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  • Day 34

    Ruhetag Ruten Fjellstue

    July 3, 2023 in Norway ⋅ 🌧 12 °C

    Die Nacht habe ich, trotz weichem Bett und dunklem Raum, schlecht geschlafen. Am Abend konnte ich lange nicht einschlafen, um vier Uhr werde ich das erste mal mit Verspannungskopfschmerzen wach, um kurz nach sechs ist es dann ganz vorbei mit Schlafen. Gegen die Kopfschmerzen nehme ich eine Ibuprofen. Ich fühle mich nicht besser als gestern und immer noch denke ich an einen Abbruch der ganzen Reise. Kurz recherchiere ich sogar nach potenziellen Rückreisemöglichkeiten. Nach einer heißen Dusche geht es wenigstens ein klein wenig besser, mental ist allerdings deutlich Luft nach oben.

    Mir geht soviel durch den Kopf. Ich mache mir eine kleine Liste mit Vor- und Nachteilen sowohl einer Weiterreise als auch eines Abbruchs. Ich schreibe mir auch Fragen auf, die ich gerade nicht beantworten kann. Zum Beispiel, welche Rolle hier mein Leistungsdenken spielt? Wieviel Unangenehmes ich in Kauf nehmen möchte, um auf der anderen Seite tolle Erlebnisse zu haben? Und auch mein Ego kann ich nicht abschalten. Ein Abbruch würde ich vor mir selbst schwer rechtfertigen können. Aber hier lesen viele mit, vielen habe ich von der Reise erzählt, teilweise habe ich von nichts anderem mehr geredet. Und jetzt versage ich in diesem Projekt? Ich glaube, dass die meisten, die das hier lesen, diese Gedanken direkt als Quatsch abstempeln. „Du machst das doch für dich“, „das kann dir doch egal sein, was andere denken“ oder „du musst das tun, was dir gut tut“. Solche Ratschläge anderen zu geben ist sicherlich einfach. Auch deswegen habe ich die Kommentarfunktion hier abgeschaltet. Natürlich mache ich die Reise nur für mich aber ich wäre entweder sehr unreflektiert oder sehr unehrlich mir gegenüber, wenn ich behaupten würde, dass es mir egal wäre, was andere über mich nach einem Abbruch denken könnten. Wir alle machen uns solche Gedanken, wir alle haben ein Ego. Und nicht selten ist es genau unser Ego, das anderen gute Ratschläge gibt, während wir selbst ganz anders handeln würden.

    Ich habe mich dafür aber über sehr liebe Nachrichten von Schmiddi und meiner Schwiegermutter bei WhatsApp gefreut, die völlig bewertungsfrei mich darin bestärkt haben, in mich hinein zu hören und dass ich mich, egal wie ich mich entscheide, gut entscheiden werde. Bei Kommunikation bin ich echt sensibel und ich unterscheide schnell zwischen altklugen Ratschlägen von der Seitenlinie oder echtem mentalen Rückhalt, wie ich ihn gestern in den WhatsApps und dem Telefonat mit Nicole erfahren habe.

    Erste Gedanken sortieren sich und mir wird recht schnell klar, dass ich noch etwas Zeit brauche. Ich beschließe, noch eine weitere Nacht hier zu bleiben. Das ist zwar wieder eine Stange Geld, aber das ist als Alternative zu einem überstürzten Abbruch oder dem verfrühten Weitergehen und dem damit nächsten vorprogrammierten Tief gut investiertes Geld. Und diesmal buche ich auch das Abendessen dazu.

