• 2. August

    August 2 in Norway ⋅ ⛅ 20 °C

    Aufgewacht, die Sonne lacht. Es ist gegen acht und ich schäle mich langsam aus dem Bett. Zu meinem Erstaunen hat Ivar mir ganz liebevoll ein delikates Frühstück mit Marmelade und Käse angerichtet, während er jetzt gerade raus in den Stall verschwindet und die Kühe milkt. Eine gute Stunde braucht er ohnehin, die ich Zeit habe, all das hier zu genießen und in einem Magazin einen Bericht über ihn zu lesen, der seine recht einzigartige Käserei und den Hof hier so weit im Nordosten beschreibt. Gegen neun trete ich draußen an, schließlich habe ich ja meine Hilfe versprochen. Bevor es losgeht, kann ich mich noch eine Zeit lang mit der Auswanderin Janine unterhalten, sie ist schwer dabei, Käse zu portionieren und vakuumieren, damit nachher auf dem Marktstand in Kirkenes auch ausreichend zum Verkauf verfügbar ist. Die Sonne steht blendend am Himmel und als Ivar mit dem Melken fertig ist, drückt er mir schon mal den dicken Wasserschlauch in die Hand, so dass ich im Stall den Boden an einigen Stellen reinigen kann. Derweil merke ich recht schnell, wie ich hier vom Wander- zum Stallburschen werde, der ich irgendwie ja auch schon als Kind und Jugendlicher zu Hause auf unserem Hof war. Wir schaffen gemeinsam ein paar Kälber von einer Box in die andere, zu zweit ist das ruckfix in 2 Minuten erledigt. Als später eins aus dem Stall entwischt und draußen auf dem Hof rumläuft, ist auch dies zu zweit sehr schnell wieder eingefangen und zurück am rechten Platz. Ich merke, unter welchem Zeitdruck er steht, da will die Tierärztin noch vorbeikommen, es gibt noch einige Kühe auf eine andere Weide zu bringen und natürlich muss er irgendwann aufbrechen nach Kirkenes zum Stadtfest. Gestern am Abend hatte er schon erwähnt, dass heute der erste Tag wäre, an dem er pünktlich da ist. Es wird wohl eher bei der Theorie bleiben. Der Kuh mit dem Kälbchen draußen auf der Wiese Kraftfutter und Wasser bringen, dann noch Heu vom Boden runter für alle im Stall verteilen, Strom am Elektrozaun aus- und wieder einschalten, mir ist das alles tatsächlich nicht sehr fremd, auch wenn ich natürlich die Abläufe hier auf diesem Hof bis dahin nicht im Detail kenne. Umso angenehmer ist es, mit ihm zu arbeiten. Denn trotz eines gewissen Stresses lacht er immer wieder und ist in seiner guten Laune nicht zu verbiegen. Gegen elf verlassen die zwei das Gehöft, wir verabschieden uns und ich kann noch schnell eine Dusche nehmen, schließlich ist hier in dieser Gegend eh Tür und Tor geöffnet, niemand muss ich um so etwas kümmern. Das erinnert mich sehr an meine Kindheit in der DDR. Um halb zwölf starte auch ich durch. Es zieht sich wieder auf dieser ewig langen Straße, die die besten Zeiten hinter sich hat und mit ihren vielen kurzen Wellen ein ziemlich rappeliges Fahren verursacht, insbesondere durch die Querrillen, die sich immer wieder ein paar Zentimeter breit über die gesamte Straße ziehen. Sie machen mir manchmal das Gefühl, als würde ich im Waggon der Deutschen Reichsbahn sitzen, wo es ziemlich ähnlich ewig dieses Dadatt, Dadatt…….Dadatt, Dadatt gemacht hat. Auf dieser Straße ist glücklicherweise so wenig Verkehr, dass ich sie immer auf voller Breite nutzen kann, also zumindest versuche, den ärgsten Widersachern auszuweichen. Zu sehen gibt es leider nicht sehr viel mehr als immer wieder die lange, lange Straße, die sich durch den Mischwald zieht. Wie oft kann ich 2-3 km im Voraus die Strecke erkennen, nur manchmal zieht es sich dichter an den Fluss heran oder an einem der vielen kleinen Seen vorbei. Immer mal wieder zwischendurch sehe ich Kühe auf der Weide und dazu kleine Farmen, gerade dann geht mir das Wort Paradiesvogel durch den Kopf. Aber Paradieskühe, von denen habe ich noch