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  • E1-010-D-Buchholz (35 km)

    23 août 2014, Allemagne ⋅ ⛅ 16 °C

    Wanderflow

    Von nun an geht es in den Süden. Es ist die Richtung, die ich ab jetzt einschlagen werde, bis irgendwann der Bodensee erreicht ist. Wie schon einmal zu Beginn der Wanderung starte ich diese Tour fast direkt vor der eigenen Haustür.
    Noch vor acht Uhr stehe ich an den Hamburger Landungsbrücken. Kurz darauf finde ich mich am Bug einer HVV–Fähre der Linie 62 wieder, um mich auf einer kleinen Hafenrundfahrt auf die andere Elbseite bringen zu lassen. Grau liegt der breite Strom vor mir, der Hafen ist so früh am Morgen in milchige Farben getaucht. Der Fahrtwind pustet mich ordentlich durch. Es ist kalt. In schneller Fahrt steuert die Fähre die Docklands an. Hier liegt gerade die aus der Fernsehsehserie "Traumschiff" bekannte MS Deutschland. Im Vergleich zu den AIDA-Kreuzfahrtschiffen, die sonst hier festmachen, ist sie eher klein. Auf der anderen Seite sind die Kräne schon bei der Arbeit, entladen einen riesigen Frachter. Die Geschwindigkeit und Präzision, mit der die Kräne die Container von Bord holen, beeindruckt mich.
    In Finkenwerder gehe ich von Bord, es ist zwanzig vor neun. Mir ist saukalt, weil ich zu lange im Fahrtwind am Bug gestanden habe. Kurz denke ich an mein kuscheliges Bett, in dem ich liegen könnte, würde ich jetzt nicht wandern. Doch ich bin neugierig auf das, was der heutige Wandertag für mich bereit hält. Jeder der bisherigen Wandertage war einzigartig. Das Wandern bleibt spannend. Aber das erfährt nur, wer sein warmes Bett verlässt.
    Ich folge auf dem Aue-Hausdeich dem Lauf des Kohlfleets. Auf der anderen Uferseite arbeiten die Kräne weiterhin unermüdlich. Von hier gleichen sie riesigen Dinosauriern, die sich gespenstisch im Dunst bewegen.
    Zwei Angler halten ihre Ruten in den Fleet. Während sie sich für das graue Wasser interessieren, geht mein Blick nach oben in den Himmel, wo sich die Sonne durch das Grau kämpft. Wäre doch schön, wenn der Tag so sonnig werden würde, wie vorhergesagt.
    Ich freue mich, wieder unterwegs zu sein. Dreißig Kilometer liegen heute vor mir. Beim Gehen wird mir auch schnell wieder warm. Das Landschaftsbild ändert sich. Eben noch der Hafen, jetzt große Apfelbaumplantagen. Hier beginnt das Alte Land.
    Vorbei geht es an Hunderten -nein - Tausenden von identisch aussehenden Apfelbäumen, in scheinbar endlosen Reihen gepflanzt. Jeder Baum an einen Stab gefesselt, der den dürren Baumstamm vorm Umknicken bewahrt. Unter der Last seiner roten Früchte haben die Bäumchen schwer zu tragen. Hier werden Äpfel im industriellen Stil produziert, das Endprodukt sieht zwar rot und saftig aus, aber nicht sehr natürlich. Ich habe einen ähnlich aussehenden Apfel im Rucksack, der vielleicht von hier stammt. Jetzt, wo ich die angepflockten Apfelbäume sehe, fühle ich mich schuldig, ihn gekauft zu haben und somit den Sklavenmarkt für Apfelbäume unterstützt zu haben.
    Das Bild wandelt sich. Nun führt der Weg mitten durch eine Kleingartensiedlung. Hier sind es Gartenhäuschen, die in Reih und Glied stehen. Alles ist sauber, aufgeräumt und adrett. Die Hecken sind niedrig gehalten, man kann in die Gärten sehen und nichts bleibt verborgen.
