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  • E1-19-D-Löwensen (27km)

    7. juni 2015, Tyskland ⋅ ☀️ 23 °C

    Viel Muße auf dem Weg zur Quelle - Der Emmerweg (1/3)

    (Wieder einmal macht der E1 einen Schlenker, der nach Detmold und dem Hermannsdenkmal führt. Ich kenne es schon von früher und entscheide mich, die Route zu verkürzen. Statt auf dem E1 geht es den Emmerweg entlang. So komme ich meinem Ziel, dem Bodensee, schneller näher.)

    Früh sitze ich im Zug nach Hameln. Nun muss es schon der ICE nach Hannover sein, von dort geht es mit der S-Bahn weiter nach Hameln. Insgesamt dauert die Anfahrt bereits mehr als zwei Stunden. Als ich in Hameln aus dem Zug steige, ist der Himmel blau und klar, keine Wolke ist zu sehen.

    Wenn man nach Hameln reist, sollte man sich für die historische Altstadt etwas Zeit nehmen. Es ist die Stadt der Rattenfänger, die Sage ist laut Wikipedia mehr als einer Milliarde Menschen bekannt: es war einmal ein Mann, der hatte eine wundersame Pfeife, mit der er erst die Ratten und später die kleinen Kinder aus der Stadt lockte. Keines von ihnen sah man je wieder...

    Also bin auch ich erst einmal touristisch unterwegs, flaniere durch den historischen Stadtkern, die Touristen sind derweil wohl noch beim Frühstück. Einige Einheimische beten bereits in der Nikolai Kirche, den Gottesdienst will ich nicht stören, ein Foto durch die Glastür ins Kircheninnere muss genügen.
    Dann ein Blick auf den Pferdemarkt. Dort steht das verspielte Hochzeitshaus, das im 17. Jahrhundert als letztes Steinhaus im Renaissance-Stil erbaut wurde. Siebenunddreißig Glocken hängen am Giebel nebeneinander aufgereiht und warten auf ihren Einsatz. Sollten sie ertönen, würde sich gleichzeitig eine Bronzetür öffnen, die Figur des Rattenfängers heraustreten und im Kreis laufen, verfolgt von einer Schar Ratten. Aber das findet zu einer anderen Zeit statt. Ich bekomme es nicht zu sehen. Weiter geht meine Entdeckungstour durch die Bäckerstraße, ich schaue nach links und nach rechts, sehe altehrwürdige, sehr sehenswerte Häuser und verlasse schließlich die sagenumwobene Stadt über den Europaplatz in Richtung Süden.
    Es geht die Weser entlang, die ich mir breiter vorgestellt habe. Im Hafen liegt ein alter Mienensucher fest vertäut am Pier, die graue Tarnfarbe des ehemaligen Militärbootes blättert ab, die Scheuerleisten sind halb vermodert. An Deck schwanken Veteranen und halten sich an ihrem Bier fest.
    Der Hafen endet in einem Seitenarm der Weser, verrottete Güterwaggons warten auf ihre Verschrottung. Sie sind keine Augenweide für einen vorbeiziehenden Wanderer. Weiter geht es über eine Brücke zum Hauptfluss und nun begleite ich die Weser auf einem Uferweg, der, von knorrigen, alten Weiden gesäumt, mich bis ins Emmerthal führen wird. Er wird überwiegend von Radfahrern genutzt, die geschwind an mir vorbei radeln. Manche klingeln, andere zischen so knapp an mir vorbei, als gelte es, mich vom Weg zu verscheuchen. Die Tündernsche Warte - ein Gasthaus im bayrischen Flair - lockt mit Kaffeeduft, doch ich gehe vorbei, schließlich bin ich erst zwei Kilometer unterwegs. Kurz darauf ziehe ich an der schneeweißen Tündernschen Mühle vorbei, sie sieht aus wie ein knuffiges Bauwerk aus der Welt der blauen Schlümpfe. Immer mehr Radfahrer überholen mich, nur wenige kommen mir entgegen. Jeder Dritte von ihnen lässt sich elektrisch unterstützen, leise surren die E-Bikes. Unter dem Namen Pedelecs kennt man diese Gefährte auch, sie haben einen bis zu 250 Watt starken Elektromotor, der die Fahrt mehrere Stunden lang bis zu 25km/h elektrisch unterstützt. Eine feine Sache. Eine Familie kommt mir auf Fahrrädern entgegen, zwei Kinder fahren vorneweg, die Eltern hinterher. Die Kinder halten sich ordentlich rechts und lassen mir ausreichend Platz. Trotzdem ermahnt die Mutter:
    „Thimo, Nele, fahrt brav hinter Klaus her.“
    Warum macht sie das? Die Kinder haben alles richtig gemacht.
