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  • Day 92

    Hüttenzauber

    February 19 in New Zealand ⋅ ☁️ 15 °C

    Der Wind weht kräftig gegen die Außenwand vom Zelt und ab und zu spüre ich einen kalten Luftzug in meinem Gesicht. Es ist noch sehr früh, vielleicht kurz nach 6 Uhr. Aus der Hütte ist aber schon Krach zu hören, es klingt, als würde das französische Paar dort alles auf den Kopf stellen. Kurze Zeit später stapfen sie mit Stirnlampen ausgerüstet an unserem Zelt vorbei und ziehen los in die nächste Etappe. Die spinnen doch, die Franzosen.

    Immerhin hat ihr zeitiger Aufbruch den Vorteil, dass wir jetzt in die Hütte und in Ruhe für uns frühstücken können. Es wird ungemütlich und stürmisch, erste Regentropfen prasseln auf das Zelt. Das Wetter hat eindeutig gewechselt. Ich überlege kurz, welche Auswirkungen das auf unsere heutige Etappe haben könnte. Ganz so hoch wie gestern müssen wir zwar nicht klettern, es geht „nur“ auf den Purple Top, ein kleiner Gipfel, der auf 1532 Höhenmetern liegt. Dennoch beschleicht mich das unangenehme Gefühl, dass es da oben heute ziemlich rau zugehen könnte.

    Ich will mir das gar nicht länger ausmalen und vorstellen, denn ich friere und alles fängt schon wieder an, nass und klamm zu werden. Wir schleppen so schnell wir können unsere Sachen in die Hütte und bereiten alles fürs Frühstück vor. Ich brauche dringend einen heißen Kaffee. Danny kramt im Essensbeutel und ruft plötzlich: „Ach du Scheiße, guck mal!“. Seine Milo Pops, die er zum Frühstück essen will, sind angefressen. Er inspiziert und untersucht alles gründlich. Die Instant Nudeln sind auch angefressen, obwohl sie eingeschweißt waren. Danny flucht und hält den leeren Essensbeutel hoch. Da sehe ich es auch, das kleine Loch, was den Mäusen die Tür zum Schlaraffenland geöffnet hat. Ich muss lachen, denn ich habe eine angebrochene Packung Kräcker im Rucksack. Bei mir war keine Maus. Aber ich stehe auch nicht auf der Fahndungsliste. Bei mir gibt’s nicht viel zu holen.

    Danny überlegt, ob er die Milo Pops noch essen kann. Er hat Sorge, die Mäuse könnten etwas hinterlassen haben, das aus ihrem Verdauungstrakt kommt. Aus Mangel an Alternativen entscheidet er sich letztlich für das Risiko. Außerdem haben wir zu wenig Essen dabei, als dass wir uns diese Art von Mäkelei leisten könnten.

    Aufgrund des Wetters wollen wir bald los und verstauen unsere Sachen. Danny zieht am Reißverschluss vom Hauptfach seines Rucksacks und hat ihn plötzlich in der Hand. Katastrophe! Die Mäuse haben sich durch seinen Reißverschluss ins Innere seines Rucksacks geknabbert. Der absolute Super-GAU. Jetzt, wo wir in den Richmond Ranges sind, ist die nächste Reparaturmöglichkeit mehrere Tage entfernt.

    Zum Glück lautet Dannys Credo: „Kein Problem!“ Jetzt kommen erstmalig die Kabelbinder zum Einsatz, die wir für derartige Fälle mitgenommen haben. Er fixiert und verbindet sie miteinander am Rucksack, so dass er das Fach weiter nutzen kann. Darüber stülpt er noch den Regenüberzug und fertig ist der Lack.

    Nebel zieht herein und bevor wir gar nichts mehr sehen, wollen wir den Gipfel vom Purple Top längst hinter uns gelassen haben. Das Wetter ist heute ein riesengroßer Unterschied zum gestrigen Tag. Mit langen Sachen und Wollmütze ausgestattet, keuche ich mich wieder Meter für Meter nach oben. Dort geht ganz schön die Post ab, meine Lust, hier zu verweilen, ist gering, genauso wie die Aussicht. Ich will so schnell wie möglich vom Gipfel runter in den geschützten Wald. Dennoch wage ich einen Blick auf die im Nebel verschwindenden Berge und kann tatsächlich etwas Romantisch-Mystisches daran finden.

