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  • Day 33

    Oskampen - Ruten Fjellstue

    July 2, 2023 in Norway ⋅ ☁️ 11 °C

    Wieder mal habe ich schlecht und wenig geschlafen. Um 5.30 Uhr werde ich wach. Ich muss auf‘s Klo. Dringend. Ich habe Durchfall. Hervorragend. Die Mücken sind auch wieder aktiv. Eine ziemlich entwürdigende Situation. Dann gehe ich wieder ins Zelt und krieche dort in den Schlafsack. Nach zwei Minuten grummelt es wieder im Bauch. Wieder raus! So geht es dann auch noch ein drittes Mal. Dann bleibt es ruhig im Bauch und während der Regen draußen weiter zunimmt, versuche ich noch mal einzuschlafen. Das gelingt mir immer wieder mal mit kurzen Wachphasen dazwischen. Es ist immerhin 09.30 Uhr, als ich die Mütze von den Augen ziehe. Draußen regnet es noch immer. Und überall lauern die Mücken. Das ganze Vorzelt ist voll. Während ich meinen Kaffee trinke, schreibt mir Christel und schickt Fotos vom Nordkap. Sie sind mit dem Camper dort. Von nun an geht es für sie wieder zurück durch Norwegen. Irgendwo auf dem Weg wollen wir uns treffen. Sie haben sogar Bochumer Fiege Pils an Board. Aber auch ohne das Bier würde ich mich freuen, sie zu sehen.

    Als der Regen aufhört, packe ich das Zelt zusammen. Immerhin gehen mich die Mücken beim Zelt abbauen nicht so sehr an wie zuvor. In der Ferne sehe ich schon weitere Regenschauer, die auf mich zukommen. Um kurz vor elf mache ich mich auf den Weg. Keine fünf Minuten später setzt der Regen ein. Das war ein gutes Timing. Die Regensachen hatte ich eh direkt angezogen.

    Ich folge dem Pfad, der stetig bergab Richtung See führt. Viele der Birken hier sind abgestorben. Die Landschaft hier ist eine ganz andere als die der letzten Tage. Alles ist etwas weiter, die Berge fallen flacher ab, sind weiter auseinander und alles wirkt ein wenig sanfter. Der Regen lässt irgendwann wieder nach und ich kann die Kapuze abnehmen. Der Weg führt grob am See entlang, allerdings immer mit 100 oder 200m Abstand. Die sumpfigen Abschnitte nehmen deutlich zu. Teilweise habe ich keine Wahl und muss voll ins Wasser steigen. Nach 1,5 Stunden merke ich die Feuchtigkeit im Schuh. Nach zwei Stunden haben sich die Socken bereits vollgesogen.

    Meine Stimmung ist schwierig. Nicht schlecht gelaunt aber mir fehlt der Antrieb. Mir fällt auf, dass es gerade nichts gibt, auf das ich mich freue. Und ich würde heute auch nicht behaupten, dass ich das Wandern selbst gerade genieße. Es dient heute einfach nur dazu, weiterzukommen. Aber was ist denn gerade mein Ziel? Vinstra? Da kann ich wieder einkaufen und was leckeres essen. Das ist gerade tatsächlich das, was mir am meisten fehlt. Was geiles zu essen. Oder einfach was anderes als Müsliriegel, Nussmischung und Trekkungnahrung. Aber es kann doch nicht mein Ziel sein, immer die nächste Einkaufsmöglichkeit anzuvisieren. Die Zeit hier draußen ist doch die, die ich genießen sollte. In den letzten Tagen merke ich aber zunehmend, dass ich mich vor allem immer auf die nächste Stadt freue, um etwas „Luxus“ wie Brot, Salami, Cola etc. zu haben. Und ein Problem ist, dass es in den Orten mit Einkaufsmöglichkeit keine Campingplätze gibt. Ich müsste also immer ein teures Zimmer buchen wie in Rjukan oder Tyinkrysset. Oft gibt es einige Kilometer vor und nach den Städten keine Möglichkeiten, ein Zelt aufzustellen, weil hier viel besiedelt ist. So geht‘s mir auch mit Vinstra. Ich könnte natürlich so planen, dass ich mittags durch die Stadt komme. Aber ein Campingplatz hier wäre mir lieber. Auch um meine Powerbanks zu laden. Bei dem aktuellen Wetter kann ich mein Solarpanel im Rucksack lassen. Was ist also gerade mein nächstes Ziel, das, auf das ich mich freue?