    „Ist die Frau unentspannt,“, höre ich einen Mann hinter mir sagen. Auch er sitzt auf dem Fahrrad, radelt just an mir vorbei. Ich muss laut lachen, denn ich weiß um die Bedeutung seiner Worte und er schaut mich zuerst erstaunt an, dann lacht auch er. Wir wissen beide, warum und sind für einen Moment in diesem Wissen vereint.
    Noch mehr Radfahrer schnurren vorbei, ich fühle mich allmählich wie auf einer Fahrradautobahn. Ein Schild weist darauf hin, dass hier der Weser-Radweg verläuft, folgt der Weser von der Quelle bis zur Mündung in der Nordsee. Radfahrer werde ich noch bis Emmerthal ertragen müssen, erst dort werde ich Wanderwegen folgen können, die Radfahrer vermutlich nicht nutzen. Komoot möchte, dass ich die Weser überquere. Eine alte Eisenbahnbrücke ist auch da, ein Weg neben den Gleisen, die über die Stahlbrücke führen, ist ebenfalls vorhanden. Nur das große Schild „Durchgang verboten – Bahnanlage“ kennt Komoot offenbar nicht. Ich ärgere mich, ob über Komoot oder das Verbotsschild, kann ich gar nicht genau sagen. Schnell entscheide ich, dem Verbot zu folgen, strebe der nächsten Brücke zu. Sie ist nicht weit entfernt, die Aufregung also unbegründet und den kleinen Umweg kann ich in Kauf nehmen. Außerdem hilft in solchen Momenten immer die Frage an sich selbst: „was ist das Gute daran?“ Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten, denn in Emmerthal ist ein Stadtfest in vollem Gange. Ohne Umweg hätte ich keine Bratwurst bekommen, die ich nun auf dem Rasen liegend vor der Petrikirche genüsslich verspeise, während ich dem munteren Treiben zuschaue. Wieder wurde mir ein mußevoller Augenblick geschenkt.
    Gestärkt und gut erholt lasse ich Fest und Ort hinter mir, wende mich vom Tourismus ab, der mich seit Hameln begleitet hat. Unter einer Brücke am Ortsausgang strömt gemächlich der Emmer, den ich hier das erste Mal zu sehen bekomme. Seinetwegen bin ich ja gekommen, gehe ich doch den Emmerweg. Unweit von hier verbindet der Emmer sich mit der Weser. Ich werde dem Emmer nun sechzig Kilometer bis zur Quelle folgen. Hinter der Brücke geht es steil bergauf, die ersten Höhenmeter dieser Tour sind zu erklimmen. Schnell bin ich oben angekommen. Ein Blick zurück präsentiert das weite Emmerthal, das von bewaldeten Höhen in weiter Ferne begrenzt wird. Und endlich umgibt mich, was ich beim Wandern am Meisten genieße: Ruhe und das Alleine-Sein. Vogelgezwitscher überall, manchmal auch der Ruf eines Kuckucks, die Felder duften nach Heu und am Wegesrand blühen bunte Blumen. Der Flieder ist reif und schickt aus weißen Blüten betörenden Duft zu mir herüber. Das haben auch die Bienen gerochen, ihr Summen ist aus manchem Busch schon von Weitem zu hören. Herrliches Wandern!
