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  • E1-57-D > Zuflucht (19km)

    17. september 2016, Tyskland ⋅ ⛅ 17 °C

    Südwärts auf dem Westweg (5)

    Am nächsten Morgen stehe ich am Fenster und beobachte, wie der Nebel von der Hornesgrinde ganz langsam zum See herunter wabert und sich kurz über der Wasseroberfläche auflöst. Der Sommer scheint sich zu verabschieden. Vor dem Frühstück mache ich einen Rundgang um den fast kreisrunden See, der sehr tief sein soll. Sagen ranken sich um den Mummelsee und der nebelige Morgen lässt sie lebendig werden. Auf der anderen Seeseite wartet eine Nixe auf mich. Um sie rankt sich eine der alten Sagen:
    << In der Gestalt einer Jungfrau traf einmal eine der Bewohnerinnen des Sees einen Hirtenknaben im Gebirge und gewann sein Herz durch die Reize ihrer Gestalt. An einer Quelle kamen sie täglich zusammen und kosten hier in traulichen Gesprächen, bis der Abendstern durch die Tannen flimmerte. Der Knabe spielte in ihren weichen langen Haaren und sie lehrte ihn wunderschöne Lieder. So oft sie sich aber trennten, so warnte sie ihn auch, ihr nie zum See zu folgen und sie nie dort aufzusuchen, wenn sie auch mehrere Tage ausbleiben sollte. Einmal harrte ihrer der junge Hirt vergebens zwei lange Tage hindurch. Beim Frührot des Dritten konnte er's nicht länger ausdauern. Die Sehnsucht nach der Geliebten zog ihn zu dem See hin. Alles um ihn her war still und öde. Er sah nichts. Traurig setzte er sich an's Ufer und rief laut ihren Namen. Da vernahm er ein Ächzen tief unten im Schoße des dunkelschwarzen Gewässers und plötzlich färbte sich dies blutrot. Den Knaben ergriff ein kalter Schauder - "sie ist tot!" - rief er aus, eilte weinend nach Hause, und - starb. >>
    Eine traurige Geschichte.
    Die Nixe gegenüber dem Mummelsee Hotel ist leider nur aus Bronze, dafür wird sie überdauern.
    Beim Frühstück denke ich über das Wesen des Wandern nach. Es war so schön gestern, mit Martina, Joseppe und Timo gemeinsam zu wandern, dass ich nun gar keine Lust habe, alleine weiter zu gehen. Und während ich in mein Nutellabrötchen beiße, frage ich mich, wo Martina wohl genächtet haben mag und wie weit sie gekommen ist. Ich glaube nicht, dass wir uns heute wieder sehen, denn ich wähne sie noch hinter mir, auch wenn sie früher gestartet sein sollte als ich.
    Die Luxusherberge hält mich lange, aber irgendwann muss es doch weiter gehen. Warum nicht jetzt? Es ist schon nach zehn.
    Nicht weit vom Hotel ist ein weiteres Portal des Westweges. Nahe am Ufer steht das Mummelseetor. Und wer steht davor? Es ist das junge Mädchen aus der Pension Heidi, zu der ich vor zwei Tagen sagte, jeder solle in seiner Geschwindigkeit wandern. Heute bin ich derjenige, der Lust hat, ein Stück mit ihr gemeinsam zu gehen und sie willigt gerne ein.
    Sie stellt sich als Marie vor, ist Medizinstudentin und unterwegs, um den Kopf vom Prüfungsstress, der hinter ihr liegt, frei zu bekommen. Die letzte Nacht hat sie nördlich der Hornisgrinde in einer kleinen Pension in Hochkopf-Untermatt verbracht. Dort wäre ich auch geblieben, wenn ich nicht am Mummelsee gebucht hätte. Das wäre ein lustiger Abend geworden, denn auch Joseppe und Timo haben es bis dorthin geschafft. Nur Martina hat wieder irgendwo draußen übernachtet.
    „Von der Hornisgrinde habe ich heute morgen nichts gesehen, sie lag komplett im Nebel.“
    „Nichts ist vollkommen“, meine ich dazu und denke an den Nebel, der morgens von der Hornisgrinde zum Mummelsee herunter waberte.
    Ich will noch bis zum Titisee laufen“, meint sie.
    Das sind drei Tagestouren mehr als ich laufen werde und ich frage mich, ob ich den Titisee dieses Jahr überhaupt noch zu sehen bekomme. Wir vereinbaren, so lange zusammen zu gehen, wie wir es für gut befinden. Bald kommen wir an der Darmstädter Hütte vorbei. Sie ist bewirtschaftet, man kann sogar übernachten. Für eine Pause ist es noch zu früh und wir gehen vorbei.
    Links des Weges zeigt meine Komoot Karte einen kleinen See, am Ufer soll eine Schutzhütte sein. Wildsee wird er genannt und der Name reizt mein Wanderherz. So frage ich Marie:
    „Wollen wir da runter gehen und an der Hütte eine Mittagsause machen? Es sind wohl nur fünfhundert Meter da hin.“
