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  • Day 52

    Gesellschaftliche Analyse

    December 22, 2023 in India ⋅ ⛅ 24 °C

    Ein bisschen was Tiefsinniges zwischendurch, für den, den's interessiert:

    Tejas erzählt von dem sozialen Druck der auf den Heranwachsenden lastet. Die Familie ist auf den Erfolg der Kinder angewiesen, Bildung ist die einzige Möglichkeit, Armut abzuwenden. Aber da ist so viel Wettbewerb, so viele Mitstreiter, die nicht zögern deinen Platz einzunehmen wenn du stolperst. Das erzeugt ein interessantes Zusammenspiel von Ellenbogengesellschaft und der brüderlichen Gemeinschaft Gleichgesinnter. Er erzählt, wie er zwei versuchte Morde auf offener Straße beobachtet hat. Wie er als Kind von seiner Mutter geschlagen und verbrannt wurde. Alles in beiläufigen Tonfall, nach dem Motto: das ist ja ganz normal. Wie ausschlaggebend und ernst die Partnerwahl in Indien noch immer ist, war mir auch nicht klar: selbst wenn sich das Paar eigenständig zusammen findet (in Nordindien sehr selten), hat der Vater das letzte Wort wenn es zur Heirat kommt. Dabei werden besonders die finanziellen Mittel und die Kaste in Betracht gezogen.
    Tejas erzählt von seiner schwierigen Zeit in Bangalore: er teilte sich ein Zimmer mit Freunden, sein Arbeitsweg durch die verstopfte Stadt dauerte mehr als eine Stunde, bis 11 Uhr abends, 14 Stunden, dauerte die Schicht. Heute hat er einen guten IT Job, der Verdienst kann sich für indische Verhältnisse sehen lassen, umgerechnet 400€ Monatsgehalt.
    Aber auch er hat eigentlich andere Träume, denen er erst nachgehen kann (wenn überhaupt jemals), wenn er sich ein gutes Polster angespart hat.
    Er erzählt von seiner Wohnsituation mit seinen Eltern. Der Vermieter weigert sich, seinen Pflichten nachzukommen, einer der Nachbarn hat ihm bereits bei einer der vielen Auseinandersetzung zu dem Thema ein Stück der Nase abgeschnitten. Auch Tejas plant, dem Vermieter in nächster Zeit Gewalt anzutun. "Der Zweck heilige die Mittel" sagt er. Wenn reden nicht hilft, ist Selbstjustiz gesellschaftlich respektiert.
    Für seine Familie bringt er sich in Lebensgefahr, Eltern werden hier wie Götter verwehrt.

    Im Gespräch mit einem jungen Geschwisterpaar in Bikaner wird auch die weibliche Perspektive beleuchtet. Das Mädchen ist 19 Jahre alt und "immer noch unverheiratet", völlig untypisch in ihrem Alter, in der Gesellschaft in der sie lebt. Eine Familie die mit vielen Töchtern gesegnet ist, hat es hierzulande schwer: schon die Mitgift einer einzigen Tochter kann die finanzielle Stabilität einer Familie ins Wanken bringen. Sie hat keine Hoffnung auf eine freie Partnerwahl, ihre Eltern werden in Kürze einen passenden Ehemann für sie arrangieren. Ganz normal. Sie fällt fast aus allen Wolken als ich ihr von meinem Leben erzähle: eigene Berufs- und Partnerwahl, Beziehungen, Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Familienkonstellationen... Mein Leben ist unvorstellbar für sie. Ich werde mir meiner fast grenzenlosen Freiheit bewusst, mein hilfsloses Mitleid für sie schmerzt. Ich will heimlich unserer beiden Rechnungen begleichen aber die beiden wehren sich und schlussendlich werde ich von ihnen eingeladen, was mein schlechtes Gewissen noch verschlimmert. Die zwei strahlen wie Honigkuchenpferdchen, glücklich mit mir das Mittagessen geteilt zu haben.

    Auch Abhay, ein 24-jähriger aus Bikaner berichtet vom sozialen Druck. Er zeigt mir seine Notizbücher.. er lernt von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, im verzweifelten Bestreben besser als die Konkurrenz zu sein. Er hat Glück, sein Vater ist Beamter! Jeder strebt nach einem Job im Amt. Korruption ist am Arbeitsplatz seines Vaters ganz normal. Vor wenigen Jahren hat der Vater sich geweigert Bestechungsgeld anzunehmen, drei Tage später wurde er deswegen überfallen und fast tot geschlagen. "If you can't beat the system, you join it." Sagt Abhay treffend. Anfänglich habe ich mich so sehr gegen diese verbreitete Haltung gesträubt, die Akzeptanz der Korruption... aber umso mehr Einzelschicksale mir begegnen, desto besser verstehe ich, dass unter diesen Umständen, in dieser Gesellschaft, Ethik keine Priorität mehr haben kann.
    Hier herrscht das Gesetz des Stärkeren, fressen oder gefressen werden. Auch sehr wichtig: Nur wer Kontakte hat, bringt es zu etwas.
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