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  • Day 69

    The great finale

    December 31, 2022 in the United States ⋅ 🌧 10 °C

    „I am an Alien“ singt Sting in seinem Song „English Man in New York“ und berichtet von seiner Erfahrung, sich fremd in der großen, amerikanischen Stadt zu fühlen. Ich mag das Lied, aber es ist mir schleierhaft, wie man sich in New York fremd fühlen kann. Ich wüsste gar nicht, wie ich den ultimativen New Yorker beschreiben sollte, denn auf der Straße begegnen uns Menschen aller Altersklassen, Hautfarben, sexuellen Orientierungen, Familien, Singles, Pärchen, Touristen und Geschäftsleute. Jeder Einzelne von ihnen ist einzigartig und das Einzige, was sie eint, ist die Tatsache, dass sie über die New Yorker Straßen laufen. Wir könnten im Schlafanzug oder in Abendgarderobe auf die Straße gehen und niemand würde uns einen zweiten Blick hinterher werfen. Hier ist wirklich jeder Jeck anders.

    Nach der Kältewelle in St. Charles erscheint uns die Wintersonne in New York fast frühlingshaft. Unser Hotel ist vormittags schon zum Einchecken bereit. Wir werfen unsere Sachen aufs Zimmer und machen uns als erstes auf die Suche nach etwas Essbarem. Vor Jahren war ich bei Grimaldis in Brooklyn essen und habe Joe erzählt, wie famos die Pizza dort schmeckt. Leider haben wir bei es unserem ersten gemeinsamen New York Besuch dann nicht dorthin geschafft. Wie der Zufall es will hat Grimaldis mittlerweile eine Filiale zwei Blocks von unserem Hotel entfernt eröffnet. Dort angekommen trauen wir erstmal unseren Augen nicht, denn wir stehen vor einer alten, restaurierungsbedürftigen Kirche.
    „Ich glaub’, wir sind falsch“, sage ich, während wir das übergroße Skelett vor dem alten Mauerwerk betrachten.
    Joe fasst sich aber ein Herz und öffnet die dunkelrote Eingangstür zur Kirche. Im Halbdunkeln erkennen wir einen leeren Opferkerzenständer. Dahinter beginnt, abgeschirmt von Buntglasfenstern, eine Reihe dunkelgrüner Sitzecken. Kaum um die Ecke gebogen erinnert nichts mehr an eine Kirche, sondern viel mehr an einer ranzige Eckkneipe. Im Gegensatz zu mir kann Joe sich sehr genau daran erinnern, dass ich damals eine Margarita Pizza hatte und dass es keine Strohhalme gab, um die Meeresschildkröten zu schützen, dafür aber Plastikbesteck. Das alles hatte ich schon wieder vergessen. Mittlerweile gibt es Besteck aus Edelstahl und die Pizza schmeckt auch beim zweiten Mal himmlisch - was vielleicht auch am Standort liegt.

    Nach unserer Stärkung geht es zum Rockefeller Center den Weihnachtsbaum besichtigen. Joe schwört, dass er beim letzten Mal größer war und weniger Touristen da waren. Ich kann das nicht hundertprozentig unterschreiben (mein Gedächtnis ist einfach schlechter), aber ich bin mir sicher, dass es weniger Menschen mit Kinderwagen gab, die sich durch die Menge geschoben haben. Auch bin ich mir sicher, dass New York 2019 weniger nach Gras gerochen hat. Jetzt riecht man es an jeder Ecke. Wir sind quasi dauerhaft passiv bekifft.

    „Kannst du eigentlich eislaufen?“, fragt Joe auf dem Weg zum Central Park.
    „Klar“, erwidere ich, „Das weißt du doch.“
    „Woher?“
    Ich suche fieberhaft nach einem Beispiel, aber es stellt sich heraus, dass es eine Sache gibt, die wir in 12 Jahren noch nie gemeinsam gemacht haben: Eislaufen.
    Beim Anblick der 500 Meter langen Schlange, die darauf wartet, die Eislaufbahn im Central Park zu betreten, verwerfen wir unsere romantischen Pläne aber wieder. Manche Dinge hebt man sich eben doch besser für die Zukunft auf. Dafür pflegen wir eine andere Tradition und frühstücken jeden Morgen Bagel mit Creamcheese im Bett.

    Wir besichtigen das Empire State Building und lassen am Times Square die Nacht zum Tag werden. Er ist einer der Orte, die so farbig und lebendig sind, das man sie mit bloßem Auge gesehen haben muss, da kein Bild ihre Atmosphäre einfängt.