    Mein Alleine-Sein wird unterbrochen, als ein Greis mir, gestützt durch seine Wanderstöcke, entgegen humpelt. Als wir uns begegnen, fragt er:
    „Haben Sie das hässliche AKW geknipst? Das haben sie uns hier mitten ins Emmerthal gebaut. Richtig verschandelt haben sie alles damit!“.
    Wut schwingt in seiner Stimme mit. Er meint wohl das Kernkraftwerk Grohde, das hier seit vierzig Jahren seinen Dienst tut. Aus zwei Kühltürmen entweicht weißer Wasserdampf, der hoch steigt und sich zu den weißen Wolken gesellt, die am Himmel stehen. Es steht klotzig mitten im Emmerthal und es lässt sich kaum vermeiden, dass die große runde Kuppel und die Kühltürme mit auf das Foto geraten sind, das ich eben mit dem Smartphone geschossen habe.
    „Ja, es sieht hässlich aus", entgegne ich, "und es passt so gar nicht in diese schöne Gegend. Aber ich habe es gar nicht fotografiert, sondern den Weg, den ich herauf gekommen bin“. Ich zeige Richtung Norden. Er folgt meinem Finger, deutet ihn aber falsch. „Ja, da hinten auf dem Schecken, da haben sie Hitler immer den roten Teppich ausgelegt, wenn er hier in der Gegend Gelder eingesammelt hat.“
    „Haben Sie das miterlebt?“, frage ich. Vielleicht hat er eine interessante Geschichte zu erzählen, schließlich könnte er einiges aus dieser Zeit als Augenzeuge miterlebt haben.
    „Nein, ich komme aus Böhmen, bin erst nach dem Krieg hierher gekommen. Da habe ich dann auch mein Haus gebaut, in dem wohne ich noch heute, aber jetzt geht die Heizung nicht mehr richtig…“.
    Er redet sich warm, vielleicht froh, jemanden gefunden zu haben, der sich sein rückwärts gerichtetes Denken anhört. Doch ich möchte Wandern und Neues erleben. Mit den Worten: „Toll, dass Sie noch so gut zu Fuß sind“ wende ich mich ab zum Gehen.
    Wenn es Zeit wird für eine Pause und der Wanderer keinen Gasthof ansteuern möchte, dann sucht er sich gerne eine geeignete Bank für seine Rast. Geeignet bedeutet dabei: sie soll ruhig liegen, einen schönen Ausblick bieten, im Schatten liegen, sofern die Sonne scheint, sauber und heil sein. Selten findet der Wanderer, wonach er sucht. Heute aber treffe ich auf die perfekte Bank für meine Rast. Sie ist ganz neu, blitzeblank, wohlgeformt und lang genug, um die Beine auszustrecken. Gekennzeichnet ist sie mit den Buchstaben XW, das Zeichen des WeserWanderweges. Vermutlich wurde die Bank vom Weserbergland Tourismus e.V. aufgestellt, dem ich an dieser Stelle ganz herzlich danken möchte. Und das Highlight ist: die eine Seite der Bank liegt in der Sonne, die andere im Schatten. So verschlummere ich auf ihr eine entspannte, sonnige Stunde. Mein Kopf liegt im kühlen Schatten und der Körper wird von der Sonne gewärmt. Aber auch die schönste Pause muss irgendwann zu Ende gehen, schließlich will ich heute noch bis Bad Pyrmont kommen.
