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  • Day 4

    Zubiri nach Arre, 15 km, Schäfchenwolken

    September 3, 2022 in Spain ⋅ ⛅ 14 °C

    Schäfchenwölkchentag

    Was für eine Nacht. Nachdem ich gestern meine Aufzeichnungen 2 Mal schreiben musste, weil ich sie einmal ungespeichert gelöscht habe, bin ich dann ins Zimmer. Es war dunkel und die meisten haben schon geschlafen. Es wurde geschnarcht. Das störende Geräusch kam von unten schräg gegenüber, wo das junge Mädchen aus Russland liegt. Wie kann sie so schnarchen? Keinen scheint es zu stören. Der Asiate aus den USA über mir dreht sich und ich bekomme jede Bewegung mit. Das Etagenbett wackelt. Na super. Was mache ich eigentlich hier? Ich schlafe mit meinen Brustbeutel und Handy um den Hals. Das Handy nehme ich mit, wenn ich mich umdrehe. Das kann so nicht die ganze Nacht gehen. Ich entscheide mich, es unters Kissen zu legen. Beim Hochkommen habe ich es an den Strom getan. Die Sammelsteckdose ist 2 m neben mir. Argwöhnisch habe ich es da schon im Auge behalten. Man kann niemanden trauen. Irgendwann mache ich es dann ab. Ich werde es morgen früh laden, wenn ich meinen Rucksack packe.
    Die Schnarcherin schnarcht immer mehr und links gegenüber stimmt jemand mit ein. Jetzt ist es ein wunderschönes Schnarchkonzert. Ich möchte gehen! Irgendwann nehme ich dann die bereits zurechtgelegten Ohrstöpsel und sie helfen. Ich schlafe ein. Ich werde wach und schaue auf mein Handy. Kurz nach 6 Uhr. Mein Über-mir-Schläfer hat es eilig und packt zusammen. Unruhe kommt auf. Ich gehe zum Frühstück um 7 Uhr und könnte somit bis 6.30 Uhr schlafen. Aber jetzt bin ich eh wach. Ich nutze die Gelegenheit und gehe auf die Toilette. Überraschung: Ich habe meine Tage bekommen. Viiieeel zu früh. Na toll. Das auch noch. Ich mache mich pilgerfrühstücksfein und will gerade runter gehen, da sehe ich, dass die Russin mit ihrem Freund den Platz getauscht hat. Sie hat oben geschlafen und ER war somit DER Schnarcher. Das erklärt einiges. Ich entschuldige mich innerlich für die ihr vorm meinem versuchten Einschlafen entgegengebrachten Flüche. Das Frühstück ist nicht so toll. Wir sitzen wieder wie die Hühner auf der Stange. Es gibt keine Wurst. Nur eine (große) getoastete Scheibe Weißbrot und Marmelade für jeden. Der Kaffee ist so stark, dass ich ihn nicht trinken kann. Den Franzosen neben mir schmeckt er. So unterschiedlich sind die Geschmäcker. Mir schräg gegenüber sitzt die Frau von gestern aus Eckernförde. Sie beachtet mich nicht und spricht die ganze Zeit mit ihrem neuen deutschen Freund. So schnell wird man "ausgetauscht". Ich fühle mich irgendwie unwohl und fehl am Platz und will einfach nur weg. Ich gehe nachdem ich aufgegessen habe nach oben und werde Zeuge eines komischen Anblicks. Die korpulente Engländerin, die ganz hinten in dem Bett gelegen hat, wälzt sich auf dem Boden. Sie versucht wohl ihren Körper in eine Kompressionsstrumpfhose zu pressen. Ich weiß wie schwierig das ist und finde ihre Art, es zu versuchen, nicht sehr Erfolg versprechend. Nun ja ... Dann gehe ich nach unten, ziehe meine Schuhe an und verlasse die Herberge gegen 7.40 Uhr in Richtung Arre. Es ist ein richtiger Pilgerauflauf. Wahnsinn, wie viele Menschen schon unterwegs sind. Ich mache einen Abstecher und kaufe 2 Bananen und dann geht es los. Der Himmel ist blau und überall sind kleine Schäfchenwolken. Ein schöner Anblick. Ich werde wieder reichlich überholt. Nur ein älteres Ehepaar und ein alter Mann bewegen sich in meinem Tempo fort. Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich kenne sie schon: Warum bin ich hier? Warum tue ich mir das an? Was soll das überhaupt? Antworten habe ich keine. Ich versuche, mehr zu trinken und genügend zu essen - insgesamt mehr auf meinen Körper zu hören. Nach doch schon 45 Minuten meldet sich meine Blase. Na toll, das kann ja toll werden. Kurz den Pilgerweg verlassen und Pippipause. Das Pilgern läuft recht gut. Ich werde ständig überholt. Der ältere Mann und ich überholen uns gegenseitig. Ganz so eilig wie gestern habe ich es nicht, denn meinen Schlafplatz habe ich sicher und die Herberge öffnet erst um 15 Uhr. Ich habe also genug Zeit. Ich mache viele Fotos. Auf jedem sind die Schäfchenwolken zu sehen. Bei jeder noch so kleinen Steigung bekomme ich Beklemmungen. Ich will nicht bergauf laufen. Das ist nichts für mich. Zu anstrengend. Ich glaube, da habe ich mir diesbezüglich auf dem Weg nach Orrison was eingefangen, was Berge und Steigungen betrifft. Zwischendurch immer wieder meine üblichen Fragen an mich.
