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  • Day 187

    Vipassana

    December 14, 2019 in Nepal ⋅ ⛅ 13 °C

    Entschuldigt die Verspätung, aber mit diesem Beitrag habe ich mich etwas schwer getan. Zum einen ist es nicht einfach, die letzten 10 Tage zu beschreiben, zum anderen sehr persönlich. Starten wir also erst mal mit dem Versuch einer generellen Erklärung (wenn es teilweise etwas holprig klingt - man kann nicht alles 1:1 aus dem Englischen übersetzen). ;)

    Vipassana bedeutet wörtlich, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind. Es ist eine über 2500 Jahre alte Meditationstechnik, die aus dem Buddhismus stammt, aber nicht an eine Konfession gebunden ist. Populär gemacht wurde sie seit den 70er Jahren von S.N. Goenka, der von Indien ausgehend Zentren auf der ganzen Welt gründete.

    Ziel ist es, sich von seinem Leiden zu befreien und in Frieden und Harmonie zu leben. Die Technik basiert auf der Annahme, dass allem Leiden Negativität/Unreinheiten des Geistes zugrunde liegen. Diese entstehen, weil Dinge geschehen, die man nicht möchte (man reagiert mit Abneigung/Aversion) oder Dinge nicht geschehen, die man möchte (man reagiert mit Verlangen). Um ein glückliches Leben führen zu können, sollte man sich folglich von dem Gefühl von Aversionen oder Verlangen befreien. Dies könnte man durch Ablenkung tun, damit verlagert man das Problem allerdings nur ins Unterbewusstsein (dürfte jeder von uns kennen ;)). Besser ist es, sich dem Gefühl zu stellen, indem man es beobachtet. Das sollte allerdings geschehen, bevor es wirklich ins Bewusstsein gelangt, weil es dann oft schon zu spät ist. Wie beobachtet man also ein Gefühl im Unterbewusstsein?
    Indem man sich den Zusammenhang zwischen Körper und Geist zunutze macht.
    Vipassana geht davon aus, dass jede Unreinheit des Geistes Auswirkungen auf der physischen Ebene hat. Einerseits führt sie zu einer Veränderung des Atem, andererseits zu weiteren biochemischen Reaktionen, die sich wahrnehmen lassen. Die Wahrnehmung/Empfindung solcher feinen Veränderungen soll durch die Meditation erlernt werden.

    Im Grunde ein sehr einleuchtendes Konzept, das sich ja auch in zahlreichen modernen Texten wiederfindet - unglücklich machen uns nicht die äußeren Umstände, sondern unsere inneren Reaktionen darauf.

    Und auch die eigentliche Technik, mit der während der Mediation gearbeitet wird, dürfte einigen bekannt vorkommen: Atembetrachtung und Bodyscan.
    Achtsamkeit ist also keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. ;)

    Konkret sah das Ganze so aus: An Tag 0 sind wir Teilnehmer (etwa 60 Frauen und etwas mehr Männer) mit Bussen zum Zentrum gefahren worden, das etwas außerhalb von Kathmandu auf einem Hügel liegt. Das Zentrum selbst besteht aus einer Meditationshalle und zwei separaten Bereichen für Männer und Frauen (die werden während der gesamten Zeit strikt getrennt), die jeweils in mehrere Schlafbaracken und eine "Dining Hall" unterteilt sind. Die Schlafgelegenheiten sind Räume mit circa 10 Betten, wobei Bett eine Holzplatte auf 2 steinernen Füßen bedeutet, auf die je eine dünne Auflage gelegt wurde. Ein bisschen so, als würde man auf einem Tisch schlafen. ;)

    Das Programm hatte ich euch ja schon gezeigt, und der Ablauf war jeden Tag der gleiche: um 4 Uhr ertönte ein Gong zum Wecken, der aber leider so leise war, dass die Helfer in der Regel noch einmal durch die Räume liefen und die letzten persönlich wecken mussten. Dann schnell in den Waschraum, kaltes Wasser ins Gesicht und von 4.30-6.30 Uhr die erste Sitzung in der Meditationshalle. Danach Frühstück - auf nepalesische Art, das heißt Reis, Hülsenfrüchte, kein Kaffee, aber immerhin 2 Scheiben trockenes Brot. Von 8.00-11.00 Uhr die nächste Sitzung, dann Mittagessen. Wiederum Reis, Hülsenfrüchte und Gemüse. Alles auf Blechteller und -näpfe verteilt und auf Hockern an langen Tischen eingenommen. Eine Mensa oder Kantine ist Luxus dagegen, das hatte eher Knastatmosphäre. Übrigens nicht nur beim Essen und Schlafen - auch ansonsten war der Blick vom Hügel durch die Gebäude verstellt, in den Pausen konnte man wie ein Tiger im Käfig auf etwa 200m Wegen durch den Frauenbereich spazieren, jeder Regelverstoß (zu spät kommen, Beine ausstrecken, ein versehentliches Wort) wurde sofort getadelt. Nach dem Mittagessen Pause bis 13 Uhr, die man in der Regel zum Duschen (da hieß es schnell sein, um eine der 4 Duschen mit warmem Wasser zu ergattern) oder Schlafen (auf dem Boden vor der Halle, da es zwar nachts empfindlich kalt, tagsüber in der Sonne aber schön warm war) genutzt hat.
    Von 13-17 Uhr dann der schlimmste Teil des Tages: 4 Stunden Meditation mit zwei fünfminütigen Pausen. Danach Tee, und für die neuen Teilnehmer 2 Stücke Obst, die Wiederholungstäter bekamen nach 11 Uhr nichts mehr zu essen. Von 6-7 wieder Meditation, danach Diskurs. Dazu wurden Videos eines Vortrags von S.N. Goenka aus dem Jahre 1991 abgespielt, in denen er die Technik und die Hintergründe erläuterte. Auch das übrigens auf dem Boden sitzend, und auch hier hieß es wieder schnell sein, da im Videoraum etwa 10 Plätze vorhanden waren, auf denen man sich zumindest an der Wand anlehnen konnte. Nach dem Diskurs nochmal eine halbe Stunde Meditation, dann endlich ins Bett. Geschlafen wurde in der Regel um 10, bis es um 4 wieder von vorne losging.