nie gehört, hier wäre der Titel wirklich passend. Ivar hatte mir erzählt, es hat früher hier im Pasvikdalen bis zu neunzig solcher Kleinbauern gegeben, wie er heute einer ist. Der übrigens 23-jährig den Hof der Eltern übernommen und erst vor einigen Jahren mit der Käseproduktion begonnen hat. Den Großteil der Milch holt der hier in Norwegen größte Molkereibetrieb Tine regelmäßig ab, damit auch im Supermarkt in der Meieri für alle ausreichend im Angebot ist. Gegen halb eins komme ich an einem der sechs Staudämme am Pasvikelva vorbei, an dem in einem doch recht großen Wasserkraftwerk Strom erzeugt wird. Ein norwegisches Paar versucht sich hier am Anglerglück, ich unterhalte mich mit der Frau eine ganze Weile, die hier aufgewachsen und jetzt gerade zu Besuch ist, während weiter draußen auf der riesigen Wasserfläche die Militärs in Schnellbooten patrouillieren. Der Fluss hat übrigens meistens eine Ausdehnung, die ihn wie einen großen See erscheinen lässt. Angesichts der Temperaturen habe ich mein Shirt schon lange ausgezogen, brauche es nur bei Pausen zwischendurch, wenn Fliegen und Mücken mir zu sehr auf die Pelle rücken. Gegen zwei zieht sich die Straße für eine längere Zeit mal in der Nähe des Flusses entlang, von hier aus habe ich wunderbare Aussichten rüber in die russischen Berge und Wälder. Die Landschaft hier ist eine völlig andere, als sie noch in Kirkenes war, es ist eher sumpfig flaches Land, wie ich es auch zeitweise beim Wandern im letzten Jahr erlebt habe. So gegen vier erweckt ein Hinweisschild mit einer Kaffeetasse darauf mein Interesse, ich biege von der Straße ab auf einen ziemlich kleinen Campingplatz. Auf dem ich mir aber gar nicht sicher bin, ob ihm dieses Schild galt. Denn Kaffee gibt es hier weit und breit nicht, stattdessen treffe ich aber die nette Schweizerin Salomé, die mich vorhin zusammen mit ihrem Mann Konrad im Wohnmobil überholt hat. Sie bieten mir einen Kaffee und ein Stück Kuchen an, ich sitze eine gute Stunde bei ihnen, wir unterhalten uns über unsere Reisen. Insbesondere wachsen meine Ohren auf Salatblattgröße an, als sie davon erzählen, dass sie erst kürzlich in Kaliningrad für eine Zeit zu Besuch waren, also ganz normal ein Visum bestellt und erhalten haben und als einzige Umstände das Wechseln des Geldes ansehen. Kurzum sagt mir das wieder einmal, Russland ist gar nicht so weit entfernt, wie es immer wieder scheint. Ein anderer Punkt, an dem ich innerlich schmunzle und den Daumen hebe, als Konrad mir erzählt, dass er Bankkaufmann gelernt und dann sein Leben lang als Maler gearbeitet hat. In meinem Geiste ist es dann so etwas, dass er Farbe nie auf eine Wand gerollt, sondern sie immer hinkalkuliert hat. Da die Straße von Wäldern gesäumt ist, geht mein Blick natürlich umso öfter nach oben an den blauen Himmel, der im Laufe des Nachmittags mehr und mehr Quellwolken und ein buntes Gemisch zeigt, dass mir gewitterig und irgendwie nach späterem Regen aussieht. Gegen halb sechs passiere ich etwas abseits der Straße ein kleines Outdoor Museum, hier werden diverse Fotos und Beschreibungen aus der alten Zeit bis heute präsentiert. Auch hier ist bei den schwarz-weiß Abzügen deutlich der damalige Einfluss von Ellisif Wessel zu merken, dieser besonderen Frau, die ihrer Zeit scheinbar vorausgeeilt ist. Sie hat in den Jahren ab 1890 in der Region einerseits mit ihrer Fotoausrüstung und Liebe zur Fotografie unzählige einzigartige Dokumentationen geschaffen, aber sich auch mit ihrer Art, für Sami, Arbeiter und das Volk zu kämpfen, selbst ein Denkmal gesetzt. Schön, dass eine ganze Region über 100 Jahre später auf so einen wertvollen Schatz zurückgreifen kann. Es dreht sich in dieser Ausstellung um das Leben hier im Pasvikdalen und um die Zeit, als viel Holz