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- Monday, June 8, 2015
- ⛅ 18 °C
- Altitude: 143 m
GermanySteinheim51°52’2” N 9°5’56” E
E1-20-D-Steinheim (30km)

Viel Muße auf dem Weg zur Quelle - Der Emmerweg (2/3)
Bad Pyrmont war früh bekannt, bereits 1556 sollen Menschen aus ganz Europa hier her gekommen sein, um durch wundertätige Quellen Heilung zu finden. Von diesen Quellen profitiert die Stadt noch heute, viele mondäne Gebäude belegen dies. Auch das Glücksspiel hat zum Ruf der Stadt beigetragen.
Wenn man schon in Bad Pyrmont ist, dann muss man es sich auch ansehen. Deshalb habe ich mein Frühstück für acht Uhr bestellt.
"Geht auch acht Uhr fünfzehn? Da kommen dann auch die anderen Gäste", fragt der Wirt. Ja, das geht auch. Zu dritt im Frühstücksraum nehmen wir ein gutes Frühstück zu uns.
Die Brunnenstraße, durch die ich nun zum zweiten Mal gehe, ist heute morgen wesentlich belebter als gestern Abend. Für eine Stunde bin ich Tourist, besuche den Brunnenplatz, das Goethehaus, das altehrwürdige Hotel Fürstenhof, flaniere am großen Hotel Steigenberger vorbei, sehe das alte Staatsbad von außen, gehe die Allee der Heiligenangerstraße entlang. Den Kurpark und den Palmengarten lasse ich aus, denn es kostet 4€ Eintritt ohne Kurkarte, sagt der Mann am Schalter. Es soll einer der Schönsten Deutschlands sein und wäre sicherlich den Besuch wert.
Dann treibt es mich die Schlossstraße entlang, Richtung Schloss und Festung. Vor der Brücke, die über den Schlossgraben führt, bleibe ich fasziniert stehen, blicke nach oben zum Schloss. Es ist ein wundersamer Anblick: unten die Mauer der Festung, umgeben von einem Burggraben, darüber das prunkvolle Schloss. Es wurde 1536 als Sommerresidenz des Grafen von Spiegelberg erbaut. Nach hundert friedlichen Jahren war es im dreißigjährigen Krieg Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen, in dessen Verlauf es fast vollständig zerstört wurde. 1710, also erst viele Jahre später, war ein neues Schloss fertiggestellt. Stetig wurde daran gebaut, verändert und ergänzt, bis es ab 1855 sein heutiges Aussehen behielt. Die Symbiose aus Burg und Schloss begeistert mich. Hier die wehrhafte Kraft der Festungsmauern, die dem Feind trotzt, dort die leichte Eleganz eines Schlosses, das sich öffnet und einlädt zu rauschenden Festen. So flitze ich hin und her, laufe auf Burgmauern entlang, schaue durch Schießscharten auf die Stadt, tauche ein in die Tiefen der Festungskasematten, kann sogar die Soldaten in ihren Rüstungen erahnen, wie sie in dunklen, aber schützenden Gewölben gegen den Artilleriebeschuss der feindlichen Truppen ausharren. Zehn Monate trotzten sie und mussten doch am Ende aufgeben.
Schließlich gehe ich – widerstrebend - weiter.
Südlich von Bad Pyrmont verlasse ich Niedersachsen und betrete das dritte Bundesland meiner Wanderung: Nordrhein-Westfalen.