    Am Kretorfteich biege ich scharf links ab und für mich unerwartet tauche ich wieder in urbanes Gebiet. Hier beginnt Hausbruch, der Harburger Stadtteil im Südwesten von Hamburg.
    Auch hier ist alles in Reih und Glied wohl geordnet, nur sind es jetzt Hochhäuser.
    In den sechziger Jahren entstand die Siedlung Neuwiedenthal, damals als bahnbrechendes Wohnkonzept gefeiert. Für mich sieht es zu geplant aus, nichts ist gewachsen. Immerhin folgt der Weg einem Grünstreifen zwischen den hohen Häusern.
    „Zeit für eine Pause“, denke ich, „ein Kaffee wäre jetzt gut“. Wie bestellt tut sich da ein kleines Einkaufszentrum auf, wo ich finde, was ich suche. Mit einem Kaffee in der Hand setze ich mich, das Treiben um mich herum beobachtend. Ein paar Rentner sitzen am Nebentisch und schlagen sich lautstark die Zeit bei einem Kaffee tot.
    Bald bin ich wieder unterwegs. Laut Komoot muss ich jetzt den Opferberg hinauf. Es wird steil. „Hoffentlich bin nicht ich das Opfer“, denke ich im Scherz, während ich schon ins Schwitzen komme. Tatsächlich endet der Weg vor einem geschlossenen Tor. Hier geht es nicht weiter, ich habe wohl den falschen Weg eingeschlagen. Also zurück. Fünfzig Meter weiter finde ich den richtigen Weg. Wieder geht es steil hinauf, nun ist es auch der richtige Opferberg, der mich ins Schnaufen bringt. Siebzig Meter ist er hoch. Oben gibt ein Schild Auskunft, dass hier das Naturschutzgebiet Fischbeker Heide beginnt. Die 773 Hektar große Heide- und Waldlandschaft ist nach der Lüneburger Heide die zweitgrößte Kulturlandschaft in Deutschland.
    Die Großstadt weicht dem Heidewald, durch den es nun rauf und runter geht. Mein Herz schlägt mir von der Anstrengung bis zum Hals. Die Großstadt bleibt zurück, ihr Lärm macht der Ruhe, die über der Heide liegt, Platz. Auf einer Wiese liegt ein schlafender Wanderer.
    Während ich strakst nach Süden strebe, macht der E1 weiter westlich einen Schlenker durch das Alte Land. Den Umweg wollte ich vermeiden. In Tempelberg treffe ich nun wieder auf die erste Wegmarke südlich der Elbe, die ich wie einen alten Freund begrüße.
    Kurz darauf gesellt sich an einem Baum eine weitere Wegmarke hinzu. Ein weißes [ H ] auf schwarzem Grund markiert den Heidschnuckenweg, der die schönsten Heideland­schaften der Nord- und Südheide miteinander verbindet und von Hamburg nach Celle führt. Bis Buchholz wird er mich begleiten.
    Der Weg verläuft auf geraden Asphaltwegen durch den Heidewald, er bedarf meiner Beachtung nicht. Ich schreite einfach, ohne hinzusehen, fühle mich ganz für mich. In mir breitet sich eine friedvolle Stimmung aus. Ich bin ganz ruhig und zufrieden, setze Schritt vor Schritt und komme allmählich in einen Wanderflow. Bis in der Ferne eine Sirene aufheult und die Ruhe zerfetzt. Die Vorstellung von Einsamkeit war von kurzer Dauer, noch bin ich der Zivilisation sehr nah.
    Mit 6 km/h gehe ich schnell für meine Verhältnisse, aber heute fühlt es sich gut an.
    Der Wald ist licht und die Sonne blinzelt durch das Fichtengrün. Alle 50 Meter weist mir ein frisch an einen Baum gepinseltes weißes Kreuz oder ein weißes H den Weg auf dem E1 bzw.. Heidschuckenweg. Der hier zuständige Wegewart hat ausgezeichnete Arbeit geleistet, so macht das Wandern Freude. Die Seele kann sich baumeln lassen, während der Körper ausschreitet. Und der Geist hat Pause.
