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  • Day 81

    Comfort zone

    January 20 in India ⋅ ☀️ 30 °C

    Ich bin angespannt als wir den ersten Flug von Udaipur nach Mumbai antreten. Tejas hingegen ist unbekümmert: "was soll schon passieren?!". Mir fallen tausend Szenarien ein! Was, wenn er nicht durchhält? Wenn er ohnmächtig wird? Er Schmerzen hat?...
    Ich lade mir so viele Gepäckstücke auf wie möglich, um ihn zu entlasten: mein 40l Rucksack auf dem Rücken, vorne Tejas Backpack, mein kleinr Rucksack baumelt in der Armbeuge und hinter mir ziehe ich den Rollkoffer. Absurder, kleiner Packesel. Zudem benehme ich mich wie eine Glucke und mache doppelt und dreifach sicher, dass es ihm gut geht. Er lässt es über sich ergehen, ist aber sichtlich genervt. Zu Recht, ich nerve mich selbst auch... Aber kann halt auch nicht anders.

    Der Anschlussflug in Mumbai verspätet sich um 3 Stunden, am Flughafen rasten Mitreisende in blinder Wut aus und gehen auf die Airline Crew los. Eine wütende, brüllende Menschentraube belagert die armen Kerlchen, die überhaupt nichts für die Verspätung können, aber blöderweise die Info kundtun müssen. Beinahe wird es handgreiflich. Als im Flieger endlich alle Passagiere Platz genommen haben, wieder ein Aufruhr. Security knöpft sich den Typen auf dem Sitzplatz vor mir vor, auch mein linker Nachbar brüllt ungehalten. Vor ein paar Wochen noch, hätte mir die Situation Angst eingejagt. Mittlerweile bin ich abgestumpft.
    Inder lieben ihre Auseinandersetzungen...

    Es ist nach Mitternacht als wir Goa erreichen. In der Not "übernachten" wir unbequem im Sitzen am Flughafen. Kopfweh, Hunger und Müdigkeit. Der erste Bus um halb 7 in der Früh ist rappelvoll und wir quetschen uns in die offene Tür. Mein umgeschnallter backpack hängt als Ganzes zur Tür raus. Ich kann den wunderschönen Sonnenaufgang über den Palmen überhaupt nicht genießen, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, Tejas an den Haltestangen festzuklemmen. Er ist erschöpft und ich habe schreckliche Angst, dass er einfach zur offenen Tür hinaus kippt.
    Zwei Mal Umsteigen in krachend volle Busse und ein langer Fußmarsch bei sengender Hitze, dann sind wir endlich da. Tejas gibt keinen Mucks mehr von sich, er ist völlig fertig. Mir ist nach Weinen zumute, denn ich mache mir Selbstvorwürfe: wie konnte ich ihm so eine harte Reise zumuten?
    Und die Quittung kommt prompt, sein Zustand wird wieder etwas schlechter in den nächsten Tagen. Ich ziehe Konsequenzen und buche uns in ein anständiges Hotel ein, in der Hoffnung, dass er sich dort besser erholen kann. Nachts bekomme dann ich unerwartet Fieber und werde krank. Toll, zwei Kranke die sich umeinander kümmern müssen, das kann ja was werden.

    Wir gehen uns mit der Zeit wahnsinnig auf den Keks. Vermutlich sind wir beide nur von der Situation genervt, wissen nicht wohin mit dem Frust und lassen es aneinander aus.
    Seine Unentschlossenheit und gleichzeitige Uneinsichtigkeit bringen mich auf die Palme. Watschen möchte ich ihn manchmal.

    Die nächsten Tage gehen fast ineinander über, so ähnlich sind sie sich: Ausschlafen, Joggen am Strand, Müsli im Hotel, Zeug erledigen, Mittagessen, Meditation und Sonnenuntergang am Meer, Snack, Party oder Chillen im Restaurant.

    Goa hat einen einzigartigen Charm. Ich verstehe, wieso viele Leute nichts daran finden, denn tatsächlich sind Drogenkonsum und Tourismus auch eine der negativen Seiten. Prima Wetter, Palmen, