• E1-21-D-Altenbeken (31km)

    9 июня 2015 г., Германия ⋅ ⛅ 14 °C

    Viel Muße auf dem Weg zur Quelle - Der Emmerweg (3/3)

    Das Automaten-Hotel in Steinheim bietet ein kleines Frühstücksbuffet im Kiosk der Bahnhofshalle an. Danach endet der Hotelaufenthalt so unpersönlich, wie er begonnen hat. Die Plastikkarte, mein Schlüssel zum Hotelzimmer, verschwindet beim Verlassen des Hotels im Briefkasten. Kein Auf-Wieder-Sehen, kein aufmunterndes Wort für den Weg. Davon abgesehen hat es mir hier gefallen. Es ist ein gutes Nutzungskonzept für sonst sterbende Bahnhöfe.
    Der Weg begleitet nun den Flusslauf des Emmer, rechts und links liegen Felder, die zum Horizont reichen, wo eine Baumreihe mit dem Himmel verschmilzt. Dunkle Wolken in allerlei Grau saugen Wasser aus ihnen, stillen ihren Durst, werden allmählich satt, wandern weiter und werden ihre Last sicher irgendwo wieder los werden wollen. Aber noch saugen sie. Es ist trocken. Ich komme zügig voran. Nach zehn Kilometer erreiche ich Nieheim, der Weg mündet auf eine Straße, die in die Innenstadt führt. Bunte Vorgärten schmücken den Weg. Gelegentlich ist auch ein Gemüsegarten dazwischen. In einem von ihnen hackt ein altes Weib in gebückter Haltung Unkraut aus dem Kohlrabi. Für mich als Großstädter ein bemerkenswertes Bild.
    Im Zentrum lädt Sankt Nikolaus, eine große Kirche, zum Verweilen ein. Wieder ein Ort, der mir Ruhe bietet. Offenbar ziehen Kirchen mich an. Viele Gegenstände gäbe es im Innern zu bewundern, sogar eine Ritterfigur. Mich interessiert allerdings mehr ein Erker. Lange stehe ich davor und betrachte detailliert, was es zu sehen gibt. Das habe ich gesehen: an der rückwärtigen Wand die hölzerne Jesus-Figur, ans Kreuz genagelt, die Finger und Füße von Nägeln durchbohrt. Es sieht aus, als hätte er seinen neunstündigen Todeskampf bereits hinter sich, denn der Kopf ist nach unten gebeugt und die Augen sind geschlossen. Doch noch steht sein Körper aufrecht und die Knie sind durchgedrückt. Er sieht nicht leidend aus - und doch hat er alles Leiden der Menschheit auf sich genommen. Ein Schild über ihm wurde ans Kreuz genagelt. INRI steht mit großen Lettern darauf (Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum, Jesus von Nazaret, König der Juden). Sein Peiniger Pontius Pilatus ließ es zur Begründung seiner Schuld anbringen, wie es 30 n.Chr. üblich war. Links und rechts neben dem Gekreuzigten stehen zwei Frauen. Die eine ist blau gewandet, der Kopf vom weißen Kopftuch halb verdeckt, die Hände sind gefaltet, ihr Blick ist Jesus zugewandt. Vielleicht stellt sie seine Mutter Maria dar. Rechts eine junge Frau in rotem Gewand, ihr Kopf hängt vor Trauer, ihr Blick ist nach unten gerichtet, die Hände sind ebenfalls gefaltet. Vielleicht ist es seine (Halb-) Schwester Maria. Besser gefällt mir die Vorstellung, es sei Maria Magdalena, seine liebste Gefährtin, eine von mehreren Frauen, die Jesus nachfolgten und für seinen Unterhalt sorgten, während er predigte. Allerdings soll sie sich bei der Kreuzigung im Hintergrund gehalten haben. Mehr noch als die Figuren interessiert mich das ausliegende Buch. Es ist vor dem Gekreuzigten im Zentrum des Erkers aufgestellt, von bunten Blumensträußen gesäumt, aus denen zwei weiße Kerzen ragen. Sie brennen nicht. Ich trete näher heran, lese scheu auf der aufgeschlagene Seite von jemandem, der Gott dankt, ein anderer bittet um seinen Segen, wieder einer bittet um Bestand. Vorsichtig blättere ich ein paar Seiten zurück, berühre das Papier kaum. Verzweifelte Worte kann ich lesen, auch Verbitterung. Ich selbst hinterlasse keine Botschaft, schreibe keine Zeile in das Buch, denn ich glaube nicht in der Weise, wie es die Kirche lehrt. Es berührt mich dennoch. Leise ziehe ich mich zurück, verlasse - in Gedanken versunken - diesen heiligen Ort.
    Auf der Straße, zurück gekehrt in die Welt, meldet sich Hunger. Gegenüber hat ein Bäcker geöffnet und während ich die leckerste Frikadelle meines Lebens genieße, rücke ich meine Gedanken zurecht.
    Viele Minuten später geht es weiter, tausend Schritte trennen mich bereits von Nieheim, als ich mitten im tiefsten Wald entferntes Motorengeräusch wahrnehme. Es ist nicht wie sonst, es ist nicht das unangenehme Zischen von Autos, die eine Straße entlang eilen, sondern es klingt kernig und satt. Es ist der Klang von Motoren mit sehr viel Hubraum, die bei hoher Drehzahl ihre Kraft entfalten dürfen. Es ist mal ein tiefes Röhren, dann ein lautes Dröhnen, gefolgt von quietschenden Geräuschen, wie reibendes Gummi auf Asphalt. Hier wird offenbar im Grenzbereich gefahren, Höchstleistungen am Limit in engen Kurven erbracht. Ein Blick in die Karte gibt Auskunft: es ist die „Test- und Präsentationsstrecke Bilster Berg“, auf der wohl gerade ein Fahrer seine Rennmaschine im großräumigen Kreis herum hetzt. Das Motorgeräusch kommt schnell aus der Ferne näher, wird lauter, schwillt infernalisch an, entfernt sich wieder, schwillt ab und erstirbt schließlich in der Ferne. Nach kurzer Dauer wiederholt sich das Hörspiel. So geht es Runde um Runde, viele Male, die das Fahrzeug in hoher Geschwindigkeit mit wechselnden Gängen und Drehzahlen zurücklegt. Ich gehe lange an der Rennstecke entlang, ohne je einen Blick auf die Strecke erhaschen zu können. Zu gut ist sie durch hohe Erdhügel abgeschirmt, die vermutlich dem Lärmschutz dienen, vielleicht aber auch als Sichtschutz gedacht sind. Im Internet lese ich später: „Das Bilster Berg Drive Resort – die Test- und Präsentationsstrecke mitten in Deutschland. Das parkähnlich angelegte Gelände bietet gleichzeitig einen adäquaten Rahmen für Fahrzeugpräsentationen, Produkteinführungen, Events und Incentives auf und neben der Strecke. Der 4,2 Kilometer lange selektive Naturrundkurs ist in die gegebene Topografie eingebettet, und Rallye- wie Le Mans-Legenden, aktive Profis und Formel-1-Fahrer schwärmen von der anspruchsvollen Streckenführung…“.
    Wenige hundert Meter weiter, am südlichen Ende der Rennstrecke, wartet gleich noch eine Attraktion auf mich:

    die Telegrafenstation Nr. 32, die auf dem Bilster Berg steht. Sie ist eine von einundsechzig Stationen, die vor bald 200 Jahren, 1832, errichtet wurden, um Depeschen von Berlin nach Koblenz über eine Entfernung von 550km in nur eineinhalb Stunden visuell zu übermitteln. Ein reitender Bote brauchte dafür vier Tage. Nachrichten wurden mittels eines dekadischen Zahlensystems von Station zu Station übermittelt. Es gab 4096 definierte Stellungskombinationen, die über sechs Telegrafenflügel dargestellt wurden und Zahlen symbolisierten, denen mittels geheimer Codebücher Wortbedeutungen zugeordnet waren. Aber kaum zwanzig Jahre später war die Technik bereits überholt. Die Anlage wurde abgewrackt und 1984 wieder neu aufgebaut, dieses Mal für touristische Zwecke.
    Technik kann einen Mann beeindrucken, er vergisst darüber schon einmal das Wandern und verbringt viel Zeit damit, die Infotafel sehr genau zu studieren. Und auch der herrliche Blick ins Tal hält mich hier.
    Irgendwann aber muss man weiter. Wieder Wald und noch mehr Wiesen. Einmal geht es an weißen Kühen vorbei, die mit ihren Kälbern und –das ist selten- ihrem Bullen -widerkäuend auf der Sommerwiese lungern. Es sieht nach einer glücklichen Kuhfamilie auf Sommer-Urlaub aus. Am Mühlenbach laufe ich am abzweigenden Weg vorbei, das merke ich erst hundert Meter später. Der Pfad ist nicht zu erkennen gewesen, denn er ist zugewachsen. Aber Komoot kennt den Weg und so finde ich ihn schließlich. Den Mühlenbach quere ich auf einer Holzbrücke, die bereits stark vermodert ist, die Balken löchrig. Wird sie mich noch halten? Sie tut es.
    Schließlich erreiche ich Erpentrup.

