Norway
Uredalen

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Travelers at this place
    • Day 11

      Rentiere ❤️

      June 10, 2023 in Norway ⋅ ⛅ 15 °C

      Als ich morgens aufwache, ist es bedeckt. Ausgerechnet heute, wo ich auf Sonne angewiesen bin. Trotzdem schließe ich die kleine Ersatzpowerbank an das Solarpanel an. Mein Handy hat noch 9 % Akku. Über die Fernbedienung meiner Drohne kann ich immerhin noch 3-4 % aufladen, während ich noch einmal den Weg für heute recherchiere. Grundsätzlich würde ich den Weg auch ohne Handy finden. Die Markierungen sind gut und für den Fall, dass mein Handy ganz aussetzt, notiere ich mir die Hütten, die heute auf meiner Route liegen, da diese meist ausgeschildert sind.

      Gestern war ich noch motiviert. Ich dachte, wenn ich es bis hierhin schaffe, habe ich nur noch zwei Etappen nach Dalen. Heute fällt mir auf, dass die geplanten 25 km knappe 1000 Höhenmeter bereithalten. Das ist im Vergleich zu den letzten Tagen ein echter Brocken. Die kaputte Powerbank und die Aussicht auf eine nur schwer zu schaffende Etappe nagen an meiner Stimmung. Wieder überlege ich, ob ich die Drohne nicht auch zu Christian nach Oslo schicke. Es ist fast ein ganzes Kilo, was ich sparen könnte. Im bisherigen Alltag nehme ich sie alle zwei Tage her. Eigentlich ist es Quatsch, aber dadurch, dass ich die Drohne behalten habe, habe ich mir auch die Möglichkeit für meinen Film erhalten. Aber mir wird noch bewusster, dass ich, mit oder ohne Drohne, keinen Film mitbringen werde, wie ich es mir vorgestellt habe. Auch keine vereinfachte Version. Mir fehlt einfach die Energie für den zusätzlichen Aufwand. Zu zweit könnte man sich das Gewicht teilen und jeder würde mal den anderen filmen. Aber allein ist es ein Aufwand, den ich auch mit dem kleinen Besteck, also GoPro, Handy und Drohne nicht schaffe. Als ich vor ein paar Tagen meine Hauptkamera weggeschickt habe, war das die einzig richtige Entscheidung. Dennoch habe ich für mich an der Idee des Filmes, wenn auch an einer abgespeckten Variante, festgehalten.

      Das Feedback, als ich mit dem Versand der Kamera entschieden hatte, dass es keinen Film wie geplant geben wird, war unter anderem, dass es gut so ist. Schließlich würde ich die Reise für mich machen und nicht für jemanden anderen. Das ist auch richtig! Für mich aber hatte die geplante Dokumentation zu meiner Reise eine ganz besondere Bedeutung. Auch den Film wollte ich für mich machen. Er wäre nicht nur ein einmaliges Andenken an das wahrscheinlich größte Abenteuer meines Lebens, es wäre auch ein Film über die Seiten von mir, die ich im Alltag oder gewöhnlich nicht immer teile, obwohl sie mir sehr wichtig sind.

      Meist kennt man mich als gut drauf, humorvoll (Geschmackssache😉) und immer einem, mal mehr oder mal weniger passenden, Spruch auf den Lippen. Manchmal bin ich das gerne, hab Spaß dabei und fühle mich wohl. Oft ist es aber einfach nur Fassade, weil ich vielleicht gerade nicht weiß, was ich sagen soll. Zu präsent ist mir noch die Zeit während des Studiums und danach, wo ich mit null Selbstbewusstsein in eine handfeste Sozialphobie geschlittert bin. Panik vor Vorträgen und Sprechen in der Gruppe waren nur die Spitze des Eisbergs. Der ganze Alltag war anstrengend. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal zum Friseur gehen wollte und vor der Tür wieder umgedreht bin, weil mich die Situation einfach überfordert hat. Allem, wo nur die Gefahr lauerte, dass ich vor mehreren Menschen hätte sprechen müsste, bin ich aus dem Weg gegangen. Irgendwie hab ich mich da mit der Zeit raus gearbeitet. Humor und Sprüche klopfen waren dabei immer Instrumente, die mir gut geholfen haben und oft als hilfreiche Fassade gedient haben.

