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  • Day 39

    Isle-sur-la-Sorgue: ein neues Zeitgefühl

    August 8, 2023 in France ⋅ ☀️ 27 °C

    Kennt ihr dieses Gefühl: Ihr habt euch ein paar Wochen freigeschaufelt aus eurem monotonen Alltag und lasst diesen endlich mal wieder für eine gewisse Zeit hinter euch, um einen schönen Urlaub im Süden oder woanders zu erleben? In dieser Zeit wollt ihr, so viel es euch möglich ist, entdecken. Neue Orte, unberührte Natur, neue Fauna oder eine neue Kultur. Jeder Tag ist kostbar und irgendwie spürt ihr immer im Hintergrund: Die Zeit rennt. Denn es bleiben nur diese wenigen Wochen im Jahr, in denen das möglich ist. Mir ging es vor zwei Jahren ganz genauso. Im August, also im selben Monat im Jahr 2021, war ich schon einmal an diesem kleinen und wunderschönen Ort L'Isle-sur-la-Sorgue. Das bunte Städtchen ist umrahmt von einem süßen kleinen Flüsschen mit vielen kleinen Brücken. Die Sorgue ist eine Quelle, die den Ort liebevoll umspielt und viele Menschen hierhin zieht. Damals war ich an einem Sonntag hier, es war Flohmarkt und die Touristenmassen zogen durch die Stadt. Meine Reisebegleitung und ich wollten damals hier her, weil wir gelesen hatten, dass es ganz toll sein soll, besonders sonntags. Aber das dachten viele Leute, weil viele diesen Ratschlag im Internet oder ihrem Reiseführer gelesen hatten. Und so war ich völlig erschlagen von dieser Stadt. Aber wir wollten sie damals abhaken auf unserer langen Liste an Sehenswürdigkeiten in der Provence und Umgebung. Denn auch wir hatten nur zwei Wochen Zeit und wollten so viel wie möglich entdecken.

    Heute, zwei Jahre später, wollte ich an diesen Ort eigentlich gar nicht mehr zurückkehren. Erstens weil er mich damals erschlagen hatte und weil ich ihn ja schon gesehen habe. Also warum wieder hier hin fahren? Ich kann es euch nicht sagen, es war ein total spontanes Bauchgefühl und ich bin total froh, dass ich ihm gefolgt bin. Denn dieses Mal habe ich eine für mich total kostbare Entdeckung gemacht: Die Neu-Entdeckung von Zeit. Das klingt total kitschig, ich weiß, aber es ist so. :-) Denn dieses Mal sitzt mir keine Deadline meines Urlaubs im Nacken. Ich bin nicht mehr im Urlaub, sondern auf Reisen - für eine lange Zeit. Und daraus entsteht plötzlich ein ganz neues Gefühl, das ich mit euch teilen möchte, denn ich habe es selbst auch nie vorher empfunden und es ist wunderbar und ich wünsche euch, dass ihr auch einmal das Geschenk habt, es empfinden zu können.

