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  • Day 15

    Chichén Itzá

    November 7, 2022 in Mexico ⋅ ⛅ 29 °C

    Joe und ich sind schon in vielen Ländern Taxi gefahren, in denen ein fragwürdiger Fahrstil an der Tagesordnung stand. Überholen in Serpentinen, Vollgas über Rot und ein „Oh, don’t worry, Madam, you want water?“ als schlechte Entschuldigung sind uns nicht fremd. Die Fahrt nach Chichén Itzá hat uns an unsere emotionalen Grenzen gebracht, um nicht zu sagen: fast ins Grab. Aber fangen wir von vorne an:

    Der Morgen beginnt turbulent, da gefühlt das gesamte Hotel eine Tour mit Maya B Tours gebucht hat und weder Busse noch Passagiere pünktlich sind. Da Stressbewältigung am frühen Morgen nicht zu meinen Stärken gehört, wie ich ganz selbstreflektiert an dieser Stelle zugeben möchte, setze ich mich auf die nächstbesten Treppenstufen und stelle eine geheime Top Ten Liste der nervigsten Menschen in meinem Umfeld auf. Joe gehört nicht dazu, liefert aber fleißig Vorschläge, indem er mich auf Menschen hinweist, die ich nicht bemerkt haben könnte.

    Mit 30 Minuten Verspätung hält ein klappriger Kleinbus, dessen Bass auch den letzten Spätzündern unfehlbar verkündet, dass der Morgen angebrochen ist. Glücklicherweise stellt der Fahrer die Musik auf unser Bitten hin auf ein lautes, aber nicht mehr gesundheitsschädigendes Niveau ein. Wir quetschen uns in eine Sitzreihe und stellen fest, dass wir mit knapp 1,75m Körpergröße heute beide breitbeinig sitzen müssen, um irgendwie hineinzupassen. Ich händle die Situation auf die einzig ertragbare Weise, stopfe mir Ohropax in die Ohren, lehne die Stirn auf den Vordersitz und träume mich an eine Strandliege.

    Ein Pluspunkt ist, dass wir heute nur zu sechst sind (es gibt insgesamt etwa 15 Sitze), sodass wir uns zumindest über die Reihen hinweg ausbreiten können. Drei Stunden dauert die Fahrt nach Chichén Itzá. Bei einer kurzen Rast in einem Laden kommt sofort ein Verkäufer auf uns zu und ist ungewohnt aufdringlich, in dem er uns fragt, wo wir her kommen, ob er uns nicht noch dieses und jenes verkaufen könne. Ich bin heute so müde und gestresst, dass ich einfach davon laufe. Nicht sehr erwachsen, aber hilfreich.

    In Chichén Itzá angekommen empfängt uns unser englischer Guide. Und als wir endlich einen Blick auf die große Pyramide werfen, merken wir, dass die Fahrt sich gelohnt hat. Sie ist nicht so groß wie die Sonnenpyramide in Teotihuacán, aber unser Guide erklärt uns, dass sie gebaut wurde, um den vogelähnlichen Gott Quetzalcóatl zu verehren und zeigt uns, warum, in dem er etwa dreißig Meter von der Pyramide entfernt in beide Hände klatscht. Von oben aus der Pyramide schallt im selben Moment der Ruf eines Vogels zurück. Die Maya wussten, wie sie ein Echo erzeugen können, dass original wie der Quetzalcóatl klingt. Und wieder stehen Joe und ich da und fragen uns, was uns alles mit Hernán Cortez und seinen Nachfolgern an Wissen und kulturellem Reichtum verloren gegangen ist. Wir empfinden so viel Ehrfurcht vor dieser Kultur, die genauso weit entwickelt, wenn nicht sogar weiter, war als wir in Europa und einfach das Pech hatte, durch innere Konflikte und fehlende Waffen unterlegen zu sein.

