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  • Day 27

    Die Stadt der Schande

    April 9, 2023 in Italy ⋅ ☁️ 11 °C

    Es ist Ostersonntag, dennoch ist einiges hier los. Viele Läden haben geöffnet. Ist etwas anders als in Deutschland. Hier entscheiden die Menschen selbst, wann sie ihre Läden öffnen oder nicht und nicht ein paar Bürokraten. Geöffnet wird dann, wenn etwas los ist, also auch am Ostersonntag.
    Wir haben für heute Morgen eine Führung gebucht, die uns das Leben und die Geschichte des Ortes etwas näherbringt. Die hat es in sich. Kurz zusammenfasst und die Jungsteinzeit, die Römer, Byzantiner, Franken und weitere mal weggelassen, sprich etwa 8000 bis 10.000 Jahre, hatte sich das Leben hier seit Jahrhunderten, seit dem frühen Mittelalter kaum verändert: Die Arbeiter und Armen lebten in den Höhlen, die reicheren Menschen in der Oberstadt in Häusern. Deren Gebäude waren zu den Armen hin schlicht und nur einfaches Mauerwerk, zu der anderen Seite hin mit Fresken und Brüstungen verziert.
    In einer Grotte hausten früher - muss man so sagen, meist um die 15 bis 20 Menschen, bei Finsternis, Fenster gab es meist keine, die Tür war recht klein und mit Holzlatten verschlossen. Für Wasser sorgten offene Zisternen im Höhlenboden, die sich über Kanäle mit Regenwasser füllten. Kühl, feucht und stickig war es, die Wände isolierte man mit den Exkrementen der Tiere. Für etwas Wärme sorgte das Vieh, das mit in den Höhlen bei den Menschen lebte. So sah es sogar noch in den 50- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts hier aus. Abluftkamine oder Abzüge gab es kaum, darüber lagen ja andere Höhlen und darüber die Häuser der Reicheren. Sozialen Halt gab den Armen einzig die Nachbarschaft.
    Christus kam nur bis Eboli, 1945 schrieb der von Mussolini in diese Region verbannte Carlo Levi das Buch über diese vergessene Region am Ende der Welt. Er beschreibt darin die Abgeschiedenheit der Dörfer, die Zustände, unter denen die Menschen hausten. Weit verbreitet war die Malaria, die Kindersterblichkeit lag bei 50 Prozent in der ersten Woche. Dieses Buch ließ Italien Anfang der 50er- Jahre auf diese Stadt blicken, wie auf ein ungeliebtes Schmuddelkind, einen Schandfleck. Damals galt es als Schande, in der Sassi vom Matera zu leben. 15.000 Menschen zählte man 1948, in etwa 3300 Räumen.
    Also entschied die Regierung, in den 1950er und 60er Jahren die Menschen in neu gebaute Wohnblocks umzusiedeln. Quasi eine Zwangsumsiedlung von dem Ort, an dem sie und ihre Vorfahren seit Jahrhunderten lebten. Was viele nicht wollten, kannten nichts anderes. Die Räumung dauerte rund zwei Jahrzehnte, so erzählt uns der Guide. Noch Anfang der 90er-Jahre gab es vereinzelt Schafhirten, die hier lebten. Und die umgesiedelten Menschen, die saßen weiterhin bettelarm in den Sozialwohnungen mit fließend Wasser, hatten aber den sozialen Halt, ihre Freunde, die Nachbarschaft verloren. Die Höhenwohnungen standen leer und verfielen. Ab und an gab es Initiativen, diesen Zustand zu ändern, Nur, es tat sich nichts. Bis die Unesco kam, die 1993 die Besonderheiten dieser Stadt erkannte, sie zum Weltkulturerbe machte und die Italiener überzeugen konnte, Geld in die Restaurierung zu investieren. Aber auch dann geschah wenig. Erst als Mel Gibson die Stadt 2004 als Drehort für seinen Film über die Passion Christi erwählte, bekam Matera unerwarteten Zulauf. Vor etwa 15 Jahren begannen die Restaurierungen dann so richtig, seit fünf Jahren ist Matera in der Reisebranche etwas bekannter und wird vermehrt von Touristen besucht. Die einzige Chance, wie der Guide explizit betont, dass die Menschen von Matera eine Zukunft bekommen, die sie Jahrhunderte nicht hatten. Es gelte nur, die richtige Dosis zu bewahren. Jedenfalls ist die Sassi von Matera ein regelrechtes Museumsdorf, in dem wieder Menschen leben. Nicht wenige Höhlen und Gebäude wurden und werden zu B&Bs umgebaut, Hotels entstanden und zahlreiche Restaurants, Bars, Cafés, ergänzt durch Souvenirshops und viele Ateliers mit Produkten aus der Region etwa aus dem Tuffstein bis hin zu mehreren Museen. In einem kann man sehen, wie eine derartige Höhle eingerichtet war, von einer bessergestellten ärmeren Familie. Und es wird immer noch viel gebaut und restauriert. Viele der Plätze, Treppen, Wege und Straßen sind erst wenige Jahre alt, fügen sich aber wunderbar ins Stadtbild ein, so dass man meint, sie wären deutlich älter.
    Für mehr Besucher sorgt ganz nebenbei die Filmbranche. Was mit der Passion Christi begann, ging und geht mit anderen Produktionen weiter: mit Teilen der Neuauflage von Ben Hur, mit Szenen aus dem Marvel-Film Wonder Woman oder mit dem James-Bond-Film `Keine Zeit zu sterben` mit Daniel Craig. Hier entstanden einige spektakuläre Verfolgungsjagden und Actionszenen mit dem Motorrad und teuren Aston Martin´s, von denen nicht wenige geschrottet wurden. Letztes Jahr konnte man hier auf Angelina Jolie treffen, für ihren jüngsten Film.
    Im Jahr 2019 war Matera Europäische Kulturhauptstadt, mithin wird dieser Flecken am Rand der Basilikata immer bekannter. Wer diese Stadt also mit mehr Ruhe und immer noch etwas Ursprünglichkeit kennen lernen will, sollte womöglichst nicht zu lange warten. Und, ein Tag ist zu wenig. Selbst die zwei Tage, die wir hatten, machen es kaum möglich, alles zu erkunden. Und sei es nur durch verschlungene Gassen zu bummeln, die Museen zu besuchen, versteckte Felsenkirchen zu entdecken oder sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen - wie geschrieben, von der Steinzeit bis zu den Franken habe ich ja mehr oder weniger alles ausgelassen.
    Morgen Abend wäre die Ostermontagprozession durch die Altstadt – eben die Passion Christi. Dann dürfte einiges hier los sein, sieht man schon an den Vorbereitungen. Nur sind wir dann schon weiter. Einerseits schade, andererseits aber vielleicht auch gut so.
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