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  • Day 89

    Die Festung der Freiheit

    June 25, 2021 in Bosnia and Herzegovina ⋅ ☀️ 29 °C

    Es ist für mich schwierig zu akzeptieren, was hier in Bihac, nur ein paar hundert Kilometer von meinem Zuhause weg, Tag für Tag mit Menschen geschieht. Was der Alltag für die tausenden Menschen auf der Flucht bedeutet, die hier seit Monaten oder Jahren vor verschlossenen Toren stehen. Es ist schwierig zu akzeptieren, dass mein Bild von einem funktionierenden Demokratischen- und Rechtsstaatlichensystem, das ich noch vor wenigen Wochen für stark und Widerstandsfähig bezeichnet hätte, hier mehr und mehr von seinem glänzenden Lack verliert. Sich als eine Medaille entpuppt, von der ich bisweilen nur immer eine Seite betrachtet und vor allem erlebt habe. Und, dass sich, wenn ich eben diese Medaille umdrehe, auf andern Seite ganz offen Strukuren zeigen, von denen ich gehofft habe, dass sie sich nie mehr zeigen mögen. Es ist wie ein Apfel, eingefasst in glänzenden Wachs, der, wenn er angeschnitten wird, seinen fauligen und mit Maden durchsetzen Kern präsentiert.

    Wie ironisch ist es doch, dass ebendieser Länderbund, der sich einst gebildet hat um jeden weiteren globalen Krieg zu verhindern und Frieden zu schaffen, in der Vergangenheit auch noch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde? Ein Bund der Menschen in Lager ohne jegliche Perspektive steckt und dies als wirksame Strategie bezeichnet. Ein Länderbund, der Menschen wissentlich im Meer ertrinken lässt, sie im Angesicht der Abschottung und Abweisung in die Hoffnungslosigkeit treibt und damit kriminelle Schlepperorganisationen und Korruption auf den Plan ruft, die das Leid und die Verzweiflung sogleich in pure Münzen umsetzen.

    Es ist für mich schwierig zu akzeptieren, das in jenem System, in das ich zufällig reingeboren wurde, in dem ich nun lebe und mich frei bewege, das mir unglaublich viel Freiheit und Sicherheit schenkt, staatlich organisierte Instanzen existieren, welche Menschen, die noch nicht zu eben diesem Kreis gehören, ohne Konsequenzen sowohl körperlich wie auch psychisch misshandeln können. Dass sich ebendieses Konstrukt vordergründig nur zu gerne als fortschrittlich präsentiert. Das es sich sich auf dem politischen Laufsteg als Wegbereiter und Vorbildmodel für ein modernes und gerechtes politisches Systeme bezeichnet aber abseits der grossen Scheinwerfer, brutale Auswüches von Rassismus und Faschismus zeigt.

    Wie kann es sein, dass Menschen mit voller Absicht ihrer Würde beraubt werden? Wie kann es sein, dass Menschen in aller Deutlichkeit gezeigt wird, dass sie an einem Ort komplett unerwünscht sind? Das Ihnen selbst Grundrechte wie Wasser, Nahrung und eine medizinische Grundvorsorgung verwehrt werden? Wie kann es sein, dass all dies längst bekannt und dokumentiert ist und dennoch nicht interveniert wird? Wie kann es sein, dass nicht nur unsere Politik sondern auch ein Rechtssystem komplett versagt? Wie kann es sein, dass die Freiheit und Privilegien, die Du und ich geniessen, nur dadurch möglich sind, dass wir eine Festung aus Stacheldraht und Mauern um uns errichten? Das es für mich als Mensch einen absoluten Unterschied bedeutet, auf welcher Seite dieser Mauern ich stehe? Wie kann es sein, dass wir uns in der Vorstellung halten können, wir würden im Paradies des Friedens leben? Dass wir die Peitschen der Sklaventreiber tragen und uns gleichzeitig als Aposteln und Propheten Gerechtigkeit fühlen, um die herum primitive Barbarei und Unterdrückung herrscht?
    Wie kann es sein, dass die Antwort auf ein globales Problem von einem ganzen System mit Gewalt und Abgrenzung beantwortet wird? Wie kann es sein, dass wir aus unserer blutigen Geschichte noch immer nicht gelernt haben? Wie kann es sein, dass Menschenrechte selbst in unseren eigenen Mauern nicht für alle in gleichem Masse gelten?
    Wer sind wir, die soviel Geld und Privilegien besitzen, dass wir uns dazu auch noch anmassen, dass das Leben anderer weniger Wert wäre als das Unsere? Das wir uns Rechte sichern und andere ihrer berauben dürfen? Wer sind wir, dass wir diesen dauerhaften Zustand der Gewalt und der Misshandlung, trotz seiner Offensichtlichkeit, stillschweigend akzeptieren? Wer sind wir, dass wir durch unser Wirken andere ihrer Lebensgrundlage und Existenz berauben, aber die die Folgen dieser Handlung ignorieren und ablehnen?

    Was hier in Bihac, aber auch in weiten Teilen der Welt Tag für Tag geschieht dürfte nicht existieren. Und es ist kein Akt der Barmherzigkeit, den Menschen hier Hilfe leisten. Es ist viel mehr unsere grundlegende Pflicht und Verantwortung als Mensch, ein solches lebensfeindliches System nicht zu tolerieren und existieren zu lassen.
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