      Wir alle haben unsere Fassade, da bin ich mir sicher. Insbesondere in der heutigen Zeit habe ich das Gefühl, dass die meisten nur noch ihre Fassade perfektionieren. Das sieht man täglich im WhatsApp-Status, auf Instagram, Strava und sonst wo. Ich will das nicht verteufeln. Wir alle teilen gerne unsere schönen Momente. Wir alle stellen uns dar. Aber mittlerweile nimmt diese schnelllebige Darstellung überhand. Deswegen wollte ich gerne das zeigen, was hinter meiner Fassade steckt. Das ist mit großer Sicherheit die verletzlichere Seite in mir, aber gerade deswegen auch oft so gut geschützt von lustigen oder weniger lustigen Sprüchen.

      Hier draußen geht einem so viel durch den Kopf. Es gibt viele emotionale Momente. Ich mach mir Gedanken zu Menschen, die von uns gegangen sind. Zu Nicoles Unfall. Wie schnell das Leben vorbei sein kann. Das klingt erst mal furchtbar negativ. Aber es hilft, seinen Fokus stärker auf die Dinge zu legen, die einem wichtig sind. Dinge zu machen, anstatt sie aufzuschieben - so wie hier meine Wanderung zum Nordkap. Als ich bei dem Dreh für den Imagefilm der Flugschule Grenzenlos mit Jürgen, dem Sicherheitstrainer und Fluglehrer, in seinem Boot auf dem Lac Annecy auf den nächsten Durchgang des Gleitschirm-Sicherheitstrainings wartete, sagte er während unseres Gesprächs einen Satz, der bei mir hängen geblieben ist: „Keiner weiß, warum wir hier sind“.

      Diesen Satz muss man einfach mal wirken lassen. Und schon stellt man schnell die Prioritäten des Alltags in Frage.

      Jeden Morgen rennen alle in ihre Büros und leben ein Leben für die Wirtschaft mit einer Selbstverständlichkeit, mit der ich mich schwertue. Eine Arbeitswoche hat 40 Stunden, es gibt 30 Tage Urlaub, Montag ist schlecht, Freitag ist gut, Karriere ist wichtig, Wachstum ist unabdinglich, es muss sich rentieren, Klimawandel ist ein Thema aber jetzt muss erstmal die Wirtschaft angekurbelt werden. Und, und, und. Alles für mehr Kohle, mehr Ansehen, Anerkennung. Die wirklich wichtigen Themen bleiben meiner Meinung nach zu oft auf der Strecke - weil man hier selten gutes Geld verdienen kann.

      Ich will hier nicht noch mehr ausschweifen. Aber diese Punkte, die ich oben anschneide, hätten Themen und Gedanken meines Films sein sollen. Und heute Morgen wird mir klar, dass ich diesen Film nicht machen kann. Es ist ein richtiger Stich. Nicht umsonst war in den letzten Wochen der Filmemacher in mir in der Planung beherrschend. Dieses Filmprojekt war mir unglaublich wichtig. Aber wenn ich von dieser Reise etwas mitnehmen möchte, dann gelingt mir das am besten ohne das Filmprojekt.

      Mit Tränen in den Augen baue ich das Zelt ab. Ich fühle mich ganz schön erschöpft. Ich glaube, wenn wir körperlich an unsere Grenzen gehen, braucht es nicht viel, dass unsere Emotionen durchkommen. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Marathon mit Micha. Hinterher hat er zu mir gesagt: „Ich bin ja echt nicht nah am Wasser gebaut, aber hier am Ende hat nicht viel gefehlt“. Solche Momente hab ich in den vergangenen Tagen häufiger, insbesondere am Abend, wenn ich komplett durch bin. Mal vergieße ich ein paar Tränen vor Glück, mal weil ich mich für einen kurz Moment einfach überfordert, allein oder einfach schwach fühle. Aber jedes Mal geht es mir danach deutlich besser. Und ehrlich gesagt ist es genau diese emotionale Intensität, die ich letztes Jahr am Lysefjord schon lieben gelernt habe.

