• Revolution mit müden Kriegern

    November 6, 2021 in Nicaragua ⋅ ⛅ 31 °C

    León ist unglaublich politisch, und gleichzeitig wird nur hinter vorgehaltener Hand über die Präsidentschaftswahl geredet. Die Menschen sind frustriert, schreien nach politischer Veränderung und haben gleichzeitig Angst vor erneutem Bürgerkrieg oder anderer politischer Gewalt. Die letzten 300 Jahre waren nur 40 Jahre Frieden in Nicaragua, so erzählt es mir ein ehemaliger Politikstudent, abends beim Bier und gelockerter Zunge. Er selbst sei von der Universität geschmissen worden, da er auf einer Demonstration gesichtet worden sei. Die heutige Präsidentschaftswahl sei nur eine Farce, so dass viele Bürger gar nicht erst wählen gehen. Es sei sowieso unumänderlich und gleichzeitig will er nicht aufgeben. Abends zeigt sich Pablo noch revolutionär, sehr kritisch und auskunftfreudig über die aktuelle politische Lage in seinem Land. Am nächsten Tag machen wir mit ihm und einer großen Gruppe von ungefähr 20 internationalen Touristen eine Stadtführung durch Léon. Dies ist sein Job, seitdem er nicht mehr studieren darf. Ich merke wie vorsichtig und oberflächlich er plötzlich mit den brand-aktuellen Themen dieses Landes umgeht und Fragen von den anderen Touristen so angepasst wie möglich beantwortet. Er erzählt lieber von den unverfänglichen Themen wie dem brummenden Nachtleben in Léon, den vielen Kathedralen und den verfallenen Kolonialbauten. Er betont auch besonders gerne, dass Léon, die Stadt der Poeten und der Dichter sei. Und auch davon, dass Léon die Wiege des Intellektualismus und des Unabhängigkeitsstrebens ist und es auf ewig bleiben wird. Die Stadt habe einige der bedeutendsten politischen und künstlerischen Strömungen des Landes hervorgebracht, referiert er. Und tatsächlich zeugen Denkmäler, Street Art, Gedenkstätten und öffentliche Plätze davon, sowie von einem starken revolutionären Flair. All dies trifft eigentlich genau mein Interessensgebiet, und ich wünschte ich könnte es in mir aufsaugen, neugierig sein, mir Wissen aneignen und leidenschaftlich über Politik debattieren. Es gäbe genug Potenzial dafür und sicherlich auch Nicaraguaner die dies mit mir vertiefen wollen. Doch ich merke wie verdammt REISEMÜDE ich die letzte Zeit geworden bin.
    Außer einem Abend in einer Bar sitzen (auch nicht zu lange) und am nächsten Tag einer Stadtführung beiwohnen, schaffe ich nicht viel anderes Tolles zu erleben. Stattdessen muss ich mich auch noch um unsere Visaverlängerung kümmern, da diese bald ausläuft- Kai ist mit solchen Themen maßlos überfordert und deswegen kann er mich auch nicht wirklich unterstützen. Man bekommt nämlich 3 Monate für Guatemala, Honduras, El-Salvador und Nicaragua zusammen und nicht für jedes einzelne Land. Klappt aber nicht im ersten Anlauf! Ich bin zu erschöpft und zu ermattet um mich ernsthaft weiter darum zu bemühen, dass mit unseren Visas hinzubekommen. Diese ganze Administration und die Organisation der Reise sind ein großer Teil davon, warum ich Reisemüde bin. Ich merke, dass ich mir einen Ort bzw. eine Bleibe wünsche, wo einfach mal nichts passiert und es keine Aufgaben für mich zu erledigen gibt. Für spannende Gespräche oder Erlebnisse in Léon selbst, habe ich deswegen auch kaum noch Energie. Es ist total schade, aber die Luft ist bei mir gerade raus. Vielleicht bedeutet Reisen nicht einfach nur der großen Idee zu folgen, alles zu sehen, alles mitzunehmen was geht, sondern auch einfach nur Mal inne halten zu dürfen und zu Sein. Den Körper und seine Signale nicht mit Aktionen zu übertönen. Da war ich noch nie gut drin. Ich lerne...
    Kai fühlt gerade anders. Er nutzt das Angebot hier in Léon auf jeden Fall besser als ich. Er surft einen aktiven Vulkan runter, geht Abends mit dem zufällig wieder getroffenen Jessi und Nicolas auf Kneipentour, singt in einer Karaokebar bis er heiser ist, und hat auf jeden Fall Spaß. Ich denke ich muss einfach noch ein anderes Mal, mit frischer Energie, wieder kommen. Wir dürfen sowieso nur noch ca. 20 Tage in Nicaragua bleiben, bevor wir aus dem Land raus müssen. Die Frage wie es mit unserer Reise nach Nicaragua weitergeht, bleibt auch erstmal ungelöst, da wir Costa Rica aufgrund der Pandemielage eventuell nicht bereisen können. Aber darum kann ich mir gerade erstmal keine Gedanken machen... Kommt gerade sowieso nix bei rum.
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