Satellite
Show on map
  • Day 12

    Norbert Balance

    June 11, 2023 in Norway ⋅ ☀️ 21 °C

    Ich habe ja schon ein paar mal geschrieben, dass ich nachts nicht gut schlafe. Aber diese Nacht fällt es mir besonders schwer einzuschlafen. Bis nachts um 23:30 Uhr habe ich noch mein Tagebuch eindiktiert. Ich nutze oft die Diktatfunktion vom iPhone und mache hinterher ein paar Korrekturen. Mein Lieblingsmissverständnis bisher: „Norbert Balance.“ Norbert ist nicht mein Künstlername. Obwohl ich ernsthaft drüber nachdenke. 😄 Norbert Balance. Dieser Name erschien auf meinem Display als ich Norge på langs diktieren wollte.

    Ich drehe mich auf meiner Matratze hin und her. Obwohl es draußen ziemlich frisch ist, ist es im Zelt ziemlich angenehm. Allerdings habe ich bei der Auswahl meines Zeltplatzes die Fähigkeiten meiner aufblasbaren Isomatte ein wenig überschätzt. Der Boden unter mir ist so uneben, dass es keine ideale Liegestellung gibt. Aber das ist mir heute egal. Ich bin so zufrieden mit dem Tag, sowohl mit meiner sportlichen Leistung, als auch mit den Erlebnissen, insbesondere mit den Rentieren zum Schluss. Ich bin mir recht sicher, dass sich mein Körper allmählich an das tägliche Pensum gewöhnt. Außerdem steht mit dem morgigen Tag der Abschluss von einer zweiten, wichtigen Großetappe an. Die erste große Etappe waren die Tage bis Dølemo, wo insbesondere in zwei Tagen ausschließlich Straße zu bewältigen waren. Die zweite große Etappe startete ab Dølemo. Hier wusste ich, dass ich wenigstens fünf Tage nur in der Natur bin, ohne Straßen, ohne Einkaufsmöglichkeit. Beide Etappen waren herausfordernd, liefen in Summe aber ziemlich gut.

    Erst am Morgen gelingt es mir für ein paar Phasen, richtig wegzunicken. Müde, aber motiviert mache ich mir irgendwann den ersten Kaffee. Heute habe ich keine Lust auf Früchtemüsli mit heißem Wasser. Das habe ich jetzt elf Tage lang gefrühstückt. Vom ersten Tag an trage ich noch Trekkingfrühstücke mit mir herum. Heute ist eins davon fällig. Reispudding mit Beeren. Während des Frühstücks lese ich mir noch einmal meine Footprints der letzten beiden Tage durch. Beide sind noch nicht hochgeladen. Insbesondere der von gestern Abend ist schon recht intim. Ich überlege, ob ich ihn wirklich komplett veröffentliche oder Teile davon streiche. Aber auch nach zweimaligem durchlesen stehe ich voll zu dem, was ich schreibe.

    Obwohl ich heute einige Kilometer vor mir habe, die meisten davon auf der Straße, lasse ich den Morgen entspannt angehen. Ich trinke sogar zum ersten Mal einen zweiten Kaffee, den ich draußen in der Sonne genieße. Es ist fast windstill und eine unglaublich schöne Stimmung. Dann mache ich mich aber doch allmählich fertig.

    Zu Beginn suche ich gar nicht erst den Weg, den ich entlang gehen muss, denn das Tal vor mir gibt die Richtung klar vor. Viel entscheidender ist es, wie ich mir den besten Weg zwischen großen Schneefeldern und freiem Gelände plane. Heute breche ich immer häufiger im Schnee ein. Die Sonne scheint hier schon länger rein, und es ist nicht immer einfach, die Schneefelder richtig zu lesen. Später führt eine breite Schneebrücke über einen breiteren Bach. Meiner Einschätzung nach könnte sie halten. Allerdings glaube ich, dass der Konjunktiv hier draußen nicht immer dein bester Freund ist. Also gehe ich einige Meter zurück und finde eine Stelle, wo ich den Bach queren kann, ohne auf die Stabilität einer tauenden Schneebrücke hoffen zu müssen.