      Während ich das Zelt abbaue, kommen doch noch ein paar Sonnenstrahlen raus und laden meine Powerbank wenigstens zur Hälfte. Um kurz vor 9:30 Uhr gehe ich los. Es ist windig und kühl. Weil ich aber recht schnell ins Schwitzen komme, belasse ich es bei meinem Sport-Shirt. Die ersten Kilometer laufe ich dahin und mache mir nun deutlich neutraler Gedanken über mein Filmprojekt: Warum es mir so wichtig ist und auch, was ich vielleicht alternativ machen könnte? Ich habe einzelne Ideen, aber eine richtige Lösung finde ich nicht. Obwohl ich zügig gehe und schwitze, ist mir kalt. Inzwischen ist der ganze Himmel grau, und der Wind bläst von der Seite. Kurz nach meiner zweiten Pause entscheide ich mich, meine Hardshell-Jacke aus dem Rucksack zu holen. Wegen des guten Wetterberichts ist diese ganz, ganz unten im Rucksack. Mir wird noch kälter, während ich in meinem Rucksack krame. Und wieder frage ich mich, warum ich mir das antue.

      Keine 5 Minuten später, die Jacke erfüllt voll ihren Zweck, kehrt Zufriedenheit wieder ein. Der Wind stört mich nicht mehr, und ich gehe mit mäßigem Tempo meine weiteren Kilometer. Allmählich geht es auch wieder bergab, runter von der eher kargen Landschaft zurück in Birkenwälder und Sumpfgebiete. Gleichzeitig wird es etwas wärmer und auch die Sonne lässt sich blicken. Heute habe ich mir vorgenommen, immer 6 km zu laufen, bevor ich eine Pause mache. Es ist ohne Frage anstrengend, aber selbst nach der dritten Pause bin ich immer noch motiviert. Mittlerweile ist auch das Wasserfinden kein Problem mehr. Trinkwasser an allen Ecken. Hier ist die Schneeschmelze noch in vollem Gange. Bei zwei Flüssen muss ich einige Zeit suchen, um einen geeigneten Weg hinüber zu finden. Ich quere zunehmend mehr Schneefelder, wenn sie sich nicht auf einfachen Wege um laufen lassen. Seit meiner Stockbruchaktion bin ich vorsichtiger geworden und versuche, so gut es geht den besten Weg über ein Schneefeld zu finden. Oft kostet es Zeit, überhaupt herauszufinden, wo am anderen Ende des Schneefeldes der Weg weitergeht. An den Sumpf zwischendrin habe ich mich eh gewöhnt. Meine Schuhe sind mittlerweile bestimmt seit drei Tagen nicht mehr trocken. Zusätzlich erschweren zahlreiche umgeknickte Birken, die wie eine Limbostange über den Weg ragen, den Weg. Ich kann mit meinem großen Rucksack nicht so weit in die Hocke gehen, um unten durch zu gehen. Das mögen meine Knie gar nicht. Also muss ich jedes mal querfeld ein um das Hindernis herum.

