• Der Berg, der Menschen frisst

    20. november 2024, Bolivia ⋅ ☁️ 13 °C

    Das Atmen fällt schwer. Nase und Mund füllen sich mit Staub. Es ist eng und dunkel, nur unsere Stirnlampen werfen etwas Licht in den Tunnel. Immer wieder stossen wir mit den Helmen gegen die niedrige Decke. Hin und wieder müssen wir den Minenarbeitern ausweichen, die mit ihren schwer beladenen Schubkarren an uns vorbeieilen. Unser Guide Wilson führt uns durch das endlose Labyrinth des Cerro Rico.

    Der Cerro Rico („reicher Berg“) ist der unübersehbare Hausberg der Stadt Potosí. Aus jeder Gasse der Stadt sehen wir den Riesen, der 4800 Meter hoch ist. Dieser Berg hat der Stadt viel Reichtum gebracht – aber auch viel Leid. Während der Kolonialzeit wurde Potosí dank seines Silbers zu einer der reichsten Städte des Spanischen Reichs. Doch von diesem Glanz ist heute kaum etwas geblieben.

    Wie so oft bedeutet der Reichtum an Bodenschätzen nicht Wohlstand für die Menschen vor Ort. Und so ist die Region Potosí heute die ärmste Region Boliviens (im ärmsten Land Südamerikas). Alles Silber, alles Geld ist ins Ausland abgeflossen. In die Infrastruktur oder alternative Industrien wurde kaum investiert. Unser Guide Wilson kritisiert, dass die ganze Stadt heute noch immer vom Bergbau abhängt. Sollte der Berg irgendwann leergeräumt sein – oder gar einstürzen – wird auch Potosí verschwinden, ist Wilson überzeugt.

    Heute gibt es kaum noch Silber im durchlöcherten Berg, nur noch ein bisschen Zinn und Zink. Dennoch arbeiten noch immer 10’000 Mineros im Berg. Manche haben sich in Kooperativen zusammengetan (Monatslohn ca. 400 Fr.), andere arbeiten auf eigene Faust. Kontrollen oder Sicherheitsvorschriften in den Minen gibt es nicht.

    Und so buddelt jeder bisschen für sich im Berg. Unter prekären Bedingungen.
    Erst am Vortag lesen wir in der lokalen Zeitung, dass allein in diesem Jahr bereits über 100 Arbeiter in den Minen ums Leben gekommen sind. Über die Jahrhunderte hinweg sind es Millionen von Todesopfern. Die Einheimischen nennen den Cerro Rico deshalb auch den Berg, der Menschen frisst.

    Wer nicht wegen einer einstürzenden Decke in den alten Minen stirbt, erstickt später an Silikose (Staublunge). Die Lebenserwartung der Mineros liegt zwischen 40 und 50 Jahren. Traurige Realität ist auch die Kinderarbeit. Auch wenn wir selbst keine arbeitenden Kinder gesehen haben, arbeiten laut Menschenrechtsorganisationen hunderte Minderjährige im Berg. Viele Familien in Potosí sind auf die Arbeit im Berg angewiesen. Um der Armut zu entkommen, helfen die Kinder oft früh mit.

    Und wir sind nun mitten in einer dieser Minen. Wir beobachten die hart arbeitenden Mineros, tauschen ein paar Wörter mit ihnen aus. Ist es überhaupt angebracht, hier als Touristen zu stehen?

    Es gibt Stimmen, die sagen, dass man mit solchen Minentouren eine gefährliche, unmoralische Industrie unterstützt. Doch wir sind der Meinung, dass es wichtig ist, auch diese Seite Boliviens zu sehen, um das Land und seine Geschichte zu verstehen. Der Bergbau bleibt einer der wichtigsten Sektoren des Landes – und die gefährliche Arbeit in den Minen würde auch ohne diese Touren weitergehen.

    Unser Guide Wilson hat selbst viele Jahre in den Minen gearbeitet und hat nun mit einem Freund eine kleine Agentur gegründet. Nur in Zeiten, in denen weniger Touristen kommen, muss er noch selbst in die Minen hinabsteigen. Wilson kennt daher die Mineros persönlich. Und es fühlt sich nicht so an, als ob wir sie in ihrer Arbeit stören. Im Gegenteil: Die Arbeiter wirken dankbar, als wir ihnen die mitgebrachten Coca-Blätter überreichen, die ihnen helfen, wach zu bleiben. Auf die Frage, ob die Mineros auch finanziell beteiligt werden, weicht Wilson jedoch aus…

    Zudem fühlen wir uns zu jedem Zeitpunkt sicher. Wilson verzichtet auf unnötige Manöver durch enge Schächte oder Show-Einlagen.

    Auf unserem Weg zurück ins Freie treffen wir auf „Tio“ – eine tönerne Statue mit Zigaretten im Mund. Die Mineros verehren ihn als Herrscher der Unterwelt und legen ihm Tabak, hochprozentigen Alkohol und Coca-Blätter als Opfergaben hin. Sie beten um eine ertragreiche Schicht und eine sichere Rückkehr.

    Nach etwas mehr als einer Stunde in den Minen erreichen wir das Tageslicht. Die vielen Eindrücke haben uns erschöpft. Der Gedanke, jeden Tag zwölf oder mehr Stunden in dieser Umgebung zu arbeiten, überfordert uns. Die Tour stimmt uns nachdenklich, aber wir bereuen sie nicht. Es ist eine Erfahrung, die uns die Realität vieler Bolivianos nähergebracht hat.
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