    Der kleine Ort, hält einen technischen Leckerbissen für mich bereit, den ich hier nicht vermutet hätte.
    Ein gemütlich wirkender Mann steht vor der Garage seines Hauses, putzt an einem Gefährt herum, das man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Der schwarze Lack ist verwittert, die Reifen sind schmal, vorne steckt eine Kurbel, mit der das Automobil angelassen werden kann. Es interessiert mich, etwas über dieses Auto zu erfahren. So spreche ich den Herrn an. Er lässt sich, etwas widerwillig, auf ein Gespräch mit mir ein. Vielleicht wird er zu oft von vorbeiziehenden Fußgängern auf den Oldtimer, der vor der Garage steht, angesprochen. Vielleicht halte ich ihn von einer liebgewonnenen Tätigkeit ab, der er viel lieber nachgehen würde als sich mit einem neugierigen Wanderer zu unterhalten. Aber ich stelle Fragen und er redet sich warm. Erzählt mir, dass die schwarze Droschkenkutsche ein Rover Ten, Baujahr 1933 sei. Mit Rechtslenkung, weil es aus Großbritannien stammt. Außen wie innen ist es noch der Restauration bedürftig.
    „Gestern bin ich ihn das erste Mal gefahren. Ich will ihn wieder zulassen, mit einem H-Nummernschild“, meint er stolz. Ein historisches Nummernschild mit Dauerzulassung und regelmäßigem TÜV.
    „Aber der Lack bleibt, wie er ist. Das ist noch der Originallack, den darf man nicht übermalen.“
    Aha, denke ich und betrachte die mächtige, verwitterte Motorhaube, die so gar nicht glänzt und hier und da zarte Roststellen aufweist.
    „Interessieren Sie sich für Motoren?“, fragt Herr Pott, der mit mittlerweile erzählt hat, dass er in Motoren vernarrt ist.
    „Eher nicht, ich fahre nur einen Smart mit 'nem ganz kleinen Motor.“
    Es hält ihn nicht davon ab, die schwere Garagentür zu öffnen und mich einzulassen in sein Heiligtum. Was ich zu sehen bekomme, lässt mich staunen: direkt hinter dem Garagentor steht eine zwei Meter lange Flugzeugturbine.
    „Das ist eine Propellerturbine, voll funktionsfähig. 2000 PS. Wenn ich die starte, würde sie sich aufschaukeln, in der Gegend rumfliegen und alles kaputt schlagen.“
    Mein Blick schweift im Raum herum. An der gegenüberliegenden Wand: dutzende alter Röhrenradios im Regal gestapelt, große braune Kästen, aus Holz gefertigt.
    „So ein Ding hatten meine Eltern früher im Wohnzimmer“, meine ich.
    „Ja, die stammen aus den fünfziger und sechziger Jahren.“
    Ein Dreirad mit Motor sehe ich, eine alte Telefonzelle, gefüllt mit allerlei Exponaten. Davor ein altes Notstromaggregat.
    „Springt sofort an, braucht aber unheimlich viel Sprit.“
    „Eine Garage ist es nicht, eher ein Museum“, denke ich. Damit liege ich nicht falsch, denn ich bin, ohne es zu wissen, in das Motorenmuseum der Familie Pott geraten und Herr Pott, leidenschaftliche Eigentümer, Sammler und Restaurateur alter Maschinen, führt mich gerade darin herum.
    „Kommen Sie mal mit“, sagt er und zeigt auf die Treppe, die ins Untergeschoss führt. Und dort stehen sie alle, die alten Diesel-, Benzin, Benzol-, Gas- und Schwerölmotoren, die ich nie zuvor gesehen habe.
    „Sie laufen alle noch“, sagt er. Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Eine komplette "Elektrizithäts-Centrale", gebaut 1910, mit großem Schwungrad und Schalttafel aus massivem Marmor kann ich bestaunen. Oder ein Schiffsdiesel, zwei Sternmotoren aus alten Flugzeugen. Sogar ein silbrig glänzender V12 Jaguar Motor, Baujahr 1973, ist vorhanden. Er sieht noch ganz neu aus. „Der läuft auch noch wie geschmiert“, meint er.
    Damit ist die Führung zu Ende Ich bedanke mich sehr und verabschiede mich.
    „Kommen Sie wieder, Sie sind jederzeit herzlich willkommen“, sagt er zum Abschied und wendet sich wieder seinem Oldtimer zu. Als ich mich nach ein paar Meter noch einmal umdrehe, sehe ich ihn selbstvergessen den Spiegel putzen. Ich habe den Motorennarren ins Herz geschlossen.
    ( http://www.motorenmuseum.de)

    Jetzt geht es für ein paar Kilometer am Emmer entlang. Der Fluss hat sich bereits zum Bach verjüngt. Die Vegetation ist üppig, das Flussdelta fruchtbar. Da weist ein unscheinbares Schild auf seine Quelle. Ich folge dem Pfad und erreiche bald die Emmerquelle. Aus aufgeschichteten Steinen sprudelt das Wasser an zwei Stellen hervor, bildet schmale Rinnsale, die sich verbinden und gluckernd als Bach davon plätschern.
    Zurück auf dem Emmerweg geht es noch eine Weile durch dichten Wald hinauf. Die erklommenen Höhenmeter bringen mich noch einmal zum Schnaufen und Schwitzen. Dann geht es wieder runter und kurz vor Altenbeken kreuze ich den Eggeweg, der ab der nächsten Wanderetappe mein Leitweg sein wird.
    Um 18:27 Uhr sitze ich in der S-Bahn nach Hannover. Von dort bringt mich der ICE pünktlich nach Hamburg. Die Strecke dauert jetzt schon mehr als drei Stunden und ich stelle fest: auch die Zeit der dreitägigen Wanderungen ist bald vorbei. Anfahrt und Rückweg werden nun zu lang.
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