    Um 08.00 bin ich der erste beim Frühstück. Es gibt sogar frisch gemachtes Käse-Omelette. Ich stehe vor dem Frühstücksbuffet wie ein kleines Kind im Süßigkeitenladen. Ich will alles hier essen. Alles! Ich habe richtig Hunger! Es gibt jetzt zwei Taktiken: So langsam wie möglich oder so schnell wie möglich. Bei großem Hunger kenne ich kein „langsam“. Also muss ich immer schneller nachlegen als das Sättigkeitsgefühl einsetzen kann. Ein halbes Brötchen mit Elchsalamie, ein halbes Brötchen mit Lachs, den man auch auf drei Brötchen hätte verteilen können, ein halbes Brötchen mit Käse, ein halbes Brötchen mit Käse-Omelette, eine Scheibe Brot mit Erdbeermarmelade, zwei Scheiben mit Himbeermarmelade und darauf noch ein Brötchen mit Nutella. Überall etwas zu viel Butter drauf. Dazu ein Glas Saft, vier Tassen Kaffee, ein Glas Smoothie und noch ein Joghurt oben drauf. Wenn ich überschlage, was mich das Frühstück gekostet hätte, wenn ich es mir selbst hier im Supermarkt zusammen gestellt hätte, ist das Zimmer eigentlich gratis gewesen. Läuft. Während des Frühstücks fälle ich auch eine erste Entscheidung: Hier werde ich keine Entscheidung fällen.

    Morgen werde ich weitergehen. Meine Route führt in den nächsten zwei Wochen durch drei Städte mit Sportgeschäften. Hier will ich nach einem zweiten Paar Schuhen schauen, dass ich die Möglichkeit zum Wechseln habe. Das bedeutet wieder mehr Gewicht, wäre aber ein gewinnbringender Kompromiss. Und Mückenspray kommt auf die Liste, obwohl mir ein Flammenwerfer lieber wäre. Aber der wiegt sicher zu viel. Ich überlege mir, dass ich zukünftig die DNT-Selbstbedienungshütten nutzen möchte. Hier kostet eine Nacht 25 Euro, dafür gibt’s ein Bett, die Möglichkeit, meine Sachen zu trocken und es gibt immer eine gemütliche Einrichtung mit Küche und Wohnbereich. Wenn man Glück hat, hat man so eine Hütte auch mal für sich allein. Aus Kostengründen bin ich zuletzt an allen Hütten vorbei gegangen.

    Die Reise wird jetzt doch teurer als geplant. Mein Vater hatte mir, als ich erzählte, Norge på langs dieses Jahre schon angehen zu wollen, auch wenn es knapp kalkuliert sei, eine ganze Menge Geld überwiesen. Dafür bin ich unendlich dankbar. Das Geld wollte ich aber auf keinen Fall anrühren. Mein Ego verlangte, dass ich das aus eigener Kraft schaffen werde, was übrigens immer noch gelingen kann. Aber ich sehe das jetzt etwas lockerer und investiere lieber alle paar Tage in eine trockene Unterkunft, bevor ich jetzt überstürzt abbreche. Ich bin schon 740 Kilometer weit gekommen. Zu Fuß! Da gebe ich jetzt nicht einfach so auf.

    Natürlich kann es sein, dass ich in einer Woche oder in zwei Wochen oder irgendwann abbreche. Dann aber auf mehr Entscheidungsgrundlage als auf den letzten schwierigen Tagen. Aber das konkrete Nachdenken über einen Abbruch hat gut getan. Erst tat es unglaublich weh. Dann hat es geholfen. Ein Abbruch ist jetzt eine legitime Option für mich. Das war es vorher nicht. Aber eben nicht hier und nicht heute.

    Ich telefoniere am Vormittag mit Nicole und es tut gut, die ganzen Gedanken mal laut auszusprechen. Da passiert doch einiges. Und plötzlich empfinde ich nicht nur Optimismus. Ich spüre wieder Vorfreude. Zum Beispiel auf die Nächte in Hütten. Und nun kommen mir auch wieder weitere Punkte in den Sinn, für die sich das Weitergehen lohnt. Der einsame Norden, ein goldener Herbst, Polarlichter. Plötzlich entflammt wieder die Leidenschaft in mir, mit der ich irgendwann in die Planung dieses Projektes gestartet bin. Die ganze zukünftige Reise ist ein sehr zerbrechliches Konstrukt. Es kann so viel schief gehen und vielleicht sitze ich schon in ein paar Tagen im Flugzeug zurück. Vielleicht aber auch nicht.
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