    Dass ich hierauf keine Antwort finde, drückt die Stimmung. Natürlich wäre es etwas anderes, wenn die Sonne scheinen würde. Heute ist es regnerisch, kühl und teilweise windig. Als ich meine erste Pause machen möchte, sind die scheiß Mücken wieder da. Also geht es gleich weiter. Der Abschnitt, der jetzt kommt, ist ein reines Sumpfgebiet. Meine Schuhe sind hier häufiger unter als über Wasser. Und jetzt sind die Mücken auch wieder aktiv. Warum tue ich mir diese Scheiße an? In beiden Schuhen steht das Wasser. Die Mücken versuchen mich ständig zu stechen. Einige schaffen es immer wieder. Obwohl die Schuhe eh nass sind, muss ich teilweise Umwege laufen, weil ich sonst bis zu den Knien im Wasser stehen würde. Die Frage, warum ich mir das hier „antue“, hab ich mir bis heute schon mehrfach gestellt. Meist immer direkt gefolgt von tollen Erlebnissen. Heute bleibt die Frage im Raum stehen und wird lauter.

    Irgendwann verlasse ich das Sumpfgebiet über eine lange Hängebrücke über einen breiten Fluss. Direkt nach der Brücke mache ich eine Pause. Es dauert nicht lange und die Mücken schwirren wieder herum und landen überall auf mir. Eine Zeit lang halte ich es aus, dann muss ich weiter. Etwas weiter oberhalb vom Fluss scheinen die Mücken nicht mehr so aktiv zu sein. Noch einmal setze ich den Rucksack ab und setze mich auf einen Stein. Ich recherchiere am Handy, wie ich die kommenden zwei Tage plane. Dass es in Vinstra keinen Campingplatz gibt, ist einfach Mist. 6km östlich von Vinstra entdecke ich einen Campingplatz und auch ein Supermarkt wäre in der Nähe. 7 km müsste ich hier zusätzlich laufen. Klingt aber nach einem Plan. Dann fällt mir aber auf, dass genau diese 7 km so viel zu viel sind, dass ich es nicht schaffen werde, morgen dort anzukommen. Es sei denn, ich würde heute noch richtig einen raushauen. Aber ich fühl mich nicht nach Extrakilometern.

    Als ich weiter gehe, habe ich mich immer noch nicht entschlossen, was ich jetzt eigentlich mache. Die nassen Socken und Schuhe nerven mich richtig! Dafür wird der Weg total schön. Es geht herum um einen dieser flach ansteigenden Berge. Nur bodennahe Vegetation und immer wieder ein paar Bäche. Weil ich nicht wieder Pause machen möchte, mir ist noch kalt von der letzten, fülle ich eine Wasserflasche und trinke unterwegs. Obwohl die Aussicht schön ist und ich heute relativ wenig Regen abbekommen habe, bin ich nicht gut drauf. Es gibt mir heute einfach nichts. Und die Frage, worauf ich mich eigentlich freue, arbeitet in meinem Kopf. Ich überlege sogar, gleich hier mein Zelt aufzuschlagen. Aber wofür? Um mich dann den Rest des Tages wieder vor den Mücken im Zelt zu verbarrikadieren?

    Ich gehe weiter und komme langsam immer etwas höher und erreiche irgendwann eine Art Sattel. Von hier aus soll es nun um einiges steiler wieder runter in ein weiteres Tal gehen. Ich mache noch eine Pause, um meine Socken auszuwringen. Das macht hier einfach alles keinen Spaß und die Tatsache, dass diese Ziellosigkeit in mir arbeitet, macht das nicht leichter. Mein linker Fuß macht heute keine Probleme. Mein rechter Fuß hat immer wieder mal leichte Schmerzen an zwei Druckpunkten seit den neuen Schuhen. Bislang aber nie der Rede wert. Am Hauptgelenk des kleinen Zehs ist einer der beiden Druckstellen. Jetzt beim heruntergehen schmerzt die Stelle, als würde mir jemand mit der Nadel da reinstechen. Ich gehe einige Meter bergab und es wird immer schlimmer. Und die Frage schreit mich immer lauter an: Wozu??

