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  • Day 85

    30.000 unbekannte Schicksale

    May 3, 2023 in Argentina ⋅ ☁️ 16 °C

    Stelle sich einer vor ich bekomme erzählt dass ich heute in eine große Stadt fahre. Die zweitgrößte Stadt des Landes. Sieben Universitäten, unzählige Museen, Theater, Kultur, Geschichte… und dann komme ich an und habe Mühe das überhaupt zu finden was mir hier versprochen wurde. Die Straßenzüge sind eng. Das Zentrum wirkt beklemmend auf mich selbst wenn die Häuser selten höher wie vier Etagen haben. Zugegeben wusste ich bis vor ein paar Wochen noch nicht einmal dass es in Argentinien überhaupt ein Cordoba gibt. Voriges Jahr war ich ja erst im spanischen Pendant und das wirkt auf den ersten Blick schöner. Nach 3x3 Blöcken habe ich das Gefühl die Stadt besichtigt zu haben. Die Museen haben noch geschlossen, also ab auf den Markt. Wenigstens da ist schon leben. Was ich aber hier in Argentinien fast überall vermisse sind die für Lateinamerika so typischen Marktküchen und Essenstände. Zuletzt gab es ganz am Anfang in Santiago welche, seither nie wieder. Dabei wüsste ich nicht was es an frisch zubereiteten Leckereien anstatt Kaffee und Kuchen auszusetzen gäbe. Ich muss mich ein wenig zurück nehmen. Ich habe seit ein paar Tagen Zahnweh von dem vielen Süßkram.

    Wieder zurück geht es auf tiefgründige Entdeckungstour. Der historische Schatz der Stadt liegt nämlich unter der Erde. Bei Straßenbauarbeiten fiel 1990 plötzlich der gesamte Untergrund zusammen und legte eine Alte Jesuitenmission frei. Die Jesuiten waren jene strenggläubigen evangelischen Christen die der Spanische König mit der Eroberung Südamerikas gleich im 16. Jahrhundert hierhin übersiedelte. Ihr Leben und ihre Arbeit will ich mir später noch anschauen.

    Der Zeitgenössische Schatz der Stadt lässt sich indes noch schwerer fassen. Es geht um Aufarbeitung und ein riesiges Staatsarchiv. Inmitten der Stadt umgeben von Kirchen, Plätzen und dem ganz normalen Alltag unterhielt die geheime „Aufklärungsabteilung“ (D2) ein Folter- und Internierungslager. Die Sondereinheit der argentinischen Militärdiktatur hatte die Aufgabe mögliche Aufwiegler zu entführen, zu foltern und deren Kinder an politisch „unverdächtige“ Familien zu „vermitteln“. Tausende Schicksale sind bis heute ungeklärt. Am meisten berührte mich die Geschichte zweier Geschwister bei denen die Schwester auf dem Weg entführt wurde, nur weil sie den fünf Minuten zuvor entführten Bruder bei der Polizei melden ging. Die Polizei erfuhr davon natürlich nichts. Die Diktatoren kannten hingegen bereits alle Möglichkeiten der Folter. Enge, kalte Zellen, überbelegt. Platzangst, Wasserfolter, körperliche Peinigung. Meist blieb den Mitarbeitern gar nichts anderes übrig als ihre verstümmelten Opfer mehr oder weniger lebendig verschwinden zu lassen.
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