    Nach kurzer Zeit öffnet sich das Hochtal, und ein großer Wasserfall fällt rauschend hinab. Mein Pfad war zuletzt sogar durch blaue Punkte gekennzeichnet, denen ich weiter folge. Seitlich vom Wasserfall führt der Weg nach unten und ist immer wieder durch recht steil abfallende Schneefelder verdeckt. Diese betrete ich vorsichtig und haue meine Hacken so fest Es geht in den Hang. Ausrutschen möchte ich hier nicht. Als ich den Weg ein weiteres Mal verliere, schaue ich doch kurz auf Komoot nach. Jetzt sehe ich, dass mein Weg vorm Wasserfall über den Bach noch eine ganze Weile dem Höhenzug folgend weiter verlaufen wäre. Ärgerlich. Aber jetzt wieder umdrehen? Durch die Schneefelder? Auf der Karte sehe ich, dass ich die Straße, auf welche ich später sowieso kommen würde, auch dann erreiche, wenn ich hier querfeldein gerade ausgehe. Ich such mir den bestmöglichen Weg den Berg herab und starte meinen Querfeldeinweg. Zufälligerweise lande ich wieder auf dem Pfad mit dem blauen Punkten. Dieser ist allerdings auf keiner meiner Karten vermerkt. Ich folge dem Pfad, verliere ihn aber bald schon wieder. Ob versumpfter Weg oder querfeldein. Eigentlich ist das kein Unterschied. Und so bahne ich mir zickzack meinen Weg durch kleine Birken, Büsche, Sumpf und kleine Restschneefelder. Es dauert nicht lang und ich komme an eine Hütte, die auch auf der Karte eingezeichnet war. Dank ihr gibt es eine kleine Brücke über den Fluss, der parallel zur Straße verläuft. Während ich die letzten Meter durchs Gestrüpp gemacht habe, habe ich mich mehrfach gewundert, ob ich heute Morgen doch etwas zurückgelassen habe. Mein Rucksack kommt mir unfassbar leicht vor. Nachdem ich den Fluss überquert habe, nehme ich den Rucksack ab, doch schon als ich ihn an einem Arm hebe merke ich, dass er gar nicht so leicht ist. Mein Rücken scheint sich langsam daran zu gewöhnen.

    Die Straße ist leider eine größere, als ich mir gewünscht habe. Immerhin nicht so eine viel befahrene und breite Straße wie die zwischen Evje und Dølemo. Aber auch nicht einer dieser charmanten Forstwege, wie sie zu Beginn oft als Straße in meiner Karte verzeichnet waren.

    Durch meine Abkürzung bin ich noch früher auf der Straße als ich es eigentlich gewesen wäre. Auf Komoot checke ich, wie lange ich nun auf der Straße laufen muss. 27,5 km. Ich hatte mich darauf gefreut, mich für wenige Stunden nicht auf Weg und Gelände konzentrieren zu müssen, das ist mir jetzt aber auch wieder ein wenig viel. Aber: Es ist, wie es ist. Nach wenigen Minuten komme ich an einem Parkplatz mit Mülleimern vorbei. Hier entsorge ich den Müll der letzten Tage und meinen gebrochenen Trekkingstock. Schon nach 1 Stunde auf der Straße spüre ich deutlich meinen Rücken. Das Gehen auf der Straße ist einfach etwas komplett anderes. Während ich heute Morgen und auf dem Weg zur Straße Wasser im Überfluss hatte und daher darauf verzichtet habe, meine Reserven zu füllen, ist hier nun nur die heiße Straße in einem breiten Tal. Ich hoffe, dass sich bald eine Gelegenheit zum Wasser nachtanken ergibt. In ernsthafter Gefahr bin ich hier aber nicht. Zum einen laufe ich an einem Fluss entlang, der zwar so breit ist, dass ich das Wasser nicht zwingend daraus trinken möchte, zum anderen kommen mir alle paar Sekunden Autos entgegen, oder überholen mich, dass ich zur Not um Hilfe fragen kann. Aber es dauert nicht lange und ich finde am Rand der Straße einen kleinen Bach, dem ich mein Vertrauen schenke.

