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  • Day 8

    EyesWideShut

    August 23, 2019 in China ⋅ ⛅ 29 °C

    There are one million ways to die, choose one. Wir haben uns dafür heute eine sehr pittoreske Art ausgesucht, den Tianmen Berg, direkt vor der Stadt gelegen.

    Halbzehn/zehn wachen wir langsam auf. Der Ausblick auf die Stadt ist schon cool, auch wenn sie keinen Schönheitswettbewerb gewinnen würde. Mit unserem bahnhofsnahen Hotel befinden wir uns in einer Art Tourighetto. Ein Vorteil sind Unmengen Restaurants und Supermärkte gleich in der Nähe. Die eigentliche City liegt ca 2 km entfernt über den Fluss. In einem kleineren Resto frühstücken wir Eier mit Tomaten, Reis und gefüllte Dumplings.

    Es ist mittags und das Thermometer zeigt 35 Grad an, die Schwüle zeigt es nicht. Wir schwitzen wie blöd. Gegen die Sonne haben wir unsere Schirme, gegen die Hitze unsere Handventilatoren, so wie jeder schlaue Chinese.

    Aus der Stadtmitte heraus lässt der chinesische Ingenieurswahnsinn eine Gondelbahn fast bis zum gut entfernten Gipfel des Berges Tianmen starten. Die Gondeln hoch über den Köpfen sind omnipräsent und fast ein Wahrzeichen der Stadt. 7 km lang, die Fahrt dauert eine gute halbe Stunde. Verrückte Sache. Da wollen wir hin.
    Das etwas größer dimensionierte Lifthäusl liegt für uns in Laufweite und eins war von vornherein eigentlich eh klar: (Ausländer)Hardtickets für die Gondel sind wieder einmal ausverkauft... Für Chinesen gibt es anscheinend noch ausreichend an den Selfticketautomaten. Einmal mehr fühlen wir uns nicht sehr willkommen, enttäuschte Kinder, grrr.

    Es gibt drei Varianten auf den Berg zu kommen: Mit Gondel hoch und mit Bus wieder runter, mit Bus rauf und Gondel wieder runter oder mit Bus rauf und auch mit Bus wieder runter. A und B sind ausverkauft, dann nehmen wir die Variante mit dem Bus. Wie sich später herausstellt, das weitaus größere Vergnügen!

    Der Shuttlbus fährt ohne Wartezeit und mit freier Platzwahl zur einer Art Talstation, dort steigen wir um in einen kleineren Van, der uns bis fast ganz oben bringt - der erste kleine Tod: Eine selbstmörderische Achterbahnfahrt über zahlreiche, engste Serpentinen mit rasend schnellen Höhenmetern, bis wir einen großen Platz mit atemberaubenden Blick ins Tal und auf die kleine Großstadt erreichen. Anfangs kreischen unsere chinesischen Mitreisenden noch bei jeder Kurve, wird dann aber immer dezenter, schließlich gewöhnt man sich ja an alles, und auch weil der Fahrer diese halsbrecherische Kurverei echt gut und sicher abgefahren ist, muss man sagen.
    Vom obigen Haltepunkt hat man einen kompletten Überblick über die Strecke mit ihren fiesen Kurven. Im Nachhinein sind wir froh, dass wir diese spaßige Fahrt gemacht und nicht die dröge Gondel genommen haben.

    Ein weiterer Vorteil vom Shuttlebus ist nämlich die Endstation, dieser riesige Platz mit Kiosken, Restaurants und Toiletten, der nicht die Bergstation von der Gondel ist, aber direkt am ersten Highlight des Berges liegt.
    Wendet man sich vom atemberaubenden Talblick Richtung Berg, sieht man eine mehrere hundert Meter hohe Steintreppe, die zu einem riesigen Durchbruch im Berg führt, ein Megaloch, quasi das Markenzeichen des Tianmen.
    Die Treppenstufen sind für unsere Füße etwas zu kurz geraten, der Aufstieg effektiv steil und auch schweisstreibend. Die Belohnung ist kühlere Bergluft und ein noch bombastischerer Blick ins Tal vor, wie hinter dem Berg und weit hinauf zum oberen Ende des gigantischen Lochs. Das viele zig Meter hohe Tor durchschreiten wir bis wir eine Rolltreppe erreichen, eine Rolltreppe! Rauf rauf rauf, ewig lang, sieben Stück sinds dann am Stück, diagonal durch den Berg, jede dauert gute zwei Minuten. Im Tunnel fühlt es sich eher nach Pekinger U-Bahn an, als ein Bergaufstieg.