    Joe hat übrigens noch nicht, wie er es sonst gerne macht, behauptet, in seiner Urahnenliste einen Maya-Krieger zu führen. Bisher sind nur Römer, Germanen, Wikinger, Gladiatoren und - ganz wichtig - eine Menge bayerischer Landsleute vertreten. Ich vermute, er ist von den Vorliebe der Mayas für Menschenopfer etwas abgeschreckt. So wurden nicht nur die Köpfe Gefangener als Gruß an die Feinde aufgespießt, es wurden auch regelmäßig Mitglieder der eigenen Gemeinschaft jedweden Alters hochdekoriert in Cenoten ertränkt. Genauso fanden zur Unterhaltung der Allgemeinheit Sportspiele statt, bei denen der ruhmreiche Gewinner am Ende enthauptet wurde. Das soll übrigens auch der Grund sein, weshalb Mexiko noch nie die Weltmeisterschaft gewonnen hat.

    Nach der Tour gehen Joe und ich auf die Suche nach einem Kühlschrank-Magneten. Joe möchte gerne eine Pyramide haben, hat aber ganz genaue Vorstellungen: sie muss auf jeden Fall aus Chichén Itzá stammen, die genaue Anzahl der Pyramiden-Stufen haben und darf nicht zu groß sein. Es dauert erstmal, bis wir kleine Magneten finden, denn die ersten Händler versichern uns, dass es aufgrund des Materials nahezu unmöglich sei, kleinere Magneten herzustellen als die, die sie vertreiben. Zwei Stände weiter werden wir doch fündig. Während Joe die Stufen der Pyramide zählt merke ich, dass ich mittlerweile ziemlich sicher auf Spanisch verhandeln kann. Sogar Zahlen kann ich jetzt, was bisher immer ein rotes Tuch war. Und auch Joe schnappt immer mehr Wörter und Sätze auf, die er dann auf einmal einfach so raus haut.

    Zurück im Bus beginnt eine Fahrt, die wir im Nachhinein nur als Höllenritt bezeichnen können. Unser Fahrer überholt sowohl rechts als auch links, sodass die Autos und Busse auf unserer wie auf der gegenüberliegenden Seite ausweichen und abbremsen müssen. Auf unsere Bitten, langsamer zu fahren, reagiert er mit Taubheit. 
    „Schnall’ dich an, Amyli!“, sagt Joe und drückt mir den Gurt in die Hand.
    An dieser Stelle sei gesagt, dass Joe eigentlich immer der Tiefenentspannte ist, der noch lacht, wenn ich schon Todesängste ausstehe. Wir alle sind froh, als der Feierabendverkehr unseren Fahrer ausbremst.
    „CUIDADO, POR FAVOR!“, brülle ich mit einer mir fremden Stimme aus dem tiefsten evolutionären Überlebenssektor meines Körpers, als wir um ein Haar unserem Vordermann auffahren.
    „Was hast du dem gesagt?“, fragt Joe.
    „Dass der blöde Hurensohn uns am Leben lassen soll!“, erwidere ich, „Ich kotz’ dem gleich in die Karre!“
    Aber ehe ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann, fährt unser Fahrer mit einer scharfen Linksdrehung über die Bordsteinkante in den Gegenverkehr der Autobahn. In zweieinhalb Wochen Mexiko haben wir trotz einiger großzügig ausgelegter Straßenverkehrsregeln noch nie Busse so laut Hupen hören.

    Ich denke, ich muss nicht erwähnen, dass das die erste Tour war, bei der wir dem Fahrer am Ende kein Trinkgeld gegeben haben. Auch wenn die Fahrt schrecklich war und wir uns geschworen haben, zukünftig hierauf noch mehr Acht zu geben, bleibt uns dennoch eine beeindruckende Pyramide in der Erinnerung, die auch heute noch etwas von dem verborgenen Wissen ausstrahlt, dass ihre Macher eins für sich entdeckt haben.
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