benötigt wurde und bis runter in die Fjorde nach Kirkenes geflößt wurde. Eine Stunde später erreiche ich nun den Punkt, an dem die Teerstraße endet und sich auf zwei Schotterwege aufteilt. Von hier aus sind es noch gute 20 km Autofahrt gefolgt von 5 km Fußmarsch bis zum Dreiländereck, wie ein paar Holzschilder ankündigen. Diese Gravelroad ist in ihrer Art recht unterschiedlich, teils kann ich mit 30 km/h darüberfegen, dann ist sie mal zerspült, wird wieder kurz sandig, um mir beide Räder einfach wegzureißen, sodass ich mich nur mit Glück und dank niedriger Geschwindigkeit wieder fangen kann. Dann kurze steile Steigungen mit rund gewaschenen Steinen, das grobe Profil wirft einfach nur alles nach hinten raus, während ich auf der Stelle stehe. Aber der meiste Teil dieses Weges ist dann doch ziemlich glattgefahren und es macht mir große Freude, auf diesem Untergrund zu rollen. Und immer mehr wird der Wald jetzt zu reinem Kiefernwald, die Straße fast nur noch sandig und es liegt ein intensiver Geruch nach diesen Kiefernnadeln in der Luft. Der Øvre Pasvik Nasjonalpark, der der nordwestlichste Ausläufer der sibirischen Taiga ist, fährt sich jetzt wie der Rheinradweg durch Brandenburg. Für mich eine wunderbare Abwechslung, wohlwissend um die letzten Kilometer und um halb acht ist es dann auch getan. Ich erreiche einen kleinen Parkplatz mit einem recht großen, modernen Shelter, an dem eine Norwegerin sitzt und auf ihren Lebensgefährten wartet, der sich alleine auf den Fußweg zum Dreiländereck gemacht hatte. Was sich über den Nachmittag mehr und mehr angekündigt hatte, wird hier Wirklichkeit, nämlich ungeduldige Mücken und Bremsen in Vollendung. Sie zeigen mir erbarmungslos, wer hier Master of Disaster ist. Trotz der warmen schwülen Temperaturen ziehe ich mir lange Hose und Jacke über, während ich nebenbei realisiere, dass ich keinerlei Wasser mehr bei mir habe. Auch versuche ich erstmal, mich innerlich etwas zu orientieren, da ich nicht genau weiß, wohin mit mir. Unter diesem großen Shelter könnte ich trocken übernachten, schließlich steht der Regen am Himmel, aber ohne Zelt werden sie mich auffressen. Also hänge ich alles vom Fahrrad ab und mache mich auf den Weg gut 1 km zurück, wo es einen guten Zugang zum Fluss gibt, an dem ich alles Frischwasser auffüllen kann. Wieder vor Ort trage ich mir angesichts der Umstände doch Antimückencreme auf und esse erst mal zu Abend. Nebenbei beginnt es schon leicht zu regnen, aber innerlich sortiert sich ganz langsam, was mir vorhin noch gefehlt hat. Es ist um neun und ich baue im Shelter das Zelt auf, lasse all meine Sachen hier und versuche um halb zehn, die 5 km nach Treriksrøysa mit dem Rad zu bewältigen. Niemand konnte es mir bisher so genau beschreiben, ich erwarte eine Art Wanderweg, aber auch mit Holzplanken ausgelegte Stücken und wie ich hier auf einem Infoschild lese, ist es ein Pfad, den das Militär mit den Sixwheelern nutzt. Da rechne ich mir doch auch Chancen für mich aus, bin ich doch schließlich ganz ohne Gepäck unterwegs. Und tatsächlich komme ich ganze 200 m weit auf einem sandigen Pfad voran, bevor es auf Holzplanken durch teils recht tiefes Wasser geht, wo ich Mühe hab, die Räder auf der rechten Seite der Planken zu führen und selbst auf der linken zu laufen. Immer wieder springen die Räder runter und finden auf dem nassen, glatten Holz nicht wieder hoch. Nach diesem ersten Sumpfland geht es wieder in den Wald, hier sind dicke wüst verteilte Steine im Weg, die man mit entsprechenden Geländefahrzeugen wohl befahren kann, nicht aber mit einem Fahrrad meiner Art. Also parke ich den Muli am Wegesrand an einen Baum und mache mich im Regen auf den weiteren Fußweg. Dass ich in meinen Sachen schwitze und angesichts des Regens auch in Kürze