    Ein paar Kilometer weiter wird der Weg sandig und weich, später geht es über Stock und Stein. Knorrige Wurzeln schlängeln sich über den Pfad, erfordern volle Konzentration. Das Gehen wird beschwerlicher, der Wanderflow ist dahin.
    Zwei Mountainbiker kommen mir auf ihren Rennmaschinen entgegen. Sie radeln wie die Teufel, den Blick stur nach unten gerichtet. Es geht ihnen offenbar mehr ums Tempo als um die Schönheit des Waldes, der anscheinend nur ihre Arena darstellt. Sie unterhalten sich lautstark über die Vorzüge ihrer Räder und nehmen die Stille des Waldes vermutlich nicht wahr. Mich stören sie sehr, zum Glück sind sie schnell vorbei.
    Zwanzig Kilometer bin ich nun schon gelaufen, es ist Zeit für eine Pause. Da steht wie bestellt an einer Weggabelung eine Bank, auf der ich mich lang mache und einschlafe, bis ich recht unsanft von lauten Stimmen geweckt werde. Vier Radlern mittleren Alters palavern direkt vor meiner Bank über ihre tollen Leistungen, wie schnell sie heute seien und wie schön ihre Räder funktionieren. Schicke Outfits haben sie ja an, aber das sie meinen Schlaf gestört haben, haben sie nicht bemerkt. Auch meinen Gruß erwidert sie nicht. Es ist, als sei ich Luft für sie. Ich bin sauer und gehe ohne weitere Worte.
    Der Waldweg ist von Baumwurzeln übersät, es geht rauf und runter. Das Wandern wird beschwerlich. Ich erinnere mich an eine energetische Fingerübung, die in Momenten, in denen Energie gebraucht wird, immer hilft:
    <<Im Takt der Laufbewegung berühren sich Daumen und Zeigefinger, dann ticken nacheinander Mittel-, Ring und kleiner Finger an den Daumen. Beide Hände vollziehen diese Bewegung gleichzeitig. Immer wieder von vorne, immer im Takt der Beine. So kehren Kraft und Energie zurück. Es funktioniert immer, koordiniert die Bewegung, lässt den Atem ruhiger werden und die Gedanken sammeln.>>
    Diese Übung mache ich mehr als 10 Minuten lang und komme allmählich wieder in den Wanderflow.
    Da holen die vier Biker auf. Sie unterhalten sich immer noch lautstark, zerstören meinen Waldfrieden. Ich springe zur Seite, lasse sie passieren, warte auf einen Dank, der aber nicht kommt. Während ich noch lange ihre lauten, aufgeregten Stimmen ertragen muss, werden sie für mich zu einem Symbol unserer modernen Zivilisationsgesellschaft, die so viel Hektik und Lärm produziert und mehr nimmt als gibt. Ich selbst fühle mich nur ungern als Teil davon, doch kann ich mich auch nicht völlig davon frei sprechen.
    Weiter geht es auf schnurgeraden, ebenen Wegen. Die Füße fliegen, der Blick ist ins Nichts gerichtet. Wenn es so läuft, ist das Wandern eine Pracht. Kein Vogelgezwitscher, überhaupt keine Geräusche gibt es hier. Im Wald ist es absolut still. Nur die eigenen Schritte knirschen im Takt am Boden. Da ist es wieder, das Gefühl des meditativen Wanderns, die Augen kann ich fast schließen beim Gehen. Nur wenn es bergauf geht, verliert sich der Flow, wegen der Anstrengung wird dann der Körper wieder spürbar. Geht es bergab, kehrt der Flow zurück, der Körper schiebt, wandert wie von allein, alles ist leicht. Weicht einmal der Schatten der Bäume einer Lichtung, spüre ich die Kraft der warmen Augustsonne. Auch wenn der Sommer bald vorüber ist, spielt er jetzt noch einmal einen Joker aus. Heute ist einer dieser typischen norddeutschen Spätsommertage, die so ideal zum Wandern sind.