    Nach 11 km mache ich eine richtige Pause. Ein schattiges Plätzchen finde ich nicht, aber mit dem Wind ist es in der Sonne gut auszuhalten. Ich lege mich mit meiner Isomatte auf den Boden. Da aber schon nach kurzer Zeit Ameisen nicht nur am Arm und Kleidung herumkrabbeln, sondern auch Vorstöße in die Hosenbeine wagen, entscheide ich mich, den Rest meiner Mittagspause sitzend auf einem Stein zu verbringen. Es gibt Nussmix und einen weiteren halben Liter Wasser aus dem Bach neben der Straße. Da der erste halbe Liter Wasser drin geblieben ist, kann ich ruhig davon ausgehen, dass das Wasser sauber ist.

    Nach einer Dreiviertelstunde geht es weiter. Mittlerweile ist es richtig warm. Der Asphalt strahlt zusätzliche Wärme von unten. Es geht noch einige Kilometer leicht bergauf, ab da soll es dann aber nur noch bergab gehen bis Dalen. Es macht nicht direkt Spaß, an der doch durchaus viel befahrenen Straße entlang zu laufen, aber stören tut es mich heute auch nicht. Einfach mal stumpf gerade auslaufen, ohne darauf zu achten, wo ich hintrete. Der Rücken schmerzt diesmal nicht so sehr wie bei den ersten großen Straßenetappen. Ich habe seitdem aber auch einiges vom Gepäck weg gegessen. Der Vorteil hier auf der Straße ist, dass ich die Kilometer relativ leicht runter laufe.

    Das einzige was mich stört, sind meine Einlegesohlen. Eine von beiden ist immer irgendwie verrutscht. Im Gelände stört das nicht so sehr. Da ist die Druckverteilung im Schuh bei jedem Schritt eine andere. Hier auf der Straße zeigt sich jeder kleine, verschobene Millimeter. Auf 400 m halte ich dreimal an, um meinen linken Schuh neu auszurichten. Mit den Händen spüre ich keine Unebenheiten. Aber sobald ich mit dem Fuß im Schuh bin und einige Meter gehe, habe ich das Gefühl, dass meine Zehen in einen rund halben Zentimeter breiten Spalt reindrücken. Das nervt richtig aber ich habe keine Lust ein fünftes Mal anzuhalten und wieder ergebnislos irgendwelche Korrekturen an meiner Sohle zu machen. Schließlich versuche ich es dann trotzdem. Ergebnislos. Vielleicht spielen mir auch die Nerven meiner Zehen einen Streich.

    Es ist anstrengend, die Sonne brennt, der Rücken zwickt ein wenig, und die Füße tun weh. Aber mit dem heutigen Ziel vor Augen reiße ich die Kilometer so runter. 4 km vor Dahlen gehen die Serpentinen runter ins Tal. Zwei Kehren unter mir sehe ich einen anderen Wanderer mit großem Rucksack. Vermutlich ist es auch ein NPLer. Wer sonst sollte auf die Idee kommen, diese Straße hier zu Fuß zu gehen. Irgendwie bin ich motiviert, ihn einzuholen. Das hier ist kein Wettkampf! Aber den will ich gewinnen. ;-)
    Noch bevor die Serpentinen enden, hole ich ihn ein. Ich spreche ihn an und wie sich herausstellt, läuft er tatsächlich Norge på langs (Norbert Balance). Er ist Norweger und wohnt selbst irgendwo in der Mitte von Norwegen. Er fragt mich, wie ich mich mit meinen Lebensmittel manage. Er selbst hat sich 28 Pakete über die Strecke verteilt verschickt. Wie sich herausstellt, sind wir am gleichen Tag in Lindesnes gestartet und haben sogar auf dem gleichen Campingplatz übernachtet. Er ist aber die kürzere Route über die Straße gegangen. Das hat ihn gleich einen Tag Auszeit gekostet, weil ihm die Füße so geschmerzt haben. So bestärkt er mich in meiner Wahl, fünf Tage durchs Gelände gegangen zu sein. Er will heute noch ein oder 2 Stunden weitergehen. Ich hingegen biege rechts ab zum Campingplatz und freue mich, wenn ich die heutigen 31 km geschafft habe. Es ging nicht viel bergauf. Dafür aber fast 1200 m runter. 27 km habe ich nur auf der Straße verbracht. Rund 1 km vom Campingplatz ist eine Tankstelle mit kleinem Geschäft. Hier gönne ich mir eine 3,30 € Cola für die Zielgerade. Mir schmerzen die Füße und ich laufe alles andere als rund.