komplett durch sein werde, nehme ich billigend in Kauf, denn was nass wird, trocknet bekanntlich auch wieder. Damit ich nicht ständig um mich schlagen muss, habe ich mir den großen Hut mit Krempe und das Mückennetz auf-, als auch Handschuhe angezogen und bin damit komplett mumifiziert. Beim Laufen bleibe ich manchmal für 2 Sekunden kurz stehen, um rund um meinen Kopf das laute Surren der Suchtis wahrzunehmen. Ja, die Kapelle spielt aus Leibeskräften, während ich im Hintergrund immer wieder Wortfetzen ihrer Partisanenlieder höre: „….wir kämpfen bis aufs Blut, es ist für unsre Brut...“ Fünf Kilometer ist wahrlich kein langer Marsch, zumal es immer wieder wechselnd durch nasses Sumpfland über die Holzplanken, aber auch durch den Wald über Stock und Stein geht. Es zieht sich hier recht nah an der russischen Grenze auf dem Landweg entlang, entsprechend sehe ich die Beobachtungstürme und auch immer wieder deutlich große, gelbe Hinweisschilder, die diesseits auf all das Regularium hinweisen wie auch die an einem Rentierzaun, die mitteilen, dass jegliche Gatter und Tore wieder zu schließen sind. Auch den Rentieren ist es also formell betrachtet nicht erlaubt, zum Feind überzulaufen. Ja nee, is klar. Jetzt mag dieser Weg dank der Klamotten, die ich trage, des inzwischen beendeten Regens, des trüben Lichts und des gesiebten Gesamtbilds vor meinen Augen nicht so sehr aufregend sein, aber in einem Punkt besticht er doch außergewöhnlich. Es stehen nämlich reife Moltebeeren an verschiedenen Stellen und niemand hat eine Vorstellung davon, was es für ein Geschmack und ein Glücksgefühl ist, nach über einem Jahr der Enthaltsamkeit mit dicken Handschuhen eine der Beeren zu pflücken und sie mir unter dem Mückennetz durch in den Mund zu stecken. Dann ist es auch schon geschafft, ich sehe im Wald durch die Bäume hindurch in einiger Entfernung ein Feuer brennen und meine, auch Stimmen zu hören. Ja richtig, da sind zwei junge norwegische Soldaten, die mich schon aus einiger Entfernung wissen lassen, ich sei richtig und solle zu ihnen hochkommen. Sie haben sich hier ein Tarp eingerichtet, sind die einzigen vor Ort und werden hier übernachten. Es ist wieder wie schon am Jakobselv ein freundlicher Empfang und nach einer kurzen formellen Instruktion, die mir im wahrsten Sinne meine Grenzen aufzeigen soll, ist es ein längeres, nettes Gespräch über die Umstände und ihre Zeit hier, wo sie ihren Militärdienst ableisten. Merkwürdigerweise ist selbst der Zugang nach Finnland nicht erlaubt, die haben eine Art Sperrzone Richtung ihrer Grenze, wo weder Fremde noch Finnen Zutritt haben. Ich habe die Tage von einem Zaun gehört, der wohl videoüberwacht ist, aber niemand weiß genau, wie lang der inzwischen ist und ob er sich tatsächlich an der gesamten Grenze zu Russland entlang zieht. Das wären immerhin gut 1300 km, ich kann mir diesen Wahnsinn selbst mit gutem Willen kaum vorstellen. Während wir uns unterhalten, habe ich Helm und Netz abgenommen, um zu merken, der wahre Feind lauert für mich nicht hinter diesem Grenzstein, sondern rund um meinen Kopf in der Luft. Und so mache ich mich, nachdem wir zusammen ein paar Fotos gemacht und die Zeit abgeglichen haben, nach einer Viertelstunde wieder auf. Ich war jetzt also eine Stunde vor, genau um und eine Stunde nach Mitternacht am südlichen Ende der 198 km langen norwegisch-russischen Grenze. Denn hier treffen drei Zeitzonen aufeinander, Finnland ist uns eine, Russland zwei Stunden voraus. Gut, dass die Burschen eine echte Uhr am Arm haben, sonst wäre ich schon jetzt per Handy auf die finnische Zeit hereingefallen. Auf dem Rückweg gebe ich mich noch ausgiebiger dem Hjortron hin und kann mich dann nach einer guten Stunde direkt in meinen vernetzten Schutzraum begeben.Read more