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  • Day 2,062

    Documenta fifteen - ein Rückblick

    September 23, 2022 in Germany ⋅ ☁️ 17 °C

    Die sagenumwobene, weltweit bekannte und viele Kasseler Kunstliebhaber* stolz machende 5 jährliche Documenta... 738. Besucher* aus 86 Ländern, über 1500 Künstler* an 32 Ausstellungsorten an 100 Tagen von Juni bis September 2022 sorgten wie immer für ein Aufblühen der Stadt Kassel. (Weitere echt erstaunliche Fakten und Zahlen findet ihr hier:
    https://documenta-fifteen.de/news/documenta-fif…)

    Dennoch gibt es auch zahlreiche kunstnahe und - ferne Menschen, die die ach so weltbekannte Documenta entweder gar nicht kennen oder gar nicht feiern. Letzteres liegt vor allem an der Kritik, dass diese nur eine kleine Kunstelite anspreche, finanzielle und sprachliche Barrieren existierten und oft unverständliche Kunstwerke ohne Beschreibungen dastehen.
    Ja, die mangelnden Informationen und Schilder, das unhandliche (da sehr künstlerisch gestaltete ) Website- oder Flyerdesign kann abschreckend wirken und sind auch dieses Jahr ein bestehender Kritikpunkt.
    Allerdings hat die Documenta 15 bisher wie keine andere diese Kritikpunkte in Angriff genommen und eine, im Vergleich zu vorherigen Ausstellungen, alternative Variante geschaffen, die am Geiste unserer Zeit und gesellschaftlichem Wandel orientiert ist.
    Während die letzte Documenta im Jahr 2017 sehr politisch und vor allem die Flüchtingskrise aufgreifend sehr überfordernd war und nach meinem Empfinden zu viel wollte aber nicht konnte, bot die diesjährige Ausstellung mit all ihren Facetten einen leichteren Zugang für Groß und Klein, Alt und Jung, Arm und Reich, Individuum und Kollektiv, für Partizipation und Mitgestaltung.

    So stand das Thema Kollektivität und Gemeinschaft ebenso wie Nachhaltigkeit im Fokus, was unter dem "lumbung" Begriff subsummiert wurde. Praxis statt Theorie, Prozess- statt Produktorientierung (wie sie sich in Schulbildungsdiskurs finden;) wurde zur Leitidee, indem Besucher* an verschiedenen Orten Ideen und Fragen aufschreiben oder malen konnten.
    Dadurch erhielt die Documenta auch ästhetisch einen frischen, jungen, oft graffitiartigen Anstrich (siehe z.B. Half Pipe Bild 1), chaotische Collagen und Gemeinschaftskunstwerke entstanden über die Zeit. Collageartig und ganz nach meinem Geschmack waren auch die heiß umstrittenen Kunstwerke von Ruangrupa. Diese oblagen, wie auch die gesamte Kunstausstellung am Anfang der heftigen Antisemitismus Debatte, über die sich jeder selbst eine Meinung bilden darf.
    Was mir bei starker Zensur und Verbannung manchmal fehlte war der offene Austausch, die direkte Stellungnahme betroffener "Opfer" und "Täter" und ein Betrachten der kulturellen Kontexte der Künstler*, die teils zu Unrecht als Antisemitisten abgestempelt wurden. Und es war ärgerlich, dass die positiven, eigentlich verbindenden Leitideen und Prinzipien der documenta 15 dadurch fast aus dem Blick gerieten. Naja, dennoch ein wichtiger Diskurs und besser schlechte Schlagzeilen als gar keine, vielleicht hat das Aufsehen auch dazu geführt, dass Menschen sich verstärkt mit der documenta befassten und an der Diskussion partizipieren.