Der Ort Lügde grüßt den Wanderer auf seiner Ostseite mit einem hässlich ausschauenden Gewerbebetrieb. Die Idylle eines am Wegesrand liegenden Bauernhofes mit freilaufenden Hühner, die neugierig gackernd heran wackeln und mir zwischen die Beine geraten, können darüber nicht hinwegtäuschen. Wenn sich ein Ort dermaßen von seiner schlechten Seite präsentiert, will der Wanderer ihn auf der anderen Seite, sofern er denn durch den Ort muss, schnell wieder verlassen. Lüdge allerdings kann mit einem so schönen alten Ortskern auftrumpfen, das der Ortseingang schnell vergessen ist. Auch können sich die 10.000 Einwohner mehreren Kirchen erfreuen, was ein Ort dieser Größe nicht vermuten läßt. Ich steuere die katholischen Pfarrkirche Stankt Marien an und mache in der Kühle des großen Gotteshauses Rast. Ich sitze auf einer Bank des Mittelschiffs, wende den Kopf hierhin und dorthin, betrachte die neugotische Architektur, die das hohe Kirchenschiff formt. Dann ruht mein Blick auf dem einen riesigen, bunten Bleikristallfenster, das über dem Hauptaltar thront. Jedes Detail ist mir wichtig. Lange sitze ich. Ich liebe Augenblicke wie diese in der Stille einer Kirche, die mir so ruhevolle Muße schenkt. Endlich erhebe ich mich zu einem Rundgang, der mich zu einer Schnitzfigur führt. Ihr Anblick fesselt mich. Ein alter, bärtiger Mann sitzt im Zentrum, scheinbar erschöpft, vielleicht schon tot. Gehalten wird er von einem jüngeren Mann, vermutlich ist es Jesus, der ihn mit dem linken Arm stützt. Dabei beugt er sich schützend über den Alten, hält seine rechte Hand hoch, zwei Finger gestreckt, um ihn zu segnen. Er schaut dem Alten dabei direkt in die brechenden Augen. Dieser hat beide Hände wie zum Empfang des Segens geöffnet, die Rechte ist erschlafft niedergesunken, die Linke hingegen wird von der Hand einer Frau, vielleicht Maria, gestützt. Sie zeigt mit dem Finger der anderen Hand auf den Segnenden und schaut ihn dabei an. Sehr lange stehe ich vor der hölzernen Schnitzarbeit in Lebensgröße, muss immerzu zu ihr auf aufsehen. Was ist es, was mich an dieser Skulptur so in den Bann zieht? Es lässt mir keine Ruhe und so suche ich später im Internet, finde zunächst nur, dass der Namen der Skulptur lautet: „Tod des heiligen Josef von Mormann“. Wer ist das, frage ich mich? Ich bin nicht bibelfest. Später komme ich drauf, dass es Joseph von Nazareth sein muss, der Ehemann von Maria und damit der gesetzliche Vater von Jesus. Damit wird es mit klar: die beiden Figuren links und rechts sind Jesus und Maria, die um ihren toten Vater und Ehemann trauern. So kann ich im Nachhinein diese Wissenslücke noch schließen, dem Internet und Wikipedia sei Dank.
Schließlich verlasse ich die Kirche und bald auch die kleine Stadt auf ihrer Südseite, gehe vorbei an der noch völlig intakten Stadtmauer. Dahinter liegt der Wallgraben, beides soll schon im 12. Jahrhundert entstanden sein. Ich wundere mich über die geringe Höhe der Mauer, mit der offenbar Barbaren abgehalten werden konnten, die Stadt zu erobern.
Kurz hinter Lüdge kreuze ich wieder einmal den Emmer, von dem ich auch heute bislang wenig zu sehen bekam. Es geht eine schmale Straße hinauf, vorbei an einem kleinen Café mit dem lustigen Namen Ponderosa. Erinnerungen an meine Kindheit flackern auf. Vor dem geistigen Auge erscheinen Bilder aus der alten US-Serie Bonanza, die meine Kindheit begleitete. Immer sonntags war Fernsehzeit, keine Serie wurde ausgelassen, wenn die Cartwrights über die Prärie ritten. Ben, Adam, Little Joe und der dicke Hoss. Die Assoziation ist wohl gewollt, denn Pferde laufen auch hier auf der Koppel. Aber anstelle der Cowboys ist es hier ein Mädchen, dass einem glänzenden Rappen die Hinterläufe striegelt. Das kräftige, pechschwarze Tier genießt die Behandlung anscheinend sehr, denn es hält ganz still. Ich schaue ein wenig neidisch herüber. Meine Waden könnten eine Massage auch gebrauchen.
Ganz allmählich verliert sich der Weg in den Höhen. Der Straßenlärm, der vom Tal herauf schallt, verfliegt nach und nach, verstummt schließlich ganz. Vogelgezwitscher tritt an seine Stelle. In Stereo. Ein Vogel zwitschert links, ein anderer antwortet von rechts. Ein endloser Kanon aus vielen Vogelkehlen lullt mich ein, erzeugt die meditative Ruhe, die der Wanderer sucht. Die Füße finden wieder ihren Weg von ganz alleine. Geschenkte Zeit, um Gedanken nachzuhängen. Sie kommen und gehen, verlieren sich in Zeit und Raum, verblassen, um zurück zu kehren, bringen neue Impulse mit, die gleich darauf schon wieder vergessen sind. Unmöglich, sie jetzt - im Nachhinein – wieder aufzuspüren. Aber sie wirken im Unterbewusstsein, dessen bin ich gewiss.
