• Es gibt immer noch eine Steigerung

    June 6, 2023 in Iraq ⋅ ⛅ 36 °C

    7. Juni
    9.00 Uhr
    Wir fahren unsere ersten Kilometer in der Türkei.
    Gestern hatte ich schon nicht mehr daran geglaubt.
    Nach dem Frühstück verlassen wir am Morgen des 6. Juni unser Hotel in Erbil.
    Dolkhaz mit Frau und Tochter begleiten uns, denn er will uns unbedingt noch bei den Grenzformalitäten auf irakischer Seite helfen.
    Die ca 300 Kilometer bis zur Grenze verlaufen problemlos, nicht zuletzt deshalb, weil Viktor sich inzwischen an die katastrophale Fahrweise des Orients gewöhnt und auch ein wenig angepasst hat.
    Jeder brettert wie es ihm in den Kram passt, der Dreisteste gewinnt. Es gibt keine Fahrschulen und keinen Unterricht, und das merkt man auf jedem Meter.
    Als wir an der Grenze ankommen, ist es 12.00 Uhr, und die Mittagshitze schlägt uns mit aller Macht entgegen. Das Thermometer zeigt 45 Grad, man kann kaum atmen, Schatten gibt es nirgendwo.
    Der riesige Parkplatz ist voller Müll, bedeckt von staubigem Schotter gemischt mit ausgelaufenen, stinkenden, undefinierbaren Flüssigkeiten.
    Das Gelände ist so voll, dass wir kaum einen Platz für unseren Camper ergattern können.
    Doch irgendetwas stimmt hier nicht. Ich registriere keinerlei Bewegung, es herrscht ein Angst einflößender Stillstand.
    Was ist hier los?
    Warum erkennen wir nicht auch nur einen Millimeter an Vorwärtsbewegung?
    Es dauert eine gewisse Zeit, bis wir herausfinden, dass auf türkischer Seite nicht gearbeitet wird.😱😱😱
    Den Grund kann oder will uns niemand nennen.
    Doch wird der Ansturm auf die Grenze dadurch nicht geringer.......von Minute zu Minute wächst die Schlange der Wartenden auf der Zufahrtstraße.
    Die beiden einzigen uniformierten, total genervten Grenzbeamten sind völlig überfordert und scheuchen uns fragende Wartende weg wie räudige Hunde.
    Ein Toilettengang wird wieder einmal zum unvergesslichen Erlebnis. Bis zu den Knöcheln wate ich durch braunen Urin und mag mir nicht vorstellen, woher die Flüssigkeit ihre Farbe bekommen hat.
    In derselben Baracke gibt es einen Gebetsraum, in dem ein paar Frauen knien und beten bzw sich unterhalten.
    Sie hocken in der braunen Suppe, die unter der Tür vom Klo aus in den Raum fließt.
    Würgend und um Fassung ringend verlasse ich das Pissoir ( keine andere Bezeichnung könnte den Zustand des Ortes treffender beschreiben), da ruft jemand hinter mir her.
    Ich muss für diese Kloake auch noch Geld bezahlen, was Dolkhaz dann für mich erledigt, denn wir besitzen keine irakischen Dinar mehr.
    Die kontaminierten Schuhe schmeiße ich in die nächste Mülltonne 😱.
    Als wir realisieren, dass an dieser Grenze zur Zeit gar nichts mehr passiert, schicken wir Dolkhaz, Sawsan und Nada zurück zum Hotel.
    Sie können leider nichts mehr für uns tun.
    Die nächsten 5 Stunden verbringen wir wartend in der unerbittlichen Hitze. Niemand spricht englisch, wir erfahren nichts, erhalten nicht die kleinste Auskunft.
    Der einzige Trost ist unser Camper, in dem wir notfalls die nächste Nacht auf diesem dreckigen, stinkenden Platz verbringen können.
    Dann, nach endlosen Stunden, kommt Bewegung in die Masse von Menschen und Autos.
    Die ersten 10 Wagen werden durch eine Absperrung gewunken, die gleich danach wieder verschlossen wird.
    Aber immerhin: 10 von mehreren Hundert sind schon mal weg.
    So geht es dann in den nächsten Stunden weiter, in winzig kleinen Schritten, bis schließlich um 19.00 Uhr auch wir an der Reihe sind.
    Am Zoll werden Viktor und ich getrennt. Ich muss mit Tausenden von anderen Leuten ( kein Europäer außer uns, so gut wie keine anderen Frauen) durch die Personenkontrolle. Wir können uns nicht mehr verständigen, jeder ist jetzt für sich allein.