    Wieder am Tageslicht, finden wir uns auf einem Hochplateau wieder. Große Hinweistafeln bieten zwei Rundwege an, einer nach Osten, der andere nach Westen. Wir entscheiden uns für den Weg nach Osten, vor allem weil ein Teil dieses Weges aus Glasstegen besteht, Glasstege über einem 300 Meter tiefen Abgrund, ach du gute Güte, auf rohen Eiern gehen, genau mein Sport.
    Die regulären Wege sind allesamt bepflastert und betreppt. Zunächst läuft man durch Gestrüpp links und rechts und niedrige Wälder, bis man den Rand des Plateaus erreicht, den Abgrund. The Abyss!
    Und da hört mein Spaß eindeutig auf und der der Kinder beginnt. Betonsteige führen entlang der Felswände über 300 Meter Abgrund und nur ein grobes Betongeländer, in seiner Form dicken Ästen nachempfunden, trennt dich vom freien Fall. Der Ausblick in die Umgebung ist gigantisch und macht süchtig, muss ich zugeben.
    Von einem Punkt sieht man auch auf das imposante Loch hinab, das von oben etwas von seiner gigantischen Größe verliert und fast schon klein scheint, es gibt in der Natur oftmals immer noch heftigere Perspektiven, alles eine Frage des Blickwinkels.

    Eine Wegalternative gibt es nicht, also Augen auf und durch. Selbst Fynn, der alte Kletterer, hat - wie nennt er das Gefühl so treffend - Sackflattern. Ich muss vor den Etappen schon tiiiief Luft holen. Ich habe keine richtige Höhenangst, nennen wir es ganz diplomatisch Höhenrespekt, großen Höhenrespekt, die Kinder weniger, Nele eher gar nicht.
    Dazu kommt ständiger Gegenverkehr chinesischer Reisegruppen. So manches altes cooles Weiberl ist dabei, das angstfrei die Passagen geht, aber auch Frauen, die mit ihrem Handy als Scheuklappe panisch kichernd eng am Fels entlang huschen. Dazu gehöre ich jetzt nicht, aber es kostet mich teils schon viel Überwindung an das Geländer zu gehen und Fotos in die Tiefe zu machen, der Ehrgeiz siegt, obwohl ich tausend kleine Tode sterbe.
    In vergangenen Zeiten bin ich im Fels hemmungslos drei Seillängen geklettert und zwischen Gletscherspalten gesprungen. Alles weg jetzt. Ich fahre zwar immer noch mit Begeisterung Achterbahn, und mag diesen bestimmten Kick, aber hier spüre ich ein ganz anderes Ziehen, und es fordert mich irgendwie heraus.

    Eindeutig Schluss ist aber, als der Glasbottom Steg ansteht. Totalverweigerung. Die Kinder ziehen sich begeistert die Stoffüberschuhe an und Tschüss. Ich warte am Ende des alternativen Schisserweges auf meine grüngesichtigen Kinder. Nix da, nix Grün im Gesicht, pure Begeisterung steht da geschrieben! Sie zeigen mir ihre Fotos und ich bin nur froh, dass ich mir das nicht angetan habe. Der Weg aus Glas ist wirklich durchsichtig, glasklarer Durchblick bis zum weit weit unten liegenden Endegelände.
    Heilige Scheisse! sage ich da nur, nicht mein Ding.