    In den ersten 2 Tagen sollte lediglich der Atem beobachtet werden, und zwar nur rund um die Nase. Am dritten Tag wurde der Konzentration weiter fokussiert auf den Bereich unterhalb der Nasenlöcher. Ab dem vierten Tag ging es dann, nachdem idealerweise die Wahrnehmung bereits geschärft wurde, mit dem eigentlichen Vipassana los. Hierbei wird der gesamte Körper nach Empfindungen abgesucht, von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Die Idee ist, dass man zunächst nur grobe Eindrücke wahrnimmt (Schmerzen, Berührung, Hitze, Kälte etc.), aber nach und nach in tiefere Schichten des Bewusstseins vordringt und damit auch feinere Empfindungen erspüren kann, bis man während des Scans nicht mehr auf Hindernisse stößt, sondern der Körper im Prinzip nur noch aus Vibrationen besteht.
    Die körperlichen Empfindungen spiegeln alte, festgesetzte Reaktionsmuster wieder - Aversionen und Verlangen. Dadurch, dass man sie ohne zu werten oder zu reagieren beobachtet und dabei ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass alles im Leben kommt und geht, also einem permanenten Wandel unterliegt, kommen diese festgefahrenen Reaktionsmuster an die Oberfläche, man kann sie aufbrechen und ablegen.

    Soviel zur Theorie, wie gesagt etwas hölzern übersetzt und stark vereinfacht.

    In der Praxis hat sich das Ganze für mich etwas anders dargestellt. Zum einen hatte ich wie vermutlich alle mit den äußeren Umständen zu kämpfen. Schmerzen (wobei das das kleinste Problem war), Schlafmangel, die wenig inspirierende Umgebung, das Gefühl des Eingesperrtseins, das Bewusstsein, dass endlose Tage des immer gleichen Ablaufs vor einem liegen (insgesamt 105 Stunden Meditation in 10 Tagen!). Keine Fluchtmöglichkeit - vor allem keine Möglichkeit, seinem eigenen Geist, seinem ewigen Gedankenkarussell zu entfliehen.
    Es gibt keine Ablenkung. Kein Handy, kein TV, kein Buch, keine Musik, kein Notizbuch, keine Kommunikation, keine Betäubung in Form von Nikotin, Alkohol oder ähnlichem.
    Und dieses Gefangensein in meinem eigenen Kopf war für mich viel schwerer zu ertragen als die äußeren Einschränkungen. Das Gehirn ist permanent damit beschäftigt, sich um Vergangenheit und Zukunft zu kümmern. Verharren in der Gegenwart? Keine Chance. Theoretisch soll sich der Geist in den ersten Tagen beruhigen, der Strom der Gedanken langsamer werden. Bei mir war das Gegenteil der Fall. Zum Ende hin drehte sich mein Gedankenkarussell schneller und schneller, mich auf die eigentliche Aufgabe zu konzentrieren wurde immer schwieriger.
    Entsprechend habe ich irgendwann nur noch die Stunden gezählt, bis es vorbei war (naja, ehrlich gesagt habe ich das fast von Anfang an getan ;)).

    Am zehnten Tag durfte dann das Schweigen gebrochen werden, damit man sich langsam wieder auf die reale Welt vorbereiten könnte. Viele der Damen hatten offensichtlich das Bedürfnis, die nicht gesagten Worte der vergangenen Tage nachzuholen – nach 10 Tagen Stille und wenig äußeren Eindrücken war das schon fast zuviel.

    Insgesamt haben die meisten ein positives Fazit gezogen – ich für meinen Teil war einfach froh, als es vorbei war. Vielleicht zeigt die Zeit, was es mir gebracht hat. Und wenn es nur die Erkenntnis ist, dass ich dringend mehr meditieren sollte, um irgendwann mal Herr (bzw. Frau) meiner Gedanken zu werden. In den letzten Tagen brauchte ich allerdings erst mal eine Pause. Und ungesundes Essen, Kaffee und Zigaretten, Musik und Telefonate. ;)

    PS: Eine weitere Herausforderung für die Gelassenheit waren die zwischendurch laut eingespielten Gesänge des 'Meisters'. Meist nur für ein paar Minuten, morgens früh allerdings für eine halbe Stunde. Guckt mal hier rein für einen Eindruck: https://youtu.be/lc6kiQxEEAA
    Für einen erklärten Morgenmuffel vor 6 Uhr früh nur schwer zu ertragen... ;)
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