      Auf meinem letzten Abschnitt des Tages mache ich einige zusätzliche Pausen. Laut Höhenprofil kommt am Ende noch einmal ein ordentlicher Anstieg. Mittlerweile ist bestes Wetter mit superschönen Cumulus Wolken. Ich glaube, heute könnte man hier gut Strecke fliegen. Bis hierher lief es richtig gut. Mittlerweile habe ich 21 km auf der Uhr und habe das Gefühl, dass noch Luft da ist. Für eine kurze Trinkpause setze ich den Rucksack ab und lege mich einen kurzen Moment mit dem Rücken auf den warmen Fels neben dem Bach. Ich meine, immer wieder seltsame Geräusche zu hören, die ich nicht zuordnen kann. Als ich weiter gehe, sehe ich an dem Hang neben mir in einiger Entfernung eine Gruppe Tiere. Sind das Rentiere? Wie geil! Für einen kurz Moment bin ich mir sicher, dass ich hier Rentiere sehe. Aber so ganz sicher bin ich mir nicht. Oder sind das doch nur Schafe? Ich muss lachen. Nur weil ich die ganze Zeit auf Elche und Rentiere warte, müssen das noch lange keine sein. Ich mache ein Foto mit meinem Handy und zoome herein. Es könnten aber Rentiere sein. Weil der Rucksack aber schwer ist und ich mit der anstehenden Steigung noch ein anstrengendes Finale habe, gehe ich weiter. Ich komme an einen großen See mit einer weiten Ebene davor, auf der weit verteilt mehrere kleine Hütten stehen. Laut App muss ich die Ebene einfach nur queren und an der letzten Hütte führt ein Pfad nach oben. Leider kann ich den Pfad nicht finden, auch als ich versuche, mit GPS direkt auf den Pfad zu navigieren. Ist das etwa wieder einer dieser Komoot-Pfade, die es gar nicht in Wirklichkeit gibt? Ich öffne die norwegische Wanderwege–App. Leider ist die Karte nur unscharf und ich habe keinen Empfang, um mehr zu laden. Diese App zeigt auch einen Weg an, allerdings an anderer Stelle. Ich hatte mich echt motiviert, diese letzte Steigung noch zu bewältigen. Dass ich nun aber mit dem Handy in der Hand und meiner GPS Position hier querfeldein durch den Sumpf und dichtes Gebüsch streunere, hatte ich nicht geplant. Was ist, wenn es diesen Weg gar nicht gibt? Dann müsste ich einen ziemlich großen Umweg laufen. Ich will heute mehr wissen und nicht einfach hier mein Zelt aufstellen. Nach 25 Minuten finde ich den Weg. Gott sei Dank! Ich mache eine weitere Pause und trinke 1/2 l Wasser. Als ich weiter gehe, raschelt es 15 m links von mir im Gebüsch. Ein Rentier flüchtet vor mir. Wie geil! Diesmal bin ich mir 100-prozentig sicher. Ich gehe weiter, und freue mich, dass der Pfad eindeutig ist und sich nicht irgendwo im Busch verliert. Schritt für Schritt kämpfe ich mich den steilen Weg bergauf. Plötzlich sehe ich mehrere Rentiere 20 m vor mir auf der anderen Bachseite. Auch ein ganz kleines ist dabei. Ich bin einfach nur beeindruckt, solche Tiere in freier Wildbahn sehen zu dürfen. Ich gehe weiter und die Rentiere scheinen mich nicht zu bemerken. Als uns nur noch der Bach und 15 m trennt, scheint mich ein Rentier zu sehen. Es schaut mich an, macht aber nichts weiter. Erst als ich weiter gehe und mich frage, was passiert, wenn sich unsere Wege kreuzen, wird die ganze Gruppe von sieben oder acht Rentieren auf mich aufmerksam und läuft davon. Ich bin total geflasht. Die Anstrengungen sind gerade total vergessen. Ich kämpfe mich noch durch ein Schneefeld hoch und betrete ein baumloses Hochtal. Zwei Bäche, Sumpf, Schneefelder. Links und rechts steigen steile Wiesenhänge und Felsen empor. Als ich rechts auf den Berg sehe, erschrecke ich mich fast. Keine Gruppe, eine ganze Herde voll Rentieren steht dort oben und schaut mich an. Bestimmt 100 Tiere! Sie beobachten mich eine Weile und flüchten dann links hinter einen Gipfel. Wahnsinn! Als ich weiter hoch gehe, entdecke ich die Herde wieder, die wiederum zurück auf die andere Seite des Berges flüchtet. Ich gehe noch ein paar Meter und bin unfassbar glücklich. Sollche Momente erleben zu dürfen ist etwas ganz besonderes. Ob es zu einer Reise wie dieser hinterher einen Film gibt oder nicht, ist für mich in diesem Zusammenhang gerade nicht wichtig. Die Themen, die mir wichtig sind, kann ich sicher in einem anderen Projekt verarbeiten. Aber Momente, wie diese zu erleben, ist einzigartig schön. Hier oben, inmitten von rauhem Fels, Schneefeldern und kleinen Bächen - wo man Entfernungen gar nicht richtig einschätzen kann, stehe ich nun tief erfüllt. Das Gegenteil von heute Morgen. Ich entschließe mich, hier zu bleiben. Eigentlich wären es noch etwas mehr als 1 km, den ich heute noch locker geschafft hätte. Aber dazu hätte ich wieder leicht absteigen müssen in ein schattiges Tal. Hier genieße ich die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Es ist ganz schön frisch hier auf ungefähr 1100 m. Trotzdem geht es mit dem Waschlappen noch an einen kleinen Bach zur Abendwäsche. Das Schmelzwasser ist unfassbar kalt. Dann gehe ich ins Zelt, mache mir was warmes zu essen und gieße mir von dem übrigen heißem Wasser noch einen Cappuccino auf. Fast 24 km, knapp 1000 Höhenmeter und so ein wunderbarer Abschluss. Was für ein Tag!
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    You might also know this place by the following names:

    Uredalen, Q35421715

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