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  • Ein paar Stiefel & zwei gußeiserne Witze

    June 10, 2021 in Germany ⋅ ☀️ 25 °C

    Die Provinz Brandenburg hat ihren eigenen speziellen Ruf mit völliger Abgeschiedenheit und als wirtschaftliches Schlusslicht in Deutschland. Unter vielen Freizeit-Enthusiasten ist es gleichwohl ein Eldorado voller Erholungsmöglichkeiten fernab der See oder der Berge, denn Brandenburg ist flaches Land. Keine Berge? Fast! Auf dem Weg von der Elbe zur Sächsisch-Preußischen Grenze geht es nur Bergauf. Im Wald beobachten mich dabei so viele Rehe dass ich gefühlt nur die Hand ausstrecken brauche um eines mitzunehmen. Oben auf dem Heideberg angelangt befindet sich fünf Meter neben dem Weg der Vermessungspunkt Strauch der Sächsischen Triangulation mitten im Wald. Wie die von hier die nächsten Vermessungspunkte ausfindig gemacht haben ohne in die Bäume zu klettern ist mir heute ein Rätsel. Auf der anderen Seite des Weges befinde ich mich bereits in Brandenburg. Dort wo ich unbedingt am Vortag noch hin wollte. Hauptsache raus! Und dort befindet sich auf dem Heideberg ein Aussichtsturm auf 201,4m Es ist der höchste natürliche Punkt Brandenburgs - und weil über 200m gelegen zählt er offiziell zum Mittelgebirge. Eine knappe Sache!
    Ich habe nur kurz geschlafen. In diesen Sommertagen ist es noch nicht richtig finster wenn die Sonne früh schon wieder aufgeht. Ich habe Kopfschmerzen. Mir ist schlecht. Scheinbar habe ich am Tag zuvor so wenig getrunken dass ich eine Stunde lang nicht einmal mein Müsli essen möchte. Der Kreislauf ist nach der kurzen Nacht am Boden ich würde am liebsten weiter schlafen. Aber irgendwie meint mein Kopf 'wenn es hell ist schläft man nicht, dann gibt es viel zu viel zu entdecken'. Vom Turm blicke ich hinaus in das weite, unendliche Brandenburg. Unter mir wächst der Kiefernwald wie Spargelstangen. Der Weg führt bis zum Fluss Elster immer über Felder und Alleen. Es ist durchaus viel Schatten und glücklicherweise eine gute Eingewöhnung auf die erbarmungslose Sonne die nun folgt. Weder die Lausitz noch der Braunkohletagebau kennen hier grenzen. Von Leipzig bis an die polnische Grenze erstrecken sich über 200km fast durchgängig Braunkohlefelder die seit über hundert Jahren besonders intensiv bewirtschaftet wurden. Die Kohle liegt hier sehr flach unter Tage und so hat man im Laufe der Zeit den gesamten Landstrich einmal umgegraben. Alle 20km führt eine Straße durch das Gräberfeld und Dörfer wurden im Umfeld über Kilometer weit einfach weg gebaggert. Existenzen ausgelöscht für den Profit. Und das in einer Zeit als man meinen könnte die Marktwirtschaft wurde noch nicht einmal definiert.
    Mit der hohen Leistungsfähigkeit des Tagebaus Plessa konnte der Tagebaudirektor Fritz von Delius weitere Abnehmer für seine Kohle immer gut gebrauchen. Als fortschrittlicher Ingenieur errichtete er die erste Förderbrücke der Welt und nun musste die geförderte Kohle auch verarbeitet werden trotz dass nach dem Ersten Weltkrieg der Umsatz wegbrach und die Leute zum Teil in Kurzarbeit gehen mussten. Wer kennt das heute nicht? Im April 1927 wurden darum auch das erste Elektrizitätskraftwerk der Region und eine Brikettfabrik in Betrieb genommen. Im Vergleich zu den modernen Kraftwerken wie Lippendorf und Schwarze Pumpe war es ein Zwerg. Spätestens mit der Wende wurden Zwerge wie dieser jedoch stillgelegt. Im Gespräch erfahre ich dass der stillgelegte Tagebau und die Kraftwerke heute dennoch bedeutende Arbeitgeber in der Region sind. So stark der Verfall äußerlich vielleicht zehrt, so viel geben die Menschen für den Erhalt ihrer eigenen Vergangenheit und Geschichte. Das merke ich immer wieder. Besonders beeindruckt hat mich heute dabei die Förderbrücke F60 in Lichterfeld. Da wird man selbst zum Zwerg sobald man unter dem Koloss mit seinen 500m Länge und 74m Höhe steht. Was heute zum Anfassen ist mag man sich gar nicht vorstellen dass Menschen vereint daran mehr geschweißt und genietet haben als denn am Eifelturm. 29.000m³ Erde pro Stunde. Da kommt man im Umgraben gut voran. Auf der Anlage sind 2,5km Förderbänder, 72 Häuser und Kabinen und noch vieles mehr verbaut. Eine Stadt auf dem Koloss sozusagen. Er verbraucht ja auch Strom für 3.600 Haushalte. Insofern...einmalig. Also, dreimalig, denn drei Förderbrücken gibt es von dieser Größe und zwei sind heute noch in Betrieb. Die dritte arbeitete gerade einmal zwei Monate. Dann kam die Wende. Als wäre das nicht Satire genug wollte man den Koloss danach einfach wieder abbauen und verschrotten. Nach zwei Monaten! Glücklicherweise kam es anders und wir können hautnah miterleben wie die Kohle uns prägt. Humor und Satire sind zuweilen das zweite Standbein geworden denn nicht jeder findet in der Braunkohle heute immer noch Arbeit. Auf dem Weg aus dem Kohlerevier gelange ich nach Calau. Der Name der Stadt wurde durch die 'Kalauer' über das ganze deutsche Sprachgebiet verbreitet. Das bezeichnet eine genau bestimmte Art Witze oder Wortspiele die stets doppelsinnig waren. Regelmäßig erschien die politische Satire in der Zeitschrift 'Kladderadatsch'. Wohlbekannt und z.B. bereits auf der internationalen Londoner Industrieausstellung 1851 als wirtschaftlicher Erfolg in der Region bekannt. Je weiter ich in den Dunstkreis von Berlin gelange umso mehr prägen große Philosophen und Schreiber das Landschaftsbild. Das unscheinbare Calau ist dabei der gelungene Übergang von der Arbeiterschaft im Tagebau zu den preußischen Aristokraten. Und natürlich darf die extra große Portion Eis am Nachmittag nicht fehlen.
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