    Ich war also wieder in L'Isle-sur-la-Sorgue gelandet und schlenderte mit Mali durch die süßen Strässchen mit ihren lebendigen Cafés, den Touri-Lädchen, die goldige Postkarten verkauften und der Sorgue, die ganz sanft ihr Wasser durch den Ort treibt und an dem sich sonnenerhitzte Besucher die Füße auffrischen. Ich suchte mir einen ruhigen Ort an der Sorgue, der nicht so überfüllt war und setzte mich mit Mali dorthin. Einem kleinen Steg am Wasser. Ich nahm mein Buch aus dem Rucksack und vergaß für diesen Moment einfach mal, dass ich auch nur eine Touristin war, die hier durchrauschte. Ich ließ diesen Aspekt einfach los und gab mich dem Ort vollkommen hin - denn ich hatte Zeit. Ich lief nicht einfach nur getrieben von Reiseführern durch die frequentesten Gassen, um die besten Fotospots zu finden, schnell alles auf dem Smartphone festzuhalten und dann wieder ins Auto zu steigen und weiterzufahren - zum nächsten Spot. So, wie ich es beim letzten Mal getan habe. Dieses Mal ließ ich mein Smartphone erstmal in der Tasche. Vergaß die Zeit um mich herum und ließ den Raum völlig auf mich wirken. Plötzlich gesellte sich ein französisches Pärchen mit zwei Bechern Wein in der Hand neben mich. Sie lagen händchenhaltend auf diesem kleinen Steg, auf dem ich saß und unterhielten sich ganz vertraut über das Leben: "Vivre le moment présent. Nicht an die Vergangenheit denken, auch nicht an die Zukunft, sich vielmehr ganz auf den Augenblick besinnen", wie ich es in meinem provenzialischen Krimiroman in diesem Moment lese, während ich aufs Wasser schaue. Einfach den Moment genießen. Im Hier und Jetzt sein. Ich empfinde plötzlich so eine wundervolle Ruhe in mir. Eine Art inner peace, der mich umgibt. Dann schwimmen plötzlich zwei Teenager an mir vorbei, auf einer Art Gondel, wie ich sie an diesem Abend noch öfter sehen werde. Sie scheinen eine Art Schultraining als Gondoliere zu haben und lernen gerade, die flachen Boote zu steuern. Was gar nicht so leicht scheint, denn das Städtchen wartet immer wieder mit kleinen Brücken auf, die ganz flach über dem Wasser schweben. Also müssen sich die Gondoliere hier auf dem Wasser in windeseile auf ihr kleines Schiffchen fallen lassen und den Körper ganz flach straffen, damit sie sich vor den Brücken schützen, während die Gondel darunter hindurch gleitet. Ich bin total fasziniert. Nur, weil ich mir diesen Moment gönne, habe ich dieses Schauspiel entdeckt - hier fern der Touristenmassen. In einem Moment, in dem ich los gelassen habe. Meine Route vergesse und all die Orte, die auf einer imaginären Liste stehen. Ich lasse die Zeit los, um sie ganz neu zu entdecken.

    Eine weitere Gondel steuert auf mich zu. Ein Familienvater mit seinen zwei Töchtern. Er stützt den Holzstab schwer ins Wasser und drückt sich mit aller Kraft daran ab, um die Gondel nach vorne zu bewegen. Auf unserer Höhe rufe ich ihnen ein liebevolles 'Bonjour' zu und lächle. Sie grüßen zurück. Ich fühle mich jetzt, als wäre ich ein Teil dieser Szenerie geworden. Als würde ich in einem der ockerfarbenen Häuschen hier um die Ecke wohnen mit salbeigrünen Fensterläden und Oleander vor der Tür. Als würde ich jeden Abend nach der Arbeit an diesen Ort kommen, um hier meinen Feierabend zu geniessen, mit einem Buch in der Hand. Als würde der Ort auch mir gehören in diesem Moment. Es ist ein wunderschönes Gefühl, dass ich so auf Reisen bisher nur sehr selten empfunden habe. Ich bin mir so dankbar, dass ich meinem Bauchgefühl gefolgt bin und wieder in L'Isle-sur-la-Sorgue gelandet war. Dieses Mal mit einem ganz anderen Blick. Auf den Ort. Den Raum um mich herum. Und die Zeit. Einfach in diesem Moment lebend und alles weitere loslassend. Vivre le moment présent.

    Die Gondel mit der Familie kommt zurück. Dieses Mal steht eine der Töchter im Boot und drückt den Holzstab auf den Grund. Ihr Vater läuft neben der Gondel durchs Wasser und navigiert sie. Er wirft ihr immer wieder auf französisch Anweisungen zu, die sie befolgt. Ich blättere eine weitere Seite in meinem Buch um und vertiefe mich in die provenzialische Geschichte. Mali hat sich neben mir abgelegt und beobachtet munter das Treiben. Hinter dem gegenüberliegenden Ufer geht langsam die Sonne unter und taucht die Szenerie in ein wunderschönes Abendgold. Meine Gedanken fließen durch. meinen Kopf. Was ist der wahre Sinn meiner langen Reise? Das Abhaken von Orten, um so viel wie möglich gesehen zu haben? Oder geht es mir darum, Teil der Orte gewesen zu sein, an denen ich verweilt bin? Ich beschließe für mich, dass ich den Fokus meiner Reise verändern möchte: Ich möchte nicht mehr nur durch Orte hindurchrauschen, ich möchte sie leben, sie spüren. Sie im Hier und Jetzt entdeckt haben. Mit meinem ganz neuen Gefühl von Zeit. <3
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