    Nur noch ein kurzes Stück durch den Wald, dann stoße ich auf eine Nebenstraße, die nach Hämelschenburg führt. Es ist aber keine Burg, sondern ein im 15. Jahrhundert gebautes Schloss. Karpfen ziehen Kreise in einem Teich direkt an der Straße. Sie schwimmen knapp unterhalb der Wasseroberfläche, heben ihre Köpfe aus dem Wasser, die Mäuler weit geöffnet. Schnappen die Fische nach Luft oder wollen sie Enten gleich gefüttert zu werden? Ich finde es nicht heraus, denn ich habe kein Brot in der Tasche und bin auch schon vorbei. Ein paar Schritte weiter liegt die Ostseite des Schlosses. Dort gibt es fünf riesige Wasserspeier zu bestaunen, die, langen Speeren gleich, weit über das Dach des Schlosses hinaus ragen. Bei Regen fließt das Regenwasser vom Dach über die Speier aus der Höhe des dritten Stockwerks direkt in den Schlossgraben. Das Plätschern wird den Schlossbewohnern wohl manch schlaflose Nacht beschert haben. Heute aber scheint die Sonne und Regen ist fern. Was die Schlossanlage zu bieten hat - ob Kunstsammlung, Gartenanlagen, Wassermühle, Wirtschaftsgebäude oder Kirche - ich muss es links liegen lassen. Denn ich will weiter. Der Eindruck des Schlosses verfliegt rasch. Erst meine nachträgliche Recherche ergibt, dass ich hier an einem Hauptwerk der Weserrenaissance mit seiner langen und bewegten Geschichte eilig vorbei geschritten bin. Wären die Tagesdistanzen kürzer als ich sie plante, hätte ich länger verweilen können.
    Der Weg führt nun an Bahngleisen entlang, die von Hameln nach Bad Pyrmont führen. Der Emmerweg folgt ihnen durch grüne Wälder und sanfte Hügel. Erst geht es hinauf, dann wieder hinunter, an Getreidefeldern entlang, deren noch unreife Halme schon bis an die Hüfte reichen. Wald, Felder, Hügel - eine endlose Folge. Kilometer reiht sich an Kilometer. Mittendrin liegt der Ort Welsede mit seinem großen Gehöft. Der Weg macht einen Bogen um die Steinmauer, der Blick auf das dahinter liegende Gutshaus wird mir so verwehrt. Ein schnelles Foto bannt ein Informationsschild auf die Speicherkarte des Smartphones, für spätere Recherchen, denn auch hier bleibe ich nicht lange stehen. Dann geht es das zweite Mal über den Emmer. Nein, es ist nur der Mühlenbach, zu schmal ist der Flussarm für den Emmer. Früher hat das Wasser eine Mühle angetrieben und heute liefert es für das Gut den Strom. Erst unter der nächsten Brücke fließt der Emmer hindurch, er ist viel breiter als der Mühlenbach. Überhaupt, wo ist er die ganze Zeit gewesen? Obwohl es der Emmerweg ist, auf dem ich gehe, hat sich der Fluss bisher rar gemacht.
    Steil geht es nach Löwensen hinab. Bis zur gebuchten Pension ist es jetzt nicht mehr weit. Rechts von mir liegt der Königsberg, zum Abschluss wollte ich ihn eigentlich noch besteigen, um die Aussicht über Bad Pyrmont vom hohen Bismarckturm zu genießen. Aber jetzt fehlt mir die Lust und auch die Energie dazu. Gleich die Füße hochzulegen ist auch eine gute Aussicht. Die Klingel an der Haustür meiner Pension lässt oben im Haus ein Fenster öffnen. „Einen Moment, bitte“. Kurz darauf werde ich vom Pensionswirt eingelassen. Ich bekomme ein schönes Einzelzimmer. Auch wenn ich müde bin, für das Abendessen muss ich noch in den Ort gehen. In der Brunnenstraße, der Fußgängerzone von Bad Pyrmont finde ich im Ratskeller, was ich suche: Spargel mit Schinken. Ein Bier rundet diesen herrlichen Wandertag ab.
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