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  • Day 7

    Joker

    May 31, 2022 in Spain ⋅ ⛅ 23 °C

    6. Lauftag, Sant Feliu de Guixols - Blanes, 24 km, 830 m d+

    Hätte ich diesen Text ein paar Stunden früher geschrieben, würde er wahrscheinlich ganz anders klingen. Mittlerweile hat sich die ganze Situation wieder ein bisschen relativiert und mir geht es gut.

    Ein bisschen Schuld am ganzen Debakel hatte wahrscheinlich die letzte Nacht. Ich konnte kaum schlafen, hatte immer wieder zu kalt und rauschte von einem Hypo ins nächste. Um 6 Uhr klingelte der Wecker und ich fühlte mich wie gerädert. Heute standen 39 km auf dem Plan, kaputt war ich schon bevor ich überhaupt angefangen habe.
    Da ein Morgen mit Motivationsproblemen aber nichts Ungewöhnliches ist, dachte ich mir nichts weiter dabei und startete wandernd die ersten Kilometer. Auf dem ersten Hügel oben angelangt fand ich mich umgeben von Bonzenvillen, da fiel einem wirklich die Kinnlade runter. Das gesamte Quartier war allerdings videoüberwacht und ich sah auch plötzlich kein Wanderzeichen mehr. Ein Blick auf die Karte verriet mir, dass ich falsch war. Also Hügel wieder runter und dieses Mal die richtige Abzweigung nehmen... diese existierte aber nicht, dort gab es gar keinen Weg. Also Hügel doch wieder hoch und eine andere Alternative suchen.
    So nahm das ganze Unglück seinen Anfang. Ich landete auf irgendwelchen schmalsten Singletrails und hatte für 10 m lang noch Freude daran, bis ich anfangen musste, mich durchs Dickicht zu kämpfen. Wieder und wieder verlor ich den Weg. Irgendwann begann ich unter den Strommasten zu gehen. Das war zwar kein offizieller Weg, aber dort wuchs wenigstens kein Gestrüpp. Allerdings ging dort das Gehen schnell in ein Kraxeln auf allen Vieren über, es war so steil. Und ich kam und kam einfach nichts vorwärts, war kurz vor dem Verzweifeln und stand den Tränen nahe. Ich hatte erst ein paar Kilometer geschafft, aber war bereits völlig am Ende. Wie soll ich heute 39 km schaffen? Irgendwann war ich an einem Punkt angelangt, als ich mir selbst eingestehen musste, dass das so keinen Wert mehr hat. Ich überlegte mir den gleichen Weg zurück ins Dorf zu gehen und dort den Bus zu nehmen. Wer mich kennt, weiss, dass mir die Entscheidung, den Bus zu nehmen und in diesem Sinne "aufzugeben" sehr schwer fällt. In diesem Fall war sie plötzlich sehr leicht. Es zeigte mir allerdings nur eine Busverbindung an, die vier Stunden brauchte. So konnte ich mich dann überwinden, wenigstens noch ins nächste Städtchen Tossa de Mar zu gehen, von wo aus es tip toppe Verbindungen zu meinem Zielort Blanes gab. Die Entscheidung war dann schnell gefällt. Das nächste Städtchen war allerdings immer noch 16 km von meinem dortigen Standort entfernt und es blieb dann auch nicht das letzte Mal, dass ich mich an diesem Tag verirrt habe. Auch meine Verpflegung (v.a. das Wasser!!) wurde irgendwann knapp, weil ich nicht damit gerechnet habe, so lang bis in den nächsten Ort zu brauchen. Irgendwann habe ich dann zurück in die Zivilisation gefunden, bin in den Bus eingestiegen und war noch in der gleichen Minute eingeschlafen. Nun kam alles gut.

    In meinem Hinterkopf hörte ich noch Davids Stimme, wie er mir vor den Ferien sagte, ich solle mich nicht kaputt machen, ich müsse ja niemandem etwas beweisen. Und das stimmt, ich muss wirklich niemandem etwas beweisen. Nicht einmal mir selbst. Denn ich weiss, ich hätte das schon noch irgendwie geschafft, ich hätte die 39 km schon machen können, auch wenn ich erst um 20 Uhr angekommen wäre. Ich weiss aber auch, wie ich mich dabei gefühlt hätte. Ich war heute 7 Stunden unterwegs und war davon etwa 6:55 Stunden im Loch. Da war keine Hoffnung mehr auf ein Motivationshoch, nicht heute. Deswegen belastet mich die Entscheidung, heute den Joker gezogen zu haben und den Bus genommen zu haben erstaunlich wenig. Ich war dann um 16 Uhr im Hotel und habe am Pool die Füsse hochgelegt. Morgen werde ich ausnahmsweise sogar einmal im Hotel frühstücken und etwas später als normal loslaufen. Ich bin zuversichtlich, dass morgen wieder ein guter Tag wird. Bis dahin, gute Nacht.
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