerlei Erklärung, es ist das Fjäll und ich bin wieder da. Entlang an Seen und Flüssen durch Birkenwald ist der Weg gesäumt von hohen Granitfelsen und es spielt am Ende gar keine Rolle, ob ich jetzt 4, 7 oder 10 km laufen müsste. Gegen halb neun erreiche ich die Stelle, an der ich laut der norwegischen Beschreibung den Platz vermute, finde aber gar nichts vor. 100 m in jeder Richtung abgesucht bin ich etwas ratlos. Studiere noch einmal das gelesene und werde aber mit jedem Mal lesen unsicherer, ob ich es missverstehe oder wo jetzt genau der Haken ist. Ich bin schon ein aufmerksamer Wanderer und so folge ich dem Weg von hier aus noch weitere 2 km weiter bis zu einem See, mehr oder weniger aus Verzweiflung, nicht wirklich in der Erwartung, hier fündig zu werden. Dort angekommen, überquere ich den Fluss und folge ihm auf der anderen Seite wieder zurück bis zu dem ursprünglich vermuteten Punkt. War ich doch herwärts zu unaufmerksam? Man kommt an der Stelle entlang, war doch dort geschrieben. Und so wird aus dem reinen Wandern jetzt eher ein akribisches Scannen des Geländes zu beiden Seiten, während ich den Rückweg antrete. Hier geht noch mal ein Pfad ab, dem ich für 1 km folge, aber doch nur ein Rentierpfad. Da noch mal eine Stelle, die verheißungsvoll wirkt, aber nichts. Ich nehme es als gegeben hin, dass da wohl doch zu viel Filz auf der Brille gewachsen ist und während die Abendsonne schon nach um halb zehn die großen Felsen so schön orange beleuchtet, an denen ich herkam, erspähe ich doch auf einmal das scheinbar Unauffindbare, nur 50 m abseits des Weges in den Birken. Und erkenne jetzt auch, warum ich es nicht wahrgenommen habe: Es ist genau der riesengroße Fels auf der gegenüberliegenden Seite des Weges, der mich vorhin schon so fasziniert hat und dem meine Aufmerksamkeit galt. Nun aber gilt sie vollständig dieser Stelle, die für mich eine Art von Faszination, aber auch Ehrfurcht hervorruft. Auf einer Fläche von vielleicht 30 × 30 m liegen Rumpfteile, die zerfetzten Motoren, das Fahrwerk verstreut umher und soweit ich sehen kann, überall kleine, zerrissene Aluminium-Bleche. Welche Wucht muss es sein, diese Metallteile so sehr zu zerreißen? Es ist für mich wie eine Art Untersuchung, die ich hier anstelle, um möglichst viel von dem zu verstehen, was ich da sehe. Von Norden her scheint der Flieger gekommen zu sein, denn in dieser Richtung finde ich noch in mehr als 150 m Entfernung kleine Teile, aber auch ein paar größere wie ein Kühlaggregat. Ein paar wenige Aufschriften zeigen, dass es ein deutsches Flugzeug war, welcher Typ oder irgendwelche weiteren Details bleiben mir als Laien aber verwehrt. Und eine Frage beantwortet sich mir nicht, nämlich wo ein großer Teil dieses Flugzeugrumpfes ist. Da sind keine Tragflächen und auch vom eigentlichen Chassis sehe ich nicht allzu viel. Ich kann mir kaum vorstellen, dass damals jemand hier etwas beräumt hat, ich verstehe es nicht. Sehr zufrieden über den Fund dieser außergewöhnlichen Stelle trete ich den Rückweg an. Während hinter den Bergen wunderschöne orange und lilane Wolkentürme aufgebaut werden, zieht in meiner Richtung Nebel über die Berge herein. Bei alldem hoffe ich die ganze Zeit, einen Bären zu sehen, denn die gibt es hier im Pasvikdalen auffällig viele. Nun bin ich ein wahrlich Glücklicher unter dieser Sonne und was soll ich sagen, tatsächlich zum ersten Mal in diesem Jahr auf dieser Reise kann ich ein paar Beeren ausmachen. Was schert mich da die Rechtschreibung? Es sind nämlich Heidelbeeren, sie waren bei mir geradezu in Vergessenheit geraten und ich freue mir einen Ast, als ich hier in dieser wunderschönen Umgebung etwas ernten kann. Zurück an meinem Fahrrad überlege ich, hier irgendwo niederzukommen, aber der Kraftwerks-Generator dieses kleinen Staudamms ist mir doch zu brummig für die ganze Nacht und so mache ich mich auf den Rückweg Richtung Sandnes, was ich fast um Mitternacht erreiche und wo ich mich weit außerhalb ziemlich genau um Mitternacht am Langfjorden in die Nacht verabschiede, während es gar nicht weit entfernt im Nebel immer wieder donnert. Eine Wetterkonstellation, an die ich mich nicht erinnern kann, sie jemals zuvor erlebt zu haben.Read more