    Eine kurze Schlitter- und Rutschpartie bringt uns zum Glück bald nach unten in den geschützten Wald. Der Wind ist hier nicht mehr so stark zu spüren und der Zauberwald hält den Regen etwas von uns ab. Tatsächlich habe ich ein bisschen das Gefühl, dass Gandalf oder Frodo aus „Herr der Ringe“ hier jeden Moment hinter einem Baum hervorspringen. Plötzlich knackt und knistert es, wir hören Schritte. Gandalf? Nein, es ist Guillaume aus Frankreich, ein Wanderer, der northbound, also in die entgegengesetzte Richtung wie wir wandert. Zu unserem allergrößten Erstaunen trägt er zusätzlich zu seinem Rucksack eine Violine bei sich. Als wir uns vorstellen und er hört, dass wir Deutsche sind, spricht er mit uns auf Deutsch weiter. Wir unterhalten uns kurz und fragen, woher er die Sprache gelernt hat. Er erzählt uns, dass er gern Gedichte von Hölderlin und Goethe liest. Manchmal trifft er auf Wanderer mit einer Gitarre und dann würden sie zusammen musizieren. Wir sind begeistert und gleichzeitig fragen wir uns, wie er die Violine heil über die Gipfel bringen will. Es gibt es nichts, was es nicht gibt, alles ist möglich im Leben. Wer etwas will, findet immer Wege und Lösungen. Guillaume ist der beste Beweis dafür.

    Ich friere bis auf die Knochen und zittere vor Kälte. Wir beschließen, mitten im Wald eine kleine Suppe zu kochen. Um den Gaskocher vor dem Wind zu schützen und damit Gas zu sparen, stellt Danny seine Alu-Sitzmatte schützend davor. Eine Windböe drückt sie plötzlich an den brennenden Kocher und sie verschmort ziemlich. Statt Schmorbraten hat er nun eine Schmormatte.

    Bis zur Mid Wairoa Hut laufen wir durch einen Wald, wo der Weg am Ende nochmal richtig steil und rutschig zum Wairoa River runterführt. Auf 3km geht es 600m nach unten. Zwischendurch immer wieder Regen, ich bin heilfroh, jetzt nicht mehr auf einem Gipfel zu stehen. Plötzlich überkommt Danny die Idee, dass wir doch heute weiter als bis zur geplanten Hütte laufen könnten und dann einfach irgendwo im Wald wild campen. Dann wäre der lange und steile Anstieg, der uns morgen erwartet, nur noch halb so lang. Mir klappt die Kinnlade runter und ich bekomme sofort schlechte Laune. In diesem nassen und kalten Wald ein Zelt aufbauen? Ohne mich! Außerdem gibt es keine gerade Fläche, wo das Zelt stehen könnte, alles ist schräg und überwurzelt. Wie das Zelt nach so einer Nacht im Wald aussieht, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Es kostet mich ein bisschen Kraft und Energie, Danny davon zu überzeugen, nur bis zur Mid Wairoa Hut zu laufen. Am Ende lenkt er ein und ich bin heilfroh, als wir endlich dort ankommen und bei einer heißen Tasse Kaffee im Trockenen sitzen.

    Die Hütte ist noch relativ neu und mit dicken Matratzen ausgestattet. Danny und ich machen es uns oben gemütlich, ein bisschen hat es was von Ferienlager. Unten liegen Hugo aus Holland und ein älterer Mann aus Neuseeland. Auch sie laufen in die entgegengesetzte Richtung und erzählen von ihrer heutigen Etappe, die uns morgen bevorsteht. Es soll „interessant“ werden und ich ahne dabei nichts Gutes. Ich will jetzt noch nicht an morgen denken, sondern mich in dieser Hütte einfach nur ausruhen. Es ist eine 8-Bett-Hütte, aber wir bleiben nur zu viert. Nicht auszudenken, wie eng es hier werden kann, wenn tatsächlich 8 Leute hier drin schlafen. Es ist die erste Hütte, in der ich es richtig gemütlich finde und mich wohl fühle. Welch ein Hüttenzauber! Fehlt nur noch der Glühwein.
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