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  • Day 6

    Die Sonnenfinsternis vom 8. April 2024

    April 8 in the United States ⋅ ☀️ 26 °C

    "Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiß, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes. So ist es mir mit der totalen Sonnenfinsternis ergangen, welche wir in Wien am 8. Juli 1842 in den frühesten Morgenstunden bei dem günstigsten Himmel erlebten. Da ich die Sache recht schön auf dem Papiere durch eine Zeichnung und Rechnung darstellen kann, und da ich wußte, um soundso viel Uhr trete der Mond unter der Sonne weg und die Erde schneide ein Stück seines kegelförmigen Schattens ab, welches dann wegen des Fortschreitens des Mondes in seiner Bahn und wegen der Achsendrehung der Erde einen schwarzen Streifen über ihre Kugel ziehe, was man dann an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten in der Art sieht, daß eine schwarze Scheibe in die Sonne zu rücken scheint, von ihr immer mehr und mehr wegnimmt, bis nur eine schmale Sichel übrigbleibt, und endlich auch die verschwindet - auf Erden wird es da immer finsterer und finsterer, bis wieder am andern Ende die Sonnensichel erscheint und wächst, und das Licht auf Erden nach und nach wieder zum vollen Tag anschwillt - dies alles wußte ich voraus, und zwar so gut, daß ich eine totale Sonnenfinsternis im voraus so treu beschreiben zu können vermeinte, als hätte ich sie bereits gesehen.
    Aber, da sie nun wirklich eintraf, da ich auf einer Warte hoch über der ganzen Stadt stand und die Erscheinung mit eigenen Augen anblickte, da geschahen freilich ganz andere Dinge, an die ich weder wachend noch träumend gedacht hatte, an die keiner denkt, der das Wunder nicht gesehen."
    "Ich will es in diesen Zeilen versuchen, für die tausend Augen, die zugleich in jenem Momente zum Himmel aufblickten, das Bild und für die tausend Herzen, die zugleich schlugen, die Empfindung nachzumalen und festzuhalten, insofern dies eine schwache menschliche Feder überhaupt zu tun imstande ist."
    182 Jahre später stehe ich neben einem amerikanischen Motel am Rande einer Kleinstadt in Arkansas. Die Wettervorhersage ist eingetroffen. Außer einigen dünnen Cirren ist der Himmel wolkenfrei, die Sonne scheint.
    Der Vormittag vergeht mit letzten Vorbereitungen. Verschiedene Sonnenfinsternisbrillen werden verglichen, Filterfolien auf Fernrohre geklebt, Kameraeinstellungen ein letztes Mal gecheckt. Auf dem Rasen des Motels hat sich eine gutgelaunte Schar von Beobachtern eingefunden. Freundlich, wie die Amerikaner sind, kommt man leicht mit ihnen ins Gespräch über das woher und wohin und die Einzelheiten ihres Equipments.
    Erst um 12:33 Uhr ist der 1. Kontakt. Wenige Minuten später sieht man auch ohne Fernrohr, dass die bisher perfekt runde Sonnenscheibe eine Delle hat. "Endlich zur vorausgesagten Minute - gleichsam wie von einem unsichtbaren Engel - empfing sie den sanften Todeskuß, ein feiner Streifen ihres Lichtes wich vor dem Hauche dieses Kusses zurück, der andere Rand wallte in dem Glase des Sternenrohres zart und golden fort - "es kommt", riefen nun auch die, welche bloß mit dämpfenden Gläsern, aber sonst mit freien Augen hinaufschauten - "es kommt", und mit Spannung blickte nun alles auf den Fortgang."
    Die partielle Phase dauert eineinviertel Stunde. Allmählich wird ein immer größerer Teil der Sonnenscheibe vom Mond bedeckt. Schließlich wird sie sichelförmig. Die Sonnenwärme nimmt spürbar ab. Man meint, es sei dunkler als bei solch sonnigem Wetter üblich. "Indes nun alle schauten und man bald dieses, bald jenes Rohr rückte und stellte und sich auf dies und jenes aufmerksam machte, wuchs das unsichtbare Dunkel immer mehr und mehr in das schöne Licht der Sonne ein - alle harrten, die Spannung stieg; aber so gewaltig ist die Fülle dieses Lichtmeeres, das von dem Sonnenkörper niederregnet, daß man auf Erden keinen Mangel fühlte ..."
