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  • Day 50

    Das kann ja noch heiter werden!

    October 18, 2023 in Greece ⋅ ☁️ 18 °C

    Diese ziemlich typisch schweizerische Redewendung wendet sich mit leicht morbid-sarkastischer Miene dem drohenden Unheil zu. Doch an diesem Morgen nach heftigem nächtlichem Gewitter - an der Lagune von Mesolonghi - fällt mir auf, wie kraftvoll derselbe Ausspruch wirkt, wenn ich ihn unbefangen positiv äussere: das kann ja noch heiter werden! Hinter dem kräftigen Wolkenband am Horizont drückt bereits die Sonne durch.

    Mesolonghi an der griechischen Westküste darf den Titel "Iera poli", also "heilige Stadt" tragen. Das sieht man dieser Stadt überhaupt nicht an, vielmehr könnte man von einer Hochburg der "lost places", von einer Kapitale des Zerfalls sprechen, wenn man - wie wir - zuerst durch die schachbrettartig angelegten Gassen der Aussenquartiere streift. Der einst machtvolle Außenposten des venezianischen Reiches wirkt nach äußerst wechselvoller Geschichte ziemlich trostlos: die damaligen Verteidigungsmauern sind weitgehend zerfallen, die paar verbleibenden Kanonen in den Mauerresten zielen heute auf schmucklose Aussenquartiere, Supermärkte und Gewerbeflächen.

    Der Park vor diesen Mauerresten, der Park der Helden, wirkt sonderbar verloren ... und durch die Tore des Parks wird sinnigerweise der Blick frei auf das ziemlich heruntergekommene "Hotel Liberty", das den Charme von DDR-Plattenbauten atmet. Die Atmosphäre ist nicht weit von derjenigen albanischer Städte. **

    Das alte Spital, der stillgelegte Bahnhof, die vielen Bau-Leichen; wir erwarten nicht mehr viel von dieser Stadt, zumal gerade noch ein heftiges Gewitter aufzieht.

    Dann aber stoßen wir auf das auffallend rote und hübsche Häuschen von "Messolonghi by locals". 2019 haben ein paar junge Künstler und soziokulturell engagierte Menschen einen Verein gegründet (Motto: handeln statt klagen ...), das Häuschen renoviert und den Präsenzdienst organisiert. Der Ort ist jetzt Info-Point für Fremde, Versammlungsort für Einheimische, Ausstellungsraum, Kursraum für kulturelle Aktivitäten, Büro des alljährlichen Messolonghi-Festivals für Musik und Tanz, Co-Workingspace, Verkaufsstelle für lokale Produkte, Impulsgeber für Vernetzung. Wunderbar.
    Mangels eines öffentlichen Tourismusbüros haben sie selbst begonnen, Karten, Prospekte und Ausflugsideen zusammenzustellen. Empowerment im besten Sinne.

    In der freundlichen Atmosphäre des LocalHub von Agis fand ich überdies den passenden Ort für mein anstehendes Konferenz-Telefonat. Derweil kann getrost das heftige Gewitter niedergehen.

    Regenpause. Schnell noch ein Gelato (in einer der zu später Stunde doch noch gefundenen "alten Gassen") und dann finde ich auch noch zur originalen und sehr sehenswerten Ouzo-Brennerei TRIKENE aus dem Jahr 1901. Ein Bijou das Lokal, und eine unbedingte Empfehlung für den wirklich guten und überdies auch preiswerten Ouzo. Die Enkeltochter führt das Werk ihres Grossvaters nun in dritter Generation weiter - und weiss viel Wissenswertes in fließendem Englisch zu vermitteln.

    Unser Fazit: Mesolonghi ist ein Ort, den man erst auf den zweiten oder gar dritten Blick zu entdecken beginnt, ein Ort, der sich einem "nicht gleich in die Arme wirft". Traut man sich aber, hinter die Fassade zu schauen, dann wird's spannend.

    Die malerische Schönheit der Lagunenlandschaft sowie das mit viel Sorgfalt und Feingefühl modern gestaltete Salz-Museum, das wir am Morgen danach erkunden, verdienen einen eigenen footprint.

    ** Wer sich jetzt noch in historische Hintergründe vertiefen mag, soll ruhig weiterlesen (oder sei auf den aufschlussreichen Wikipedia-Beitrag zu Mesolonghi verwiesen).

    Mesolonghi gewann erst im 16./17.Jh und im Zuge der venezianischen Handels-Expansion an Bedeutung, als strategischer Aussenposten gegen die türkisch-osmanischen Machtansprüche. Die symbolische Aufwertung als Bischofssitz einer autokephalen byzantinischen Glaubensrichtung trug zu Beginn des 19.Jahrhunderts dazu bei, dass der Ort zum Brennpunkt des Widerstands gegen die Osmanen avancierte - und den Titel "heilige Stadt" tragen darf.

    In den frühen 1820er-Jahren kamen selbst aus dem Ausland viele Sympathisanten einer griechischen Autonomie nach Mesolonghi. Die europäische Intelligenzia brachte zu dieser Zeit offenbar mancherorts philohellenistische Vereine hervor. Lord Byron, J..W.Goethe und der Dichter Wilhelm Müller (der die Texte zu Schuberts "schöner Müllerin" und "Winterreise" geliefert hatte) zählten dazu. Auch der "schillernde" Schweizer Johann Jacob Maier war einer von ihnen, verdingte sich zunächst als Freiheitskämpfer, übte sich als Hochstapler, heiratete eine Griechin, wurde geachteter Zeitungsverleger - und hat sich damit eine Statue im Park der Helden verdient.

    Mesolonghi scheint denn auch im griechischen Bewusstsein eine besonders identitätsstiftende Rolle als Ort des frühen griechischen Widerstands einzunehmen.
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