    Was ich nicht bedachte, ist, dass er auch hundert Höhenmeter tiefer liegt. Zu sehen ist der See von hier aus noch nicht. Sie willigt ein und wir machen uns an den Abstieg. Der Weg ist steil und holperig. Baumwurzeln queren den Pfad, große Steine liegen im Weg. Es ist so recht nach meinem Geschmack. Nicht so schön ist, dass uns jede Menge Menschen begegnen. So wild und einsam, wie ich dachte, kann der See also nicht sein. Doch wir steigen weiter ab, aber der See kommt und kommt nicht in Sicht. Wir haben gerade eine große, alte Fichte passiert, die hier sicher schon hundert Jahre steht, da endlich schimmert der See durch die Stämme hoher Fichten. Es ist immer noch ein ganzes Stück bis runter zum See. Marie wird jetzt ungeduldig.
    „Ich will heute Abend noch im Hotel in die Sauna“, meint sie. „Lass uns hier Pause machen, es wird mir sonst zu spät.“
    Ich wäre gerne bis zum See gegangen, sehe aber ein, dass es zu lange dauern würde. So packe ich meine Sachen aus und bereite mir eine Tütensuppe. Marie knabbert etwas lustlos an einem Energieriegel.
    „Du, ich will los“, meint sie nach einer Weile.
    „Ok, wir treffen uns sicher unterwegs“.
    So steige ich den schmalen, knorrigen Pfad vom Wildsee alleine wieder auf. Nur um gleich wieder neben dem Skilift Ruhestein abzusteigen. Der Lift ist auch im Sommer in Betrieb und stellt eine Versuchung dar. Für 2,50€ würde er mich gemütlich zu Tal fahren und vielleicht würde ich Marie einholen. Aber ich widerstehe und denke daran, dass ich durch Deutschland laufen, nicht fahren will. Weil heute Samstag ist, ist es in Ruhestein gar nicht so ruhig, wie der Name suggeriert. Zahlreiche Autos parken auf dem großen Parkplatz und die beiden Cafés dies- und jenseits der Straße sind gefüllt mit lärmenden Wochenendausflüglern.
    Schnell gehe ich weiter. Auf der anderen Talseite geht es natürlich gleich wieder bergauf. An einer Sprungschanze kann ich durch das Tor schlüpfen und mich dorthin setzen, wo die Skispringer im Winter sitzen, um sich die Schanze hinab zu stürzen. Nie im Leben würde ich das tun! Lang und steil ist der Anlauf für den todesmutigen Sprung in die Tiefe und niemals hätte ich den Mut dazu. Schon beim Hinunterblicken läuft mir ein Schauer den Rücken runter.
    Weiter geht`s. Bald bin ich auf dem Schliffkopf und der Blick ist grandios, aber lange bleibe ich nicht. Irgendwie macht es mir alleine heute keinen Spaß. Dann folgt der Panoramaweg, er kommt mir endlos vor und ich bewältige ihn schnellen Schrittes. Nur manchmal stoppe ich, um einen phantastischen Weitblick in mir aufzunehmen. Marie muss schnell unterwegs sein. Ich kann sie einfach nicht einholen.
    Drei lange Stunden sind es vom Wildsee noch bis zur Zuflucht – die heutige Unterkunft heißt tatsächlich so - und der Weg zieht sich wie Kaugummi. Es reicht mir schon lange, aber mein Ziel kommt und kommt einfach nicht in Sicht.
    Dann endlich! Ganz plötzlich ist der Wald zu Ende und macht einer Straße Platz. Rechts kann ich ein großes Gebäude sehen. Das muss sie sein, meine Zuflucht. Doch sie zeigt mir ihre hässliche Rückseite.
    „Wie eine Zuflucht sieht es nicht gerade aus“, denke ich, während ich näher komme. Doch auf der Vorderseite verändert sich das Bild ins Positive. Auf einem Schild steht „Zuflucht – Übernachten, Schlemmen, Genießen“. Vor allem nach Schlemmen ist mir jetzt nach der ganzen Rennerei.
    Der nette Wirt checkt mich schnell ein. Kurz darauf sitze ich im Restaurant und bestelle die Empfehlung des Hauses. Dabei erfahre ich, dass die Zuflucht früher eine Jugendherberge war und das erklärt die Schlichtheit des äußeren Gebäudes. Im Innern wurde Vieles liebevoll umgestaltet. Der Schmorbraten schmeckt vorzüglich. Als ich mein Besteck zur Seite lege und die Füße genüsslich unter dem Tisch ausstrecke, kommt Marie herein und setzt sich zu mir. Sie hat bis eben die Sauna genossen. Nun bestellt auch sie.
    „Hast du auch den einsamen Wanderschuh auf dem Weg gesehen?“ frage ich.
    Ja“, meint sie und so beginnt ein lustiger Abend, an dem wir das Erlebte austauschen. Es ist erstaunlich, dass zwei Menschen denselben Weg gehen und doch so viel Unterschiedliches wahrnehmen.
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