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  • Day 354

    Mein erster Geburtstag - ich lebe.

    September 21, 2019 in Vietnam ⋅ 🌧 30 °C

    Aber wie unfair es sich auch anfühlte, um mich herum war das pulsierende Leben.
    Es ist Magie, überall. 
    Ich habe überlebt.

    Genau vor einem Jahr verschluckte mich ein LKW frontal. Er trug mich mehrere Meter mit sich bis er von einem Fußgänger gestoppt wurde. All das habe ich bewusst wahrgenommen.

    In diesem Moment zog sich meine Seele in mir zurück. Ich habe dem Tod in die Augen geblickt und das werde ich niemals vergessen. Ich dachte: „Nein, heute werde ich nicht sterben. Nein, heute ist es noch nicht soweit.“

    In diesem Moment schenkte mir das Leben pure Ehrlichkeit und ihre Wahrheit.

    Es ließ mich meinen Kampf miterleben.

    Ich habe um mein Leben gekämpft. Mich durschoss so viel Adrenalin, dass ich nur noch geschrien habe. So wie ich noch nie in meinem Leben geschrien habe. Ab der Hüfte war ich mit dem LKW unter mir verkeilt. Ich drehte meinen Oberkörper und schlug mit den Händen mit voller Kraft zwischen die Lampen. In meinem Kopf schossen Bilder, wie er den dritten Gang einlegt. Wenn er das getan hätte, wäre mein Fahrrad, welches mich trug, wahrscheinlich verrutscht und hätte mich unter ihm begraben.

    10 Tage bevor unser Flug nach Bali ging, hat mich das Leben geküsst.

    Leidenschaftlich und schmerzhaft.
    Und ich habe überlebt.

    Ich habe überlebt, weil

    -ein unbekannter Mann auf die Straße rannte und sich selbst in Gefahr brachte, um den LKW zu stoppen

    -eine unbekannte Frau mir ihre Liebe und Wärme schenkte, indem sie mich minutenlang auf dem Boden sitzend von hinten umarmte

    -ein unbekannter Arzt, der zufällig gerade bei Aldi einkaufen war, mich durchcheckte und mir die Sicherheit gab nicht gelähmt zu sein

    -ein Notfallteam mich zum Lachen brachte und meine Seele aus der Dunkelheit zog

    -ein Krankenhausteam mit mir Witze riss und mir den Raum gab, um zu weinen

    -eine Schwester Verständnis zeigte und meinen Freund zu mir brachte

    -ein Oberarzt einmal mehr bei mir war, um mich schnell zu entlassen damit ich in mein eigenes Bett konnte

    -ein weiser Unfallchirurg mich im Nachgang unterstützte, damit ich meine Reise antreten konnte

    -ein Physiotherapeut es innerhalb von 7 Tagen schaffte, dass ich meinen gebrochenen Arm wieder bewegen konnte, um meinen Rucksack zu tragen

    -und weil meine wundervolle Körpertherapeutin Susanne Kohl, mir das Jahr zuvor half wieder eine Verbindung zu mir zu bekommen

    Ich spürte die Dunkelheit in mir hochkriechen. Sie nahm mir den Atem.

    Aber wie unfair es sich auch anfühlte, um mich herum war das pulsierende Leben.

    Es lächelte mich an mit einem Strahlen, wie die Sonne.

    Und ich konnte nur an meinen Traum denken, die Welt zu entdecken. Es war das erste was ich das Notfallteam fragte. „Kann ich in 10 Tagen in ein Flugzeug steigen?“

    Ein Notfallarzt sagte zu mir:
    „Es sieht ganz danach aus.“

    Er lächelte. Und ich bin 10 Tage danach in das Flugzeug gestiegen.

    Seitdem reise ich mit Ralf 355 Tage durch Südostasien.

    Warum ich dir das erzähle: Ich bin im Nachgang sehr offen mit meinem erlebten Trauma umgegangen und habe erfahren, dass es viele Menschen gibt, die ähnliches erlebt haben. Sie vergraben ihre Ängste und trauen sie sich nicht darüber zu reden. Sie verschließen es tief in sich. Aber ich habe gespürt, dass diese Angst sehr dunkel ist. Sie lähmt uns und nimmt uns unsere Leichtigkeit. Sie ist wie ein dunkler Mantel, der sich über unsere Schultern legt.

    Ich habe mich entschieden offen damit umzugehen und das werde ich auch hier tun.

    Du darfst um Hilfe bitten! Es wird einfacher, auch wenn es dich geprägt hat.

    Als ich 10 Tage später in mein ortsunabhängiges Leben startete, wusste ich nicht, was Asien für mich bereithielt. Und ich hatte Angst. So viel Angst. Ich hatte doch gerade alle Menschen zurückgewonnen, als mir das Leben einen Kuss schenkte.

    Und auch ein Jahr später habe ich noch Angst. Mein Freund muss meine Hand nehmen, um mit mir über die Straße zu gehen. Weil ich auf der Straße erstarre, wie ein Reh.
    Und im nächsten Moment fahre ich mit dem Fahrrad über die Reisfelder von Hoi An und bin genau hier. Am Leben. Mit der Sonne im Gesicht.

    Ich möchte „Danke“ sagen. An all die Menschen da draußen, die ihre Arme zum Wärmen für andere öffnen. Die ihre Hand reichen, um anderen über die Straße zu helfen. Die ein Lächeln in die Welt tragen.
    Und danke an alle Ärzte, Krankenschwestern, Notfallretter, Feuerwehrleute, Physiotherapeuten und Körpertherapeuten.
    Danke alle die Menschen, die Leben in die Welt bringen und es begleiten, wenn es endet. Danke für euren Mut und eure Kraft.

    Und zum Abschluss: Denke immer daran, dass ein Lächeln, welches du jemand anderen schenkst, alles ändern kann. Mich hat es gerettet. Das Lächeln eines Menschen hat mich spüren lassen, dass ich am Leben bin.

    Also schenke dem Leben und den Menschen ein Lächeln.

    Es wird retten. Es wird heilen. Es wird den dunklen Mantel wegnehmen.

    Fühl dich fest umarmt, deine Nora

    Und ich werde meinen Tag heute mit einer Massage starten und richtig abfeiern! Auf das Leben. Das einzige was wir haben.
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