Mein Weg führt am Schieder See vorbei, der Emmer wird zum Stausee, der hier Ende der 1970er Jahre angelegt wurde, um die Altstadt von Lüdge vor dem Hochwasser der Emmer zu schützen, was wohl gelang. Neben der Schutzfunktion hat sich im Laufe der Zeit ein Naherholungsgebiet entwickelt. Aber davon sehe ich nichts, denn ich gehe auf der nördlichen und damit vermutlich falschen Seite den Sees entlang. Doch der Emmerweg will es so. Die südliche Seite wäre die Bessere gewesen, denn dort reicht der Wald bis zum See. Ich aber bleibe durch eine vorbeilaufende Bahntrasse getrennt vom Ufer des Sees, das eh steinig und nicht einladend ausschaut. So bleibt die extra mitgenommene Badehose im Rucksack. Eine Abkühlung wäre mir willkommen gewesen, denn es ist heiß geworden, Schweißperlen kullern von meiner Stirn. Die Sonne scheint aus klaren Blau, nur vereinzelt sind weiße Tupfer in den Himmel gemeißelt. Nach drei Kilometern ist der See zu Ende. Wieder überquere ich den Emmer und nun auch die Bahnschienen, gelange in den Kurpark von Schiede. Der Weg führt zum Schloss Schieder hinauf, das erst im 18. Jahrhundert im Klassizismus-Stil Bau errichtetet wurde. Es ist klein, schlicht und anmutig. Auf der Rückseite wird die Terrasse für das Kuchengeschäft klargemacht, Sonnenschirme werden aufgespannt und Stühle zurecht gerückt. Es ist fünfzehn Uhr. Kaffeezeit! Aber ich lasse mich nicht locken, kaufe mir stattdessen eine Banane und einen Apfel im nahegelegenen Supermarkt.
Zurück im Wald geht es an Bäumen vorbei, die milden Schatten spenden. Ich erklimme eine Anhöhe. Dort endet der Wald. Ich folge nun einem mit Gras bewachsenen Feldweg, schön frisch gemäht. Zum ersten Mal frage ich mich, wer wohl alle diese wunderbaren Wanderwege, die ich bereits gegangen bin, so herrlich in Ordnung hält. Warum frage ich es mich gerade jetzt? Vielleicht, weil die Antwort geradewegs vor mir steht! In Gestalt eines älterer Herrn im roten Sweatshirt, zünftig gekleidet mit Wanderhose und –stiefeln. Über die Straße gebeugt, sieht er mich nicht kommen. In der einen Hand hält er eine Spraydose, in der anderen Hand einen Besen. Er wirkt sehr beschäftigt, kehrt mit dem Besen erst den Boden, um danach einen weißen Pfeil auf die Straße zu sprayen. Ich bleibe eine Weile vor ihm stehen, bis er mich schließlich bemerkt. Da kommt er aus gebückter Haltung hoch, schaut mich verwundert an.
„Die Wege hier sind alle so gut in Ordnung und frisch gemäht. Wissen Sie, wer das hier so macht?“, frage ich einfach so drauflos.
„Ich“, sagt er. „Ich bin hier der Wegewart.“
Damit hatte ich nicht gerechnet. Kaum stelle ich mir die Frage, schon erhalte ich die Antwort.
„Im Moment zeichne ich allerdings den Weg für den Volkslauf aus.“
Daraufhin erzähle ich ihm, dass ich aus Hamburg komme und im April dort den Marathon gelaufen bin. „Da war ich auch, aber nur als Zuschauer“, erwidert er, „ich habe meine Tochter besucht, die wohnt auch da.“ Nach einer kleinen Plauderei verabschiede ich mich, nicht ohne mich zu bedanken für seine Mühen als Wegewart.
„Viel Glück auf dem weiteren Weg und dass Sie heil in Konstanz ankommen mögen“, ruft er mir noch nach.