    Parti- oder sollte ich sagen Partyzipation hieß es übrigens auch bei der Social Kitchen, der etwas geheimtippigeren hinterm Fridericianum oder vor der Documenta Halle unter dem offiziellen Kunstwerknamen "Pakghor", bei der täglich Menschen freiwillig kochen und auf Spendenbasis ihre Lieblingsgerichte anbieten konnten. Partyzipation beei den insgesamt rund 1700 Workshops und Veranstaltungen und natürlich bei in- und offiziellen In-Partys.
    Diese wurden vor allem vom Künstlerkollektiv Cinéma Caravan, der mehrfach den Standort wechselte und somit Documenta Party überall erfahrbar machte, mitgestaltet. Elektronische Musik, Video Projektionen an Haus- und Zeltwänden und eine, die früher so steife Besucherschaft der Documenta auflockernde Sauna sorgten für Ausgelassenheit und zugleich ein Feiern im Stil eines indonesischen Kollektivs. Und wo bringt man Menschen besser zusammen als beim Feiern, Essen oder ganz natürlichem Nacktsein?
    Das Eintauchen in verschiedene, globale Themen war bei dieser Ausstellung auch unabhängig von Essen und Feiern auf ernsterer Ebene wieder großgeschrieben, es ging in den Ausstellungsobjekten viel um das Leid der ärmeren Bevölkerungsschichten, Kolonialisierung, Rassismus und politische Korrektness.
    Politische Korrektheit und ResPect statt Perverse und Prügel (ich mochte diese Alliteration iwie mal) ist definitiv ein erstrebenswertes Ziel einer achtsameren Feierei und war gewiss auch das Argument für die Flinta- BiPoc -Partys in dem Standort WH 22, der als offiziellen Standort eine Haupteröffnungs- und Closing Party anbot. Sprich Zutritt nur für Frauen, Lesbian, Inter-, Trans- und A-Sexuelle plus People of Colour. Definitiv ein Statement. Safe space kreiiern ist durchaus auch ein erstrebenswertes Ziel für mehr Integrität und Inklusion von Menschen mit sonst vermehrt negativen Erfahrungen aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Sexualität in derartigen Kontexten oder im alltäglichen Leben.
    Allerdings sorgte die Party Beschreibung auch für Exklusion weißer cis Männer, die ja auch nichts für Hautfarbe und sexuelle Orientierung können.
    Was denkt ihr dazu? Ist das sinnvoll, sollte es mehr solcher Partys geben? Vielleicht ist es gewollt, dass sich die "Privilegierten" auch mal ausgeschlossen fühlen, bevor ALLE neu, auf Augenhöhe zusammen kommen können. Dieses Bestreben hätte jedenfalls funktioniert, denn mich hat es zugegebenermaßen geärgert, dass ich deshalb nicht mit meinem durchaus achtsamen, weißen und heterosexuellen Kumpels auf eine offizielle Opening oder Closing Party dort gehen konnte oder teils nur unter dem Umstand, dass diese doppelt so viel bezahlen.

    Ein weiterer Konflikt ergab sich am Freitag, den 23. September 2022, einem der letzten Tage um die vom Jugendzentrum gespendeten Documenta Tickets zu verwenden ODER zum globalen Klimastreik, also einer internationalen Demonstration der Fridays For Future Bewegung zu gehen. Entweder Kunst sehen und sich auch zum Thema Umweltschutz und Nachhaltigkeit bilden oder Haltung zeigen und an der Demo partizipieren.
    Nach innerer Unentschlossenheit und einer kurzzeitigen Gruppenspaltung entschied ich gemäß dem Documenta Prinzip : Partizipation in dem Fall gegen diese (siehe Bild 2;) und für das Klima!

    A propos eigene Partizipation, als Kasseler WG Mitbewohnerin mit Gästebett im Flur ließ ich es mir natürlich nicht entgehen Couchsurfing anzubieten, was uns super spannende Bekanntschaften ermöglichte über die ich sehr dankbar bin. Auch unsere Gäste waren sehr dankbar im Anbetracht der teuren Unterkunftskosten Kassel in den Documenta - Monaten 🛏
    Und wie viele andere Kunstschaffende, die im Zeitraum der Documenta an jeder Ecke iwas anboten, war es auch mir dank befreundeter Kunst/Kulturschaffenden möglich, iwie teilzunehmen:

    Ob beim Model für die Mode von Elfabienne im Rahmen der Social Catwalk Modenschau im ruruhaus, für den Kassel Merch bei Stella oder als Thekendeko auf einer Fotografie von Ulf Schaumlöffel im Sandershaus. Hat sich zugegebenermaßen ziemlich cool angefühlt.
    Ach und zwei Auftritte meines "Born to Dance" Tanzkurses mit der 15-köpfigen Brassband "Blech und Schwefel" waren ein absolutes Highlight und erstrebenswertes Sommerziel als auch Ende der Documenta 15. Der zweite Auftritt war nämlich am 22. September im Zukunftdorf, welches neben dem Sandershaus lokalisiert ein Pop-Up Dorf, Begegnungs- und Austauschort zu nachhaltigen, kollektiven und zukunftweisendem Leben war.

    Der letzte und krönende Abschluss war dann der 25. September, der zufällig genau auf das Reinfeiern in meinen 25. Geburtstag fiel. Und wer kann schon von sich behaupten, dass er am 25. Geburtstag auf der offiziellen, fetten Helfer- und Künstlerfete (nachdem die Flinta Sache raus war) der 'weltbekannten' Documenta15 war. Auf die sie mit einem Augenzwinkern der besten Freunde und den Worten "Jaja, wir sind alle Models! Nee, wie haben unsere Mitarbeiterausweise vergessen" an der Security vorbei durften. Auf der meine besten Freunde waren. Kostenloses Essen und günstige Getränke. Die Sauna vom Cinema Caravan, wie sich das gehört. Zwei Floors und am Ende wir am AcroYoga machen, Breakdancen, Seilspringen und was nicht sonst alles passiert, wenn Künstler* oder Kunstinteressierte aus aller Welt zu House und Techno zusammen kommen.


    Meine persönlichen Top Ten Kunstwerke ohne korrekte Namen

    🖼 Die Halfpipe in der documenta Halle (siehe Bild 1)
    🖼 Die Klo und Kotzkonstruktion (siehe Bild 3)
    🖼 Epische Hologram Installation im Stadtmuseum
    🖼 Weltverbesserungs-T-Shirts (siehe Bild 4)
    🖼 3 Meter Fellmonster im Hübner Areal
    🖼 Die Social Kitchens
    🖼Cinema Caravan
    🖼 Comic "abgefackelt"

    Letzeren gab es übrigens in der Buchecke im Ruruhaus (siehe Bild 4) , in der ich viel und trotzdem noch viel zu wenig Zeit verbrachte. Dort gab es unzählige, neuste und seltene Bücher, Comics, Spiele und Werke, die Politik, Feminismus, Rassismus, Sexismus, Kunst, Weltgeschehen, Welt, Umwelt, Nachhaltigkeit, Ökologie, Gemeinschaft und Gesellschaft zum Gegenstand hatten.
    Weiß jemand, wo es diese Produkte jetzt gibt? Ich möchte unbedingt ein Kinderbuch für meine Nichte! 😄
    Nungut, als Freundin von documenta-Mitarbeitern und einer wundervollen Person namens Celia habe ich zumindest im Nachgang den Original ausgelegten Graphic Novel "Abgefackelt" geschenkt bekommen! Wahnsinn, oder? Schlüsselbänder, Poster und ein Buch gab es auch dankenswerterweise 📙
    Na, ob die mal viel wert sein werden?
    Vielleicht der falsche Ansatz bei einem derartigen, auf Sharing and Giving ausgelegten documenta Thema :)

    Alles in allem ging es um Teilen, Leben, Geben, globale Ungerechtigkeiten und Inkorrektheiten, um Kunst und Altivismus von unten. Bottom up statt top-down . Es ging um die Menschen, den Vibe und eine lebendige Debatte und Stadt, um zukunftsweisende, gemeinschaftliche und kollektive Lebensweisen zu entwickeln und zu bedenken
    Was wird bleiben? Hoffentlich veränderte Einstellungen und Denkweisen, neue Projekte und Verbindungen, innovative Ideen und Entwicklungen für eine lange und gerechte Zukunft. Das darf Kunst. Das muss Kunst.
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