    Als ich etwas tiefer komme, stehen zwei fensterlose alte Hütten auf einer Wiese. Vor der einen ist eine Art Bank. Ich krame meine Blasenpflaster aus dem Rucksack. Vielleicht polstern die ein wenig. Während ich mir Schuhe und Socken ausziehe, kommen die Mücken wieder und obwohl ich viele verjage, stechen mich ein paar erfolgreich in die Hände. Ich sehe zu, dass ich schnell fertig werde und gehe weiter. Auf den ersten Metern habe ich das Gefühl, dass es etwas besser ist. Doch kaum geht es weiter bergab, wird es wieder schlimmer. Das schmerzt. Und zwar richtig!

    Zum ersten Mal denke ich ernsthaft darüber nach, das Ganze abzubrechen. Und sofort schießen mir die Tränen in die Augen. Ich bin verzweifelt und habe gerade nur Fragen und keine Antworten. Dass das hier nicht immer einfach wird, war klar. Aber nun gibt es zwei große Argumente, die das Projekt hier in Frage stellen.

    1. Schmerzen: Ich habe keine Lust, schon wieder mit anderen Schuhen zu experimentieren. Das ist auch budgetmäßig nicht drin. Und überhaupt etwas in meiner Größe zu finden, ist schon schwer genug. Warum jetzt dieser scheiss Schmerz? Sind meine Füsse heute plötzlich breiter geworden oder warum gibt es jetzt nach 8 Tagen plötzlich Druckstellen?

    2. Worauf freue ich mich?: Wenn ich morgens aufstehe und nur die Kilometer sehe, die ich laufen muss. Wofür mache ich das dann? Bei dem kalten und nassen Wetter machen mir die Pausen keinen Spaß.

    Ich bin richtig fertig und der Gedanke an einen Abbruch bringt mich immer wieder zum weinen. Ich war mir so sicher, dass das hier mein Ding ist. Ich fühle mich jetzt schon gescheitert. Da sind sie wieder. Diese großen Zweifel an allem, was ich tue. Das Gefühl, nichts richtig zu können. Beruflich wie privat. Ich hasse diese Zweifel. Aber ich bekomme sie nicht los. Mit dieser Reise wollte ich mir vielleicht selbst beweisen, dass es einen Bereich gibt, wo ich es drauf habe. Hier draußen in der Natur klarzukommen. Auf mich allein gestellt.

    Ich versuche, auch sachlich die ganze Situation zu analysieren. Mir fehlt definitiv Schlaf. Die Nächte im Zelt bei der Helligkeit machen mir das Leben nicht leichter. Ich bin übermüdet den ganzen Tag in nassen Schuhen unterwegs. Als dann noch die Schmerzen im Fuß dazu kommen, ist das Fass übergelaufen. Ich sollte heute nicht vorschnell eine Entscheidung fällen.

    Während ich weiter den Berg absteige schaue ich noch einmal auf die Karte. Im Tal ist eines dieser Fjellhotels. Eigentlich müsste ich auf der gegenüberliegenden Seite heute noch mindestens 5 km machen. Aber mit den Schmerzen im Fuß und meinem mentalen Zustand macht das keinen Sinn. Knapp 90 EUR kostet die Nacht hier. Ich will hier auf jeden Fall nach einem Zimmer fragen. Ich muss mich sortieren. Ich kann mir aber nicht alle 5 Nächte ein Hotel gönnen. Nicht einmal alle 10 Nächte. Ich bin eh schon über’s Budget. Wo soll das also hinführen?

    Auf dem Weg zum Hotel schicke ich Nicole noch eine Sprachnachricht. Allein auszusprechen, dass ich an einen Abbruch denke, verschlägt mir die Sprache. Im Hotel gibt es noch ein freies Zimmer. Ich dusche erst einmal und habe mich dann weitestgehend gefangen. Nun muss ich mich mit ein paar Fragen beschäftigen:
    Tue ich mir einen Gefallen, wenn ich das weiter so „durchziehe“? Was kann ich für meinen Fuß tun? Kann ich die Wanderung fortsetzen, ohne alle paar Tage eine feste Unterkunft zu haben? Was war meine ursprüngliche Motivation, das hier zu machen? Mache ich gegebenenfalls nur weiter, um nicht „versagt“ zu haben? Scheue ich den Aufwand? Habe ich mir das zu leicht vorgestellt? Wieviel Unannehmlichkeiten muss ich in Kauf nehmen?
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