Einen Hügel weiter wechselt der Weg auf einen Bergwanderweg. Es wird schmal und immer schmaler, das Gras wächst wild und immer wilder. Ich denke nur: Zeckenalarm! Die Angst vor Borreliose keimt kurz auf. So lasse ich trotz der Hitze die aufgekrempelten Hosenbeine herunter, die Hose bedeckt jetzt die nackten Beine. Schwitzen ist besser als Zeckenbiss! Der Weg führt hinauf, vorbei an einsam liegenden Feldern, rote Mohntupfer ragen aus dem satten Grün des reifenden Getreides. Dann plötzlich ist endgültig Schluss mit dem Emmerweg; er wird unpassierbar. Hier ist bestimmt nicht der nette Wegewart von vorhin zuständig, oder doch? Ich weiche auf eine Wiese aus, kein Zaun verhindert den Zugang. Hier ist schon jemand vor mir gegangen. Ich folge den Spuren, die sich durch die Wiese ziehen. Es geht durch kniehohes Gras, reife Samen streifen meine Hosenbeine. In der Ferne schimmern die Halme rötlich, während sie sich im leichten Sommerwind wiegen. Viele hundert Meter geht es über die Wiese eine Anhöhe hinauf. Oben angekommen, ist Steinheim in Sicht. Die Wiese wird von einem Zaun begrenzt, auf dessen anderen Seite der Weg liegt, hier wieder wunderbar gemäht und gut begehbar. Ich schmeiße den Rucksack über den Stacheldraht. Nein, so war es nicht! Ich lege ihn vorsichtig auf der anderen Seite ab und steige sehr vorsichtig über die Stacheln. Endlich bin ich zurück auf dem offiziellen Emmerweg, der nun weiter an der Wiese entlang führt. Er macht eine Biegung nach links, führt durch ein kleines Wäldchen, macht noch eine Biegung nach rechts und - da ist ein Gatter zur Wiese. Es ist offen. Das Klettern über den gefährlichen Stacheldrahtzaun wäre unnötig gewesen, wenn ich mehr Geduld gehabt hätte. Offenbar war der zuständige Wegewart der Meinung, dem Wanderer eine neue Erkenntnis zu verschaffen: "Sei nicht voreilig“.
Danke, lieber Wegewart.
Es ist nun nicht mehr weit bis nach Steinheim. Nur noch einen Hügel hinab, dann durch den Ort ins Zentrum. Am Bahnhof liegt mein Hotel für die heutige Nacht. Es wirbt mit dem Slogan: "Wir wollen, dass Sie sich wohlfühlen und mit hohem Komfort zu angenehmen Preisen Steinheim genießen“.
Das hat mir gefallen, als ich vor der Wanderung nach einer Unterkunft suchte. Nun stehe ich in einer leeren Bahnhofshalle. Ein Automat übernimmt den Check-In Vorgang - ganz vollautomatisch. Ich hätte lieber einem Menschen in die Augen geschaut und zusammen mit dem Zimmerschlüssel ein paar nette Willkommensworte entgegen genommen. Schließlich bin ich von weit her bis hierher gewandert. Aber die Zeiten ändern sich und ich hätte mir auch ein anderes Hotel aussuchen können. Der Automat bekommt es hin, in wenigen Augenblicken halte ich meine Plastikkarte für das Hotelzimmer in der Hand. Das „Sesam öffne dich“ zu meinem schicken, modernen und tatsächlich komfortablen Hotelzimmer für die Nacht.
Steinheim am Montagabend muss man sich so vorstellen:
Montag ist Ruhetag. Das bedeutet, alle Geschäfte, sämtliche Restaurants und wirklich alle Kneipen haben geschlossen. Man begegnet keinem Menschen, die Straßen sind wie leer gefegt. Die Steinheimer haben sich offenbar abgesprochen, wollen hungrige Wanderer wie mich aus der Stadt vertreiben. Alle Steinheimer? Nein! Denn da gibt es die eine Bar, die offen hat. Es ist die Cosmo:Lounge, die sich mir hungrigen Wanderer erbarmt. Dazu auch der Stadtjugend, die sonst keinen Platz findet in dieser Stadt. Ein Tisch ist noch frei, ich setzte mich, umgeben von Jungs und Mädels, die an ihrer Cola saugen. Ich bestelle ein feinsüffiges Krombacher Pils, es kommt in einem richtig großen Glas. Dazu gesellt sich eine Pizza Tonno. Sie ist lecker, heiß und knusprig. Während ich esse, ruht mein Blick auf der ultramodernen Bar, der gläserne Tresen tränkt sich in Blau, dann folgt Weiß, Rot und Pink. Das Farbenspiel folgt einem festen Rhythmus. Ich nutze das kostenlose WLAN, um ein paar Nachrichten über das vielseitig einsetzbare Smartphone in die Welt zu pusten. Das lenkt ab von dem unerhörten Lärmpegel des aus jungen Kehlen entstammenden Stimmengewirrs.
Es wird spät an diesem Montag in Steinheim und deshalb höre ich in der Nacht keinen vorbeifahrenden Zug, obwohl das Fenster wegen der Wärme weit geöffnet ist.Read more