    Kurz darauf kehren die Zeichen der Zivilisation zurück. Zuerst in Form einer Überland-Hochspannungsleitung, die dem Wald in breiter Scheise eine Wunde schlägt. In der Ferne rauscht eine Autobahn. Als ich schließlich auf der Autobahnbrücke stehe, ist der Lärm schier unerträglich. Auf breiter Trasse rasen in einem nicht abreißenden Strom die Autos vorbei, in jedem sitzen Menschen, die vielleicht ihre Fahrt genießen und nicht ahnen, was für einen Lärm ihr Auto produziert und in welchem Maße sie der Natur schaden. Ich stehe hier oben und begreife nicht, warum wir Menschen es bisher nicht geschafft haben, Automobile leiser zu bauen.
    Dann ist der Heidewald zu Ende, mir reicht es für heute auch. Er öffnet sich einer Wiese, die mit roter Heide prachtvoll überzogen ist. Die Heideblüte wirkt wie ein roter Teppich, der am Horizont den blauen Himmel küsst.
    Noch sind es sechs Kilometer bis Buchholz, als sich das Himmelsblau blitzartig in eine dunkle Regenwand verwandelt, die schnell von Nordwesten heran zieht. Sie folgt mir schneller, als ich laufen kann. Werde ich am Ende noch nass?
    Doch ich habe Glück, die Wolke zieht über mir hinweg, ohne sich abzuregnen.
    An einer Bank halte ich inne. Während ich sitze, mache ich mal einen Körpercheck:
    <<Ich fange unten an: der linke Fuß, den ich mir vor Wochen umgeknickt hatte, schmerzt ein wenig. Zwei Wanderungen ging es gut, doch jetzt kommt ein leichter Schmerz zurück. Dem anderen Fuß geht es gut. Bisher keine einzige Blase. Die alten Wanderschuhe sind immer noch gut. Leider laufen sich die Sohlen ab, im nächsten Jahr werde ich Neue brauchen. Die Beine funktionieren prächtig, keine Klagen von dort. Die Leistengegend tut etwas weh, aber es ist auszuhalten. Stretching würde vielleicht helfen. Der Hintern hält sich gut, keine Klagen von dort. Der unterer Lendenwirbel tut, wo der Rucksack aufsetzt, weh. Der Schmerz ist mir vertraut und ich hoffe, dass es im Verlauf der weiteren Wanderungen nicht mehr wird. Schultern, Hals und Kopf verhalten sich klaglos. Mit meinen fast 55 Jahren fühle ich mich fit und fürs Wandern ausreichend trainiert. Ich habe meine Distanzen, in denen ich mich wohlfühle, von 20 auf 30 Kilometer ausdehnen können. Ein ansehnlicher Anfangserfolg, wie ich finde. Nur die Muße ist durch die längeren Distanzen etwas zu kurz gekommen. Manchmal fühle ich mich in Eile.>>
    Mit mir zufrieden gehe ich weiter.
    Und nun sind wieder die letzten Kilometer bis zum Bahnhof da. Diese Kilometer, die nicht enden wollen. Die Strecke, wo Wanderlust den Knochen entweicht und die Freude des Ankommens überwiegt. Genau dort sollte immer ein Café auf den Wanderer warten. Auch heute habe ich Glück. Bei Kaffee und einem ordentlichen Stück Kuchen entspanne ich mich vor der Rückfahrt.
    Nach der Stärkung sind es nur noch wenige Meter bis zum Bahnhof. Der Zug steht schon bereit, doch ich habe noch kein Ticket. Während ich es aus dem Automaten ziehe, fährt der Zug los. Ich schaue ihm nach, wie er sich Richtung Hamburg in Bewegung setzt. Jetzt muss ich auf den Nächsten warten. Etwas verschnupft setze ich mich, das Ticket in der Hand. Am Himmel wird es dunkel, wieder zieht eine dunkle Regenwolke auf, sie türmt sich geradezu bedrohlich über dem Bahnhof auf. Ganz allmählich wird sie groß und größer, wächst zu einem richtigen Ungetüm heran. Bevor das Unwetter losbricht, sitze ich im nächsten Zug zurück nach Hamburg.
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