    Kulinarisch besuchen wir Joe Lieblingsrestaurant „Pizza Loves Emily“ und das „Katz Delikatessen“, in dem Harry Sally getroffen hat. Die Pastrami Sandwiches sind übrigens größer als im Film (und so lecker, dass ich nie im Leben die Zeit gefunden hätte, Joe beim Essen einen gefakten Orgasmus zu demonstrieren.)

    Wir wagen uns ins New Yorker Nachtleben und freuen uns wie die Kinder, dass der Security Mann am Eingang unsere Ausweise kontrolliert. Allerdings ist Trinken mit Handbremse angesagt: denn am kommenden Abend feiern wir Silvester im Irish Pub und dafür wollen wir beide fit sein.

    Da der 31. Dezember neblig beginnt beschließen wir, Lady Liberty heute nicht Guten Morgen zu sagen, sondern lieber das World Trade Center und das 9/11 Memorial zu besichtigen. Hier zieht es mich immer hin, einfach weil dieser Tag so einprägend in meinem Leben war. Heute ist uns nicht danach, ins Museum zu gehen und uns mit den Terroranschlägen auseinander zu setzen. Es ist Silvester und wir möchten die Zeit in New York einfach nur genießen, ohne Gedanken an das ganze Übel in der Welt zu verschwenden.

    Unser Restaurant für den Abend liegt in einer kleinen Nebenstraße vom Times Square, direkt neben dem Balldrop. Es gibt ein drei Gänge Menü, Cider, Bier und „Mini Guiness“ - kleine Shots mit Baileys und Kaffeelikör. Über Fernseher können wir das Live Programm am Times Square verfolgen, wo es mittlerweile aus allen Wolken schüttet. Immer wieder schieben sich triefend nasse Besucher durch den Pub, um sich mit einem Bier aufzuwärmen. Um kurz vor elf geht es auch für uns nach draußen auf die Straße. Von unserer Absperrung aus können wir die Moderatorin sehen, die wir den ganzen Abend im Fernsehen verfolgt haben. Die Menschen tragen bunte Hüte und schwenken aufgeblasene Luftballons in gelb und lila. Während wir uns vom Trubel und der Ausgelassenheit anstecken lassen, erschallt plötzlich ein überirdisches Ticken. Noch ehe wir das Geräusch richtig verortet haben schießt ein gigantischer Konfettiregen auf uns nieder. Die ersten Takte von „Auld Lang Syne“ erklingen und erinnern uns mit einer Mischung aus Trauer und Hoffnung daran, dass ein neues Jahr in der Zeitrechnung begonnen hat. Nur Sekunden später schallt Frank Sinatras „New York, New York“ über den Times Square und Hunderttausende Menschen singen mit. Das Konfetti regnet gemeinsam mit dem Regen auf unsere Haare und Jacken. Hier ist 2023. Ein leeres Blatt, bereit, mit neuen Abenteuern, Ideen und Momenten gefüllt zu werden.

    Für uns bricht mit dem 1. Januar der letzte Tag unserer Reise an. So unrealistisch es bis zum Abflug schien, für zweieinhalb Monate auf Reisen zu gehen, so surreal ist die Vorstellung, dass wir zurück nach Hause kommen. Immer, wenn wir in den Flieger gestiegen sind, ging es an einen neuen Urlaubsort. Daher fühlt sich unsere Abreise nicht wie das Ende eines Urlaubs an. Es war auch nicht wirklich ein Urlaub, sondern eine Reise, die sich wie ein ganzer Lebensabschnitt anfühlt. Nur wir beide, über Wochen, ohne dass wir uns abends großartig hätten erzählen können, was wir tagsüber erlebt haben, denn der andere war stets mit dabei. Zwei Koffer voller Kleidung, die knapp für sieben Tagen gereicht hat, sodass man ab und an improvisieren musste. Ein ständiges über den Schatten springen von Reiseängsten und Vertrauen lernen in fremde Personen. Wir haben Menschen auf dieser Reise getroffen, die uns ihre Türen geöffnet, unser Herz berührt und Impulse gesetzt haben, die unsere Ansichten auf die Welt verändert haben. Wir haben ein ganzes Buch geschrieben voller Erinnerungen. Und wir sind dankbar für alle, die einen Blick hinein geworfen und uns auf dieser Reise begleitet haben. 

    Als wir mit dem Taxi New York verlassen, läuft "Hollywood Hills“ auf meinen AirPods:

    No I don’t wanna leave
    But I must keep moving ahead
    'cause my life belongs to the other side
    Behind the great ocean’s waves

    I take a part of you with me now
    And you won’t get it back
    And a part of me will stay here
    You can keep it forever, dear

    Joe dreht sich um und schaut durch die Heckscheibe zurück. Ich folge seinem Blick und gemeinsam betrachten wir die New Yorker Skyline, die von der untergehenden Sonne beleuchtet wird.
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