    Die atemberaubende Ostrunde ist irgendwann geschafft, ich auch, aber stolz bin ich ebenso auf mich, die Kinder sind begeistert aufgedreht. Sie haben offensichtlich Spaß! Jetzt steht die Westrunde an, zwei Stunden schätzen wir dafür.
    Der erste Teil des Weges führt durch ein schattiges Wäldchen, hier machen wir Picknick.
    Bananen, leckerste Pfirsiche, Reis, perfekt.
    Das nächste Ziel am Scheitelpunkt des Westweges ist der Tianmen Tempel.
    Durch ein großes Tor betreten wir das Gelände. Es sind kaum Menschen hier. Auf dem großen Platz vor dem ersten prächtigen Tempel stehen riesige Eisenschalen mit qualmenden Räucherstäbchen, Gebetsmantras schallen aus versteckten Lautsprechern. Musik, Klänge, das ist es, was ich bisher vermisst habe! Hier stimmt irgendwie alles, hier schwingt etwas Besonderes. Dieser Ort schafft der Seele Raum für Ruhe und Wahrhaftigkeit, Spiritualität und Gegenwart. Was für eine Wohltat!
    Im ersten Tempel thronen drei große, goldene, meterhohe Buddhas. Der Himmel besteht aus einer wunderschön blauen Kassettendecke, von der vier goldgelbe Soffsäulen herab hängen. Wunderwunderschön. Ich bin allein in diesem heiligen Raum und genieße die Ruhe, die er ausstrahlt.
    Vom diesem ersten Platz aus führen Treppen zur nächsten Ebene wieder mit Tempel. Andere Mantras begleiten den Weg dorthin, das Gebäude ist etwas kleiner, aber nicht weniger harmonisch.
    Fast versteckt führt ein weiterer Durchgang zum absoluten Höhepunkt, ich bin komplett begeistert vom Anblick des großartigsten aller Tempel, die ich in diesem Land bisher gesehen habe. Ein eher runder Bau erhebt sich in den Himmel, so reich und vielfältig dekoriert und ausgestattet, einfach umwerfend. Es ist eine Schande, das das Zeitlimit abgelaufen ist, das wir uns für die Rückkehr gesetzt haben, damit wir rechtzeitig einen der letzten Busse ins Tal erwischen. So habe ich keine Zeit mehr das Innersanctum zu bestaunen. Aber schon jetzt bin ich ausreichend beglückt von dieser Begegnung der besonderen Art und meine Seele und meine Knie wieder gestärkt für den nächsten Parcours.

    Auf dem Rückweg bemerken wir rote, beschriftete Bänder, die an Äste geknotet sind. Erst vereinzelt, dann werden sie immer dichter, dazwischen hängen bronzefarbene Bügelschlösser mit Schriftzeichen drauf, zwischendrin auch mal herzförmige. Zu einem Schrein hin sieht man Äste und Geländer vor lauter Bändern und Schlössern gar nicht mehr, ein Meer in rot und angelaufenem Messing.
    Das Zentrum bilden zwei Kinderfiguren... nicht schwer zu erraten, worum hier gebeten wird.
    Bänder und Schlösser gibts gleich nebenan, an einem Verkaufsstand.

    Kurz nach diesem Knotenpunkt stehen wir am Anfangspunkt zur zweiten, atemberaubenden Hälfte der westseitigen Zitterpartie. Tief Luft holen und durch. Vom „Festland“ aus kann man die Betonstege sehen, die zurück zum Ausgangspunkt, den Rolltreppen führen. O mei o mei, die hängen noch krasser und ausgesetzter als die von der Ostroute. Respektvollster Höhenrespekt ist angesagt, muss ja.
    Die Faszination und Besonderheit der absolut genialen Landschaft drumherum nimmt mir erfreulicher Weise viele Bedenken vor diesem Weg. Wenn da nicht immer wieder dieser eine Schritt zum Geländer wäre, um Fotos von dieser großartigen Kulisse zu machen.
    Laura hält sich mittlerweile eher an mich, ihr setzen die dauerweichen Knie auch langsam zu und so wackeln wir uns gemeinsam mutig weiter und weiter, den immer lustig voraus springenden Nele und Fynn hinterher, und drängelnden Chinesengruppen ausweichend.

    Der erste Abschnitt ist bravourös geschafft. Erleichtertes Ausatmen. Die nächste Herausforderung wartet gleich um die Ecke: Eine hundert Meter lange Hängebrücke über eine dreifach so tiefe Schlucht. Das Gekreische chinesischer Damen auf dieser wackeligen Angelegenheit ist unüberhörbar, unübersehbar die überlegen lächelnden, sonnenbebrillten Poser und zugleich Retter dieser Damen, die versuchen, mit ihren teigigen Leibern die Brücke in weitere Schwingungen zu versetzen, die alten Wabbler, bevor sie die Damen dann retten, oder sich an ihrem Gekreische ergötzen. Das ist so komisch, dass wir bestens amüsiert und abgelenkt, elegantest über diese Brücke eiern.
    Der Blick nach oben zu den darauf folgenden Betonstegen ist dann wieder eher ernüchternd.
    Aber... aber Laura und ich werden tatsächlich mutiger! Vielleicht ist es auch das nachmittägliche warme Fotolicht, das uns mit festeren Schritten gehen, und die Gefahr für einen schönen Shot vernachlässigen lässt.