    Kurz vor Akerreta treffe ich auf eine englischsprachige Frau. Sie möchte einen Kaffee in dem kleinen Örtchen ergattern. Ich sage ihr, dass ich auch einen nehme. Bei der Ankunft findet sich aber keine Kaffeestelle. Entschäuscht ziehe ich weiter. Meine Stimmung schwankt über die gepilgerte Strecke hinweg stark. Von: Ich breche ab bis hin zu: Das war jetzt schön.
    Kurz hinter Akerreta steht dort plötzlich ein gelber Transporter und stellt Kaffee zur Verfügung gegen eine kleine Spende. Ich mache Halt. Ich habe genug Zeit. Meine englischensprechende Kaffeepilgerin von eben kommt auch vorbei und hält an. Sie sieht sich um und sagt mir, dass sie dringend auf die Toilette muss. Ich schlage ihr vor, sie soll in den "Forrest" gehen. Das tut sie auch. Ich bekomme sogar einen neuen Stempel in meinen Pass. Kaffee und Stempel. Das tat gut. Nach gefühlt 5 gepilgerten Metern meldet sich meine Blase, da ich ja nun zusätzlich zum Wasser noch einen Kaffee getrunken habe. Okay - nächste Pippipause. Nun laufe ich an einem Fluss lang. Das sieht hier so aus, wie bei unseren Sonntagswanderungen. Ich vermisse Jenny und Caspar. Ein Stückchen weiter kann man in den Fluß gehen. Da treffe ich auf die singende Mutter mit ihrer Tochter von gestern, die mich fotografiert haben. Noch ein Stück weiter begegnet mir dann, wie bei uns an der Erft, in den höheren Ästen Treibholz. Hier muss auch Hochwasser gewesen sein. Ich denke an zuhause und die Flut. Gefühlt bin ich die Einzige, die Fotos macht. Alle anderen Pilgern rennen zielgerichtet, so schnell wie möglich, wohin auch immer. Ich schaue mich um und will auch was sehen. So entdecke ich auch eine schöne Stelle am Bach - nur 5 m neben de. Jakobsweg. Ich mache Bilder und wenn ich schon mal hier und auch so schön alleine bin, mache ich direkt noch mal ne Pippipause. Die "Hinterlassenschaften" der Pilger sind echt teilweise nicht schön. Überall, wo man vor Blicken geschützt ist, finden sich Taschentücher und leider auch Kackhaufen von Menschen.
    Ich erreiche gegen 11 Uhr Zuriain und da ist ein wunderschönes Pilgercafe. Auch wenn ich bereits einen Kaffee hatte, entscheide ich anzuhalten. Das Café liegt wunderschön an dem Fluss Arga. Wo ich gerade hier bin, gehe ich erstmal Pippi machen. War ja seit 10 Sekunden nicht mehr. Dan bestelle ich mir einen Kaffee und kaufe ein Sandwich. Dann erst einmal Schuhe und Strümpfe aus. So lässt es sich aushalten. Am Tisch gegenüber sitzt ein Asiate, der mir in der Herberge in Zubiri auch schon über den Weg gelaufen ist, gegenüber. Er hat lange und dunkle Nasenhaare - und anscheinend keine Freunde, Familie, die ihn mal darauf hinweisen. Ich rufe Jenny an und dann wechsle ich die Socken und gehe weiter. Die Temperatur steigt und der Weg führt nun an einem Abhang lang. Meine Höhenangst erscheint. Ich zwinge mich, auf den Weg nur nach vorne zu schauen. Das geht einigermaßen. Die Schäfchenwolken werde weniger und ich werde vom Weg wieder an einem Fluss lang geführt. Die Pilger werden weniger und wenn ich einen oder mehrere sehe, überholen sie mich hastig. Niemand achtet auf die Natur. Ich finde wieder ein tolles Plätzchen am Fluss und mache kurz im Schatten Rast, Fotos und natürlich Pippi. Ich kann gar nicht so viel oben reinschütten, wie es momentan unten rausläuft. Plötzlich komme ein Pilgerpärchen und sieht mich am Fluss. Die Frau scheint ihren Mann zu überreden und beide kommen ebenfalls an die Stelle und kühlen ihre Füße ab. Finde ich irgendwie schön, dass die beiden sich die Zeit nehmen anzuhalten. Ich fühle mich so, als wenn ich sie dazu angestiftet hätte. Ich gehe weiter und schaue kurz nach hinten und erblicke den Asiaten. Er macht viele Bilder, wie ich. Er sieht aus, wie aus einer anderen Zeit in das Jetzt gebeamt. Er trägt ein Langarm-Shirt, was auch über die Hände geht zum Schutz vor die Sonne. Dann noch eine Art Tuch, was den Kopf und Nacken schützen soll und zusätzlich einen Sonnenschirm auf dem Kopf. Was für ein Anblick. Die nächsten Kilometer treffen wir uns mehrmals und bleiben bei den schönsten Fotomotiven stehen. Dann kommt wieder eine meiner verhassten Anhöhen, dann geht es sofort wieder steil bergab. Das hätte man auch anders lösen können. Wurde der Pilgerweg extra schwer gemacht? Erst hoch, dann runter. Warum nicht direkt gerade?
    Die letzten Kilometer nach Arre ziehen sich endlos. Es ist furchtbar heiß. Ich hagel' mich vin Schatten zu Schatten. Bloß nicht überhitzen. Vor gefühlten 20 Kilometern stand doch schon dran, dass es nur noch 3 Kilometer sind. Wann sind die endlich zu Ende? Jetzt geht es den Berg runter und dann endlich bin ich in Arre angekommen. Ich kann nicht anders und reiße meine Arme hoch, als wenn ich bereits in Santiago angekommen wäre. Ich drehe mich um und hinter mir grinst mich ein Pilger an.
    Das Kloster ist noch nicht geöffnet, aber es gibt auch eine kleine Kirche und man kann seinen Pass selber abstempeln. Das mache ich. Dann setze ich mich auf eine Bank in den Schatten und warte darauf, dass es 15 Uhr wird. Ich bin vertieft in mein Handy, als plötzlich eine tiefe Stimme ertönt: Hello? The entry is here! Ich erschrecke mich und suche nach der Person zu der Stimme. Ich finde sie. Ein Mann grinst mich an. Ich folge ihm zu dem eigentlichen Eingang. Ein kleiner fuchsiger Hund kommt mir entgegen. Ich bekomme ein Bett direkt am Fenster und bin auch die erste, die da ist. Dann kommen noch 2 Frauen, die bestimmt ein Pärchen sind. Ich gehe duschen und wasche meine Wäsche. Die beiden meiden mich. Obwohl die Frauenwaschzimmer viel Platz bieten, kommen sie erst, wenn ich gegangen bin und anders herum. Ich setze mich mit dem in Zuriain gekauften Sandwich in den Garten und will es in Ruhe essen. Sofort bin ich von einem Hund und 5 bis 6 Katzen umringt. Jeder bekommt was. Danach gehe ich in die Stadt und kaufe ein für mein Abendessen und Frühstück. Auf dem Rückweg treffe ich Pilger aus der Herberge. Es sind Deutsche. Sie fragen mich nach dem Weg zum Supermarkt. Ich beschreibe ihnen diesen und der jüngere Mann sagt, dass sie noch essen gehen und fragt, ob ich mitkomme. Ich lehne ab, denn ich habe ja schon eingekauft. Bei der Rückkehr in die Herberge ist diese pilgerleer. Wo sind denn alle? Ist vielleicht eine Pilgermesse in der Kirche? Die will ich nicht verpassen. Ich frage den Herbergsvater und er sagt, dass alle zum Essen ausgeflogen sind. Ich mache mir ein Sandwich in der Küche und dort gesellen sich Howard und Michelle aus England zu mir. Wir kommen ins Gespräch. Er begleitet seine Frau noch 2 Tage und dann reist er ab. Sie soll dann alleine weiterpilgern und tut sich schwer damit. Wir verlagern unser Gespräch dann in den Garten. Plötzlich ist es so, wie ich es überall gelesen habe. Wir tauschen uns aus und lachen und quatschen. Es ist toll. Auch ihnen tut alles weh und wir reden über unsere Gedanken und Gefühle. Howard versucht mich und Michelle aufzubauen. Aber beide haben es nach Orrison geschafft. Wer das schafft, kann in meinen Augen auch den Rest. Später gesellt sich Yvonne aus Schweden dazu. Sie ist bestimmt schon 70 und etwas durcheinander, was die Tage und die Orte angeht. Dann kommen auch "meine" deutschen Pilger und wir quatschen noch ein wenig. Christian ist aus Bremen, seine Pilgerfreundin auch. Die andere jüngere Frau aus Dresden. Wir tauschen uns über Reservierungen und Nichtreservierungen aus. Es ist sooo schön. Die Zeit vergeht wie im Flug. Dann ist es Schlafenszeit. Ich bedanke mich bei Howard für seine aufbauenden Worte.
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