    Zwanzig Minuten vor der Totalität verlasse ich die Gesellschaft der anderen Beobachter und gehe zu der nahegelegenen Brücke über die Interstate 40 hinauf. Hier habe ich einen weiteren Blick auf den Horizont und entlang der Autobahn.
    Die Sonnensichel wird schmaler und schmaler. Ein letzter Lichtstrahl fällt "wahrscheinlich durch die Schlucht zwischen zwei Mondbergen zurück - es war ein überaus trauriger Augenblick - deckend stand nun Scheibe auf Scheibe - und dieser Moment war es eigentlich, der wahrhaft herzzermalmend wirkte - das hatte keiner geahnet - ein einstimmiges "Ah" aus aller Munde, und dann Totenstille, es war der Moment, da Gott redete und die Menschen horchten." Von einer Sekunde auf die andere findet man sich in einer fremden Welt wieder. Am Himmel steht die Sonne, jetzt schwarz, umgeben von der Korona. Am Rand ein paar rote Protuberanzen. Die hellsten Sterne erscheinen am Himmel. Nicht weit rechts von der Sonne scheint hell die Venus. Am Horizont scheint hellorangenes Licht, wie in der Morgendämmerung, aber in alle Richtungen. Der Anblick ist äußerst fremdartig, beunruhigend und unfassbar schön zugleich, nichts weniger als atemberaubend. "... der eine hob die Hände empor, der andere rang sie leise vor Bewegung, andere ergriffen sich bei denselben und drückten sich - eine Frau begann heftig zu weinen, eine andere in dem Hause neben uns fiel in Ohnmacht, und ein Mann, ein ernster fester Mann, hat mir später gesagt, daß ihm die Tränen herabgeronnen."
    Auf der Autobahn unten ist es stockdunkel. Die Trucker haben die Lichter an und fahren weiter. Ich versuche, mir die Zeit einzuteilen. Zwei Minuten verwende ich darauf, zu fotografieren. Ich probiere alle möglichen Belichtungen und Brennweiten durch, damit am Ende irgend etwas Verwendbares dabei ist. Die restliche zwei Minuten sitze ich auf meinem Betonsockel über der Autobahn und versuche, zu verstehen, was ich gerade erlebe.
    Allzu schnell ist alles wieder vorbei. Der erste Lichtstrahl bricht sich Bahn, schon wird es wieder hell. Nach einem kurzen Moment der Ruhe gehe ich zurück zum Motel. Ich freue mich, dass meine Pläne aufgegangen sind und ich die Finsternis - meine vierte - sehen durfte. Am Motel freuen sich alle über die erfolgreiche Beobachtung und tauschen sich über dieses oder jenes Detail aus, das sie gesehen haben. Nur die Wenigsten warten das Ende der partiellen Phase ab. Rasch packen sie ihre Ausrüstung in die Autos. Die Meisten haben noch viele Stunden Autofahrt vor sich, bevor sie wieder zu Hause sind. Alle wünschen sich gegenseitig eine sichere Reise und machen sich dann auf den Weg. "Das Wachsen des Lichtes machte keine Wirkung mehr, fast keiner wartete den Austritt ab, die Instrumente wurden abgeschraubt, wir stiegen hinab, und auf allen Straßen und Wegen waren heimkehrende Gruppen und Züge in den heftigsten, exaltiertesten Gesprächen und Ausrufungen begriffen. Und ehe sich noch die Wellen der Bewunderung und Anbetung gelegt hatten, ehe man mit Freunden und Bekannten ausreden konnte, wie auf diesen, wie auf jenen, wie hier, wie dort die Erscheinung gewirkt habe, stand wieder das schöne, holde, wärmende, funkelnde Rund in den freundlichen Lüften, und das Werk des Tages ging fort."
    Ich bleibe noch bis morgen früh hier. Dann habe ich auch wieder eine lange Autofahrt vor mir.
    Übrigens: Auch in Eagle Pass, wo ich eigentlich die Finsternis sehen wollte, wurde sie erfolgreich beobachtet. Auf den Fotos von dort sieht man dicke Wolken und besorgte Gesichter, aber am Ende konnte man die Finsternis offenbar doch durch die Wolkenlücken hindurch sehen.
    "Ich habe immer die alten Beschreibungen von Sonnenfinsternissen für übertrieben gehalten, so wie vielleicht in späterer Zeit diese für übertrieben wird gehalten werden; aber alle, so wie diese, sind weit hinter der Wahrheit zurück."
    Alle Zitate aus Adalbert Stifter, Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842, nachzulesen (es lohnt sich), z.B. hier: https://www.strickling.net/stifter_sofi.htm
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