    Wieder rote Bänder an Ästen, wieder erst vereinzelt, dann immer dichter, diesmal ohne Schlösser, aber selbst beschriftet. Sie sind sehr hübsch, diese Bänder, so im milden Sonnenlicht.
    Wir folgen mit unseren Kameras der rot leuchtenden Fährte. Höhe, welche Höhe?
    Fynn und Nele holen sich an einer Bude so eine Banderole, beschriften sie mit „Ich war hier, Fynn, oder Nele“ und knoten sie zu den unzähligen anderen am Geländer.

    Nachdem der Zenith der Bänderdichte durchschritten ist, gilt es noch ein paar Kurven und Windungen in schwindelnder Höhe zu überwinden. Nele und Fynn möchten sich noch einen letzten Glassteg geben, bevor der um 16:30 schließt und wir in die Zielgerade zum Startpunkt der Rolltreppen einschwenken. Ich bekomme wieder begeistert gekickte Adrenalinjunkies zurück. Wir passieren die Bergstation der Gondelbahn, wo die Ströme der entgehen kommenden Chinesen immer dichter werden.
    Auf den Rolltreppen senkt sich der Puls dann langsam wieder auf Normalbetrieb.
    Stolz, Erleichterung und Begeisterung über das Erlebte nehmen wir alle mit, ich im besonderen feiere mein Überleben.
    Wir stehen wieder vor den endlosen Treppen, die vom großen, beeindruckenden Felsloch aus diesmal nach unten führen. Pillepalle, ein Genuss, ein Triumpfmarsch.

    Auf den Achterbahnbus vom großen Platz weg, müssen wir nicht lange warten, unser Timing war perfekt, auch wenn es mich den Tempelbesuch gekostet hat - lest ihr die leise Wehmut zwischen den Zeilen?
    Auch die wilde Kurvenfahrt ins Tal können wir jetzt auskosten. Als wir im Tal aussteigen, erschlägt uns gnadenlos die schwere Hitze, die hatten wir ganz vergessen. Stöhn.
    Es ist mittlerweile Dinnerzeit, als wir im Dunstkreis unseres Hotel eintauchen.
    Wir kehren in ein Resto mit Tujia Küche ein, die Küche der lokalen Minderheit in der Provinz Hunan. Das Essen in dieser Region ist insgesamt sehr deftig-rustikal und scharf. Wir bestellen die „lokale Spezialität“, eine Art Bauernpfanne auf Gasflamme vor sich hin bruzzelnd. Gebratener Speck wird bei sehr vielen Gerichten großzügig eingesetzt, ein ganz neuer Aspekt der chinesischen Küche und eine spannende Kombi mit Chili. Die Gerichte der Region schmecken allesamt für unseren Gaumen recht unchinesisch, wenn man das Klischee dazu im Sinn hat.
    In unserer Bauernpfanne findet sich auch ein ganzer Hühnerkopf, Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten, zerteiltes Hühnerfleisch mit Knochen, Chili, Ingwer und dunkler Sojasauce, gar nicht so weit weg von unserer Küche, aber doch ganz anders.
    Dazu trinken wir übrigens gerne Sojamilch, weissen Trinkjoghurt oder O-Saft.
    Nicht nur das Essen hat uns heute müde und glücklich gemacht. Für die Kinder war es der schönste Tag der Reise bisher, sagen sie, Papa lächelt zufrieden.

    Bei Fynn haben sich im Laufe des Abends Schmerzen im linken Kiefergelenk zu einer Entzündung entwickelt. Die Wange ist leicht geschwollen. Ich hoffe mal, dass Ibu nicht nur den Schmerz nimmt, sondern auch entzündungshemmend wirkt. Laut Fynns Einschätzung ist kein Zahn die Ursache, kauen kann er ohne Probleme, Ohrenschmerzen sind es auch nicht, das würde sich schon anders anfühlen. Dann warten wir morgen mal ab.

    Bevor die Lichter aber ganz ausgehen, wird noch fleissig Tagebuch geschrieben - jedes Kind schreibt mittlerweile - und gedaddelt natürlich.
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