    Der Campingplatz ist ziemlich teuer. Umgerechnet 54 Euro zahle ich für 2 Nächte und eine Waschmaschine. Ich habe aber keine Wahl. Dafür ist der Inhaber sehr freundlich und alles ist sehr gepflegt. Ich baue langsam wie ein alter Mann mein Zelt auf und verstaue nach und nach all mein Zeugs. Nach einer langen heißen Dusche geht es mit den frischesten Sachen die ich habe 450 m in den Ort zu einer Bar/Restaurant. Google sagt, der Ort sei etwas besser besucht als sonst zu der Zeit. Ich hoffe, dass ich einen Platz bekomme.

    Drinnen sitzt niemand. Draußen sitzt einer. Ich rechne mir aus, was hier sonst zu der Zeit los ist. Die Person draußen ist der freundliche Holländer, der mich kurz angesprochen hatte, als ich am Campingplatz ankam. Ich setze mich aber ein paar Tische weiter, um mit Nicole zu telefonieren, bis das Essen kommt. Ich habe Burger und Bier bestellt. Als das Essen kommt, unterbreche ich das Telefonat. Der Burger ist der Hammer! Das Bier auch!

    Nach dem Essen spricht mich der Holländer an. Er entschuldigt sich, dass er mit einem Ohr beim Telefonat zugehört hätte. Aber er war neugierig, weil er von Film und Reise gehört hätte. Ich erzähle ihm meine Geschichte und die Entscheidung gegen den Film. Alles auf englisch und ich bin selbst überrascht, wie gut das funktioniert. Vielleicht kann ich das eines Tages ja doch noch!

    Ich erzähle dem Holländer, dass Norge på langs ein Traum war, nun aber eine echte Challenge. „Every dream coming true is a challenge“, sagt der Holländer. Recht hat er. Es macht Spaß, mit ihm zu reden und wir sind voll auf der gleichen Wellenlänge. Als ich ihn frage, ob er hier Urlaub macht, erzählt er mir seine Geschichte. Das hier sei sein Traum und seine Challenge. Erst vor einigen Wochen ist er hier angekommen. Er will hier Fuß fassen. Es war wohl schon länger sein Traum auszuwandern, er wusste aber nie so recht wohin. Norwegen und speziell dieser Ort hätten es ihm angetan - „you feel it!“ Nun, mit 62 Jahren, habe er diesen Schritt gewagt. Wir beide haben etwas gewagt und sind beide fest davon überzeugt, dass Dinge sich ergeben, wenn man einfach nur anfängt zu machen anstatt ständig seine Bedenken walten zu lassen. Im Alltag fällt mir das trotz meiner guten Erfahrungen oft schwer, „einfach zu machen“. Aber meine Selbstständigkeit und dieses Projekt hier zeigen deutlich, dass es so ist. Klar kann man mal in eine Sackgasse fahren. Aber dann dreht man um und sucht einen anderen Weg. Wichtig allein ist es, dass man runter von dieser scheiß Autobahn kommt und anfängt, seinen eigenen Weg zu entdecken.

    Wir unterhalten uns noch etwas und dann rufe ich Nicole wieder an. Wir quatschen noch eine Weile und ich gehe dabei zum Zelt zurück. Während es in Bayern schon dunkel ist, färbt sich der Hang oberhalb des Tals in das gelbe Licht der Abendsonne.
    Read more