• Der Wald

    September 3, 2024 in Spain ⋅ ☁️ 23 °C

    Mein zweiter Besuch in der Sagrada Familia, nachdem ich sie 2011 das erste Mal sehen durfte, fällt endlich so tränenreich aus, wie er damals hätte sein können. Da habe ich es aber nicht so zugelassen wie dieses Mal. Wie immer, wenn ich ein für mich bedeutsames architektonisches Meisterwerk besichtige, werden Gänsehaut und Kribbeln im Bauch immer grösser, je näher ich dem Bauwerk komme.

    Es gibt Sicherheitskontrollen und der Audioguide ist mittlerweile eine App, die ich noch vor dem Eingang herunterlade. Mit meinen Noise-Cancelling-Kopfhörern gelingt es mir auch umso besser, die Massen an Touristen um mich herum auszublenden. Die Basilika ist eine unendliche Attraktion und gleichzeitig wird sie irgendwie behutsam geschützt durch die Organisation der Menschen in Barcelona, die zu abertausenden die Strassen gefüllt haben, um Antoni Gaudí bei seiner Beerdigung (1926) die letzte Ehre zu erweisen. Während dem Bau wohnte er sogar in der Kirche und er ist in ihrer Krypta begraben. Sie ist das einzige Element, das er als vollendet erleben durfte. Und da er sich immer bewusst war, dass er die Fertigstellung der Sagrada Familia nie erleben würde, wusste er nicht einmal, wie Kräne und Baustelleneinrichtubg organisiert werden würden, doch vetraute er tatsächlich darauf, dass die Technik dann schon so weit sein würde...

    Was ich 2011 noch nicht verstanden habe, nämlich was um Himmels Willen mich so im tiefsten Innersten anrührt, dass mir die Tränen kommen, kann ich heute glücklicherweise viel besser reflektieren. Ich verbringe fast 3 Stunden in der Sagrada Familia und mindestens eine davon lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Crying in public, kein Problem mehr für mich, gehört zu meinem gesunden authentischen Umgang mit meinen wahren Gefühlen.

    Es ist die Ehrerbietung für Mutter Natur, die Gaudí hier zum Ausdruck bringt, die er als seine grösste Lehrmeisterin bezeichnete, die alles vereint und was mich hier so sehr bewegt. Deshalb sind die Eingangstüren ein einziges Blätterwerk mit vielen Insekten und Tieren darin verborgen und das Hauptschiff der Basilika ein Wald. Ein Wald mit unterschiedlichen Bäumen: je nachdem, wieviel Last die Stämme, also die Stützen der Haupttürme der Kirche tragen, wählte Gaudí entsprechende Steinarten, die folglich unterschiedliche Farben haben (Roter Porphyr, gelblicher Sandstein und viele mehr...). Und eine grosse Rolle in diesem Raum spielt das Licht. Denn die Sagrada Familia ist Jesus gewidmet, der sagte: Ich bin das Licht. Ausserdem feiere ich es immer, wenn ein Gestalter die Funktion eines Bauteils in den Vordergrund stellt, bzw. mit dessen Ausdruck vereint. So tragen die Äste der Bäume und ihr Blätterdach tatsächlich das Dach der Basilika, unterstreichen dadurch umso mehr die Vertikalität, die als Symbol des Strebens zum Himmel in gotischen (hier Neugotik) Kirchen üblich ist und machen das Göttliche omnipräsent. Das ist es, was mich hier vollkommen überwältigt.

    Die Farben der Glasfenster, die an der Geburtsfassade (Erzählung der Weihnachtsgeschichte und Geburt Jesu) das bläuliche Morgenlicht interpretieren und an der Passionsfassade (der Weg der Kreuzigung Jesu) in allen warmen Tönen bis hin zum dramatischen Rot, den meditativen Waldinnenraum beleuchten. Nichts an diesem Ort ist zufällig.

    Ausserdem hat Gaudí die Sagrada Familia als Instrument konzipiert und nach der Fertigstellung werden 48 Glocken in den 18 Türmen alle Noten eines Klaviers spielen können.

    Wenn es Kraftorte auf dieser Erde gibt, die mir energetisch auf eine andere Ebene verhelfen, dann gehört die Sagrada Familia auf jeden Fall dazu. Ich bin dankbar, dass ich erkennen darf, was mir wichtig ist und dem folgen darf, wohin es mich zieht und ich anerkenne mich dafür. Es sind diese Erlebnisse, diese immaterielle Fülle und die Bereicherung meiner Lebenserfahrung in die ich investieren möchte, so wie mit diesem Besuch.
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