• Im Schatten der Aleppo-Eiche

    June 24 in Turkey ⋅ ☀️ 33 °C

    Als wir wie üblich um fünf Uhr aufstehen, wird auf den umliegenden Feldern bereits gearbeitet. Mit Spaten wird an den Bewässerungsgräben dafür gesorgt, dass alle Bereiche des Feldes gleichermaßen mit Wasser versorgt werden. Wir beginnen unsere heutige Fahrt in der Ebene durch die landwirtschaftlich genutzte Region. Lange dauert es aber nicht, dann heißt es wieder: Gang runter, Berg rauf! Zu Beginn des Anstieges kommt es zu einer unschönen Situation. Während Claudia von einigen Kindern auf den Feldern und von einem entgegenkommenden Hirtenjungen mit ein paar Kühen lediglich gegrüßt wird, ergeht es Heiko ein gutes Stück dahinter leider anders.
    Eines der Kinder kommt direkt auf ihn zu: "Money, money", wird immer wiederholt. Als der Hirtenjunge noch dazukommt, ebenfalls um Geld bettelt und sich zudem sehr aufdringlich zeigt und fast ans Fahhrad greift, nimmt die Situation einen eher unheimlichen bis bedrohlichen Charakter an. So etwas haben wir in den gesamten Reisen durch die Türkei in den letzten Jahren nicht erlebt. Wir haben gemischte Gefühle, die von Mitleid mit diesen Kindern in ihrer Lebenssituation, Unsicherheit bezüglich des Umgangs mit derartigen Szenen bis hin zu einer Sorge, dass das dank der unzähligen großartigen Erfahrungen gewachsense Vertrauen in die so wahnsinnig gastfreundliche Bevölkerung einen kleinen Riss bekommt. Die Gedanken um dieses Thema fahren eine Weile mit.
    Als wir auf der ersten Bergkuppe ankommen, genießen wir die herrliche Aussicht in die Weite, welche sich hier offenbart, bei einer kleinen Pause im Schatten. Hier kommen wir auch tatsächlich wieder in den Genuss eines sehr positiven Erlebnisses: Ein LKW-Fahrer sieht uns, hält an und reicht uns eine große Flasche Eiswasser. Ja, es sind diese freundlichen, warmen, herzlichen Momente, die bei weitem überwiegen! Dieses Plätzchen wäre auch ein herrlicher Ort zum Zelten, dafür ist aber dann doch noch etwas zu früh am Tage und wir möchten noch etwas vorankommen. Unsere Hoffnung ruht stattdessen auf dem nächsten, noch höher gelegenen Gipfel. Wir nehmen die folgende, fünf Kilometer lange Abfahrt in Angriff, bevor es über eine Strecke von neun Kilometern rauf auf 1100m zu strampeln gilt. Heiko gehört an dieser Stelle ein Extra-Orden verliehen, schließlich fährt er zusätzlich zum regulären Gepäck und reichlich Wasservorräten auch noch eine diverse Kilogramm schwere Wassermelone den Berg hinauf. Man kann sich natürlich fragen: Ist das nötig? Da es uns ein großes Anliegen ist, sehr respektvoll und dankbar mit den Dingen umzugehen, die uns unterwegs aus Gastfreundschaft geschenkt werden, lautet die Antwort: Ja! Ja, auch wenn es zu noch mehr Schweiß und etwas Schlagseite führt.
    Der Wunsch nach einem tollen Campingplatz in luftiger Höhe erfüllt sich nach der Anstrengung aber leider nicht. Nicht einen halben Quadratmeter Schatten finden wir vor, so dass an ein längeres Verweilen auf dem Gipfel nicht zu denken ist. So bedauerlich es auch ist, begeben wir uns also direkt wieder auf den Weg nach unten. Sehr steil windet sich die Straße anfangs vom Berg und wird, speziell bei Claudia, zur Belastungsprobe für Bremsen und Handgelenke. Einige Kilometer müssen wir noch suchen, bevor wir endlich den ersehnten Schattenfleck unter einem großen, alleinstehenden Baum auf einem Stoppelfeld finden. Unsere kleinen, aber sehr feinen Möbel sind schnell aufgebaut, wir knabbern Chips, kniffeln (inzwischen steht es 6:1 für Heiko...), löffeln Wassermelone, lesen, schreiben und lassen es uns gut gehen. Traktoren und andere Erntefahrzeuge fahren mehrfach hin und her, jedesmal werden wir auf's Neue mit einem freundlichen Hupen und Winken bedacht. Ein Auto hält an und der Beifahrer, ein vielleicht zehnjähriger Junge, winkt uns heran und überreicht uns zwei Becher kalte Cola [...während ich gerade den Beticht von vor zwei Tagen verfasse, als wir von drei "Archäologen" kalte Cola eingeschenkt bekommen]. Viele Schwalben sind über unseren Köpfen unterwegs und ein großer Vogel, den wir bei erstem Hinsehen kurz für einen Storch halten, zieht etwas höher seine Kreise. Heiko schafft es, den Vogel mit der Kamera einzufangen, was uns ermöglicht, ihn zu bestimmen. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Schmutzgeier, der sich von Aas aller Art ernährt, handelt. Ist das ein Zeichen? Sollten wir möglicherweise mal wieder duschen? In Berlin wird derweil eine Bestimmungs-App bemüht, damit wir Botanikbanausen wissen, unter welcher Art von Baum wir eigentlich hocken. Die Quercus infectoria oder auch Aleppo-Eiche ist es wohl, die uns so wunderbaren Schatten spendet. Diesem Schatten wandern wir während unserer langen Pause gerne hinterher, sitzen erst hinter und inzwischen vor dem Baum. Das bedeutet auch, dass der Tag bereits recht fortgeschritten ist. In dem Wissen, dass wir bei Weiterfahrt in Kürze wieder auf die Hauptstraße stoßen würden, entscheiden wir kurzerhand, die Pause bis morgen auszudehnen. Am frühen Abend ziehen wir uns lediglich ein paar Meter bis zum Feldrand zurück uns errichten unser Nachtlager. Es bleibt zu hoffen, dass der Schmutzgeier uns nicht im Schlaf damit überrascht, dass er uns für eine Aas-Delikatesse hält.
    Read more