    Ein paar junge Männer bedrängen mich. Sie halten schwarze Plastiktüten unter dem Arm, die sie mir in die Hand drücken wollen. Ich wehre mich mit Gesten und mit mehr als einem lauten No. Keiner der Wartenden interessiert sich für das, was hier abläuft.
    Als wir zur Leibesvisitation kommen, schiebt mir einer der Männer blitzschnell ein Paket in den Gurt meines Rucksackes. Der Zöllner sieht es, reißt es mir weg, nimmt ein Messer und schlitzt das schwarze Paket auf: Zigaretten sehe ich, aber ich weiß nicht, was sonst noch in dem Paket versteckt ist.
    Vor mir befindet sich ein Eisendrehkreuz und ich ahne instinktiv, dass ich dahinter in Sicherheit bin.
    Den Vogel, der mir die Zigaretten zugestellt hat, haben sie inzwischen in einen Raum gezerrt.
    Das blüht mir jetzt wahrscheinlich auch.
    Im selben Moment packt mich ein älterer Mann am Arm und zieht mich durch das eiserne Drehkreuz: Come Come!!! Und in Windeseile quetsche ich mich mit ihm zusammen durch das Tor......und wir verschwinden in einem langen Gang.
    Das unheimliche Szenario scheint keinen Menschen zu interessieren. Es ist so, als sei nie etwas passiert.
    Später erfahren wir, dass an dieser Grenze wie an fast keiner anderen geschmuggelt wird, was das Zeug hält.
    In der Warteschlange hatten wir schon beobachtet, dass die Leute überall Zigaretten verstecken: hinter der Innenverkleidung, im Motorraum, in den Radkästen, hinter der Stoßstange ihres Autos.
    Endlich erspähe ich Viktor in der Menschemenge, zumindest eine Hürde ist wieder geschafft.
    Ich bedanke mich bei dem älteren Herrn, der mich nicht aus den Augen gelassen hat, für seine Hilfe. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache, aber einer versteht den anderen. Mit der rechten Hand auf dem Herzen verneige ich mich vor ihm und er versteht ohne Worte, dass ich mich aus vollem Herzen bei ihm für seine Hilfe bedanken möchte.
    Danach wird unser Wagen durchsucht, inspiziert und gescannt, weitere 2 Stunden Zeitverlust.
    Zum Schluss brauchen wir nur noch den Stempel in unserem Carnet. Doch keiner weiß über diesen Vorgang Bescheid.
    Wir jagen von Schalter zu Schalter, ohne Ergebnis.
    Schließlich kommt einer, der mit Hilfe von Google Übersetzer versteht, was wir wollen. Weitere zwei Stunden später haben wir endlich den Stempel.
    Da signalisiert uns der Typ, dass er für seine Hilfe 300 US Dollar haben will. Bakschich!!!
    In dem Moment raste ich aus: ich brülle den Typen in einer Lautstärke an, die mich selbst in Erstaunen und Angst und Schrecken versetzt.
    Dann renne ich zurück zur Scanstelle, dieser Beamte hatte mir einen verlässlichen Eindruck gemacht.
    Ein paar Männer, die gleich kapieren, wie aufgebracht ich bin, rufen ihn aus seinem Scan LKW heraus.
    Er bricht seine Arbeit ab und versucht, aus dem , was ich ihm mitteilen will, einen Sinn zu entnehmen.
    Zwei Wörter versteht er ohne weitere Erklärung: Money und Bakschich.
    Innerhalb von weniger als 10 Minuten hat er 4 weitere Leute herbei telefoniert und wir fahren ( ich war eine ziemlich weite Strecke gerannt) zurück zu unserem Auto, wo Viktor wartet. Diese Schande wollen sie nicht auf sich und ihrem Land sitzen lassen.
    Der Typ ist inzwischen wie vom Erdboden verschluckt.
    Wir fahren noch eine Zeitlang das Terrain ab, aber vergeblich. Er ist verschwunden, spurlos, so als wäre er nie da gewesen.
    Die Beamten machen sich noch ein paar Notizen, entschuldigen sich mit unzähligen Sorrys bei uns.
    Und dann...... nach mehr als 11 Stunden ( das ist der bisherige Negativrekord) sind wir in die Türkei eingereist.
    Wir beide haben wieder einen Meilenstein gemeinsam geschafft.
    20 Minuten hinter der Grenze finden wir eine Tankstelle, auf deren Gelände wir sicher übernachten können.
    Meine letzten Gedanken sind, dass wir es wieder einmal geschafft haben uns dass wir bald in unsere Heimat zurückkehren, in ein Land, in dem wir in Sicherheit, in Frieden und ohne eine solche Willkür leben können.
    Aus tiefstem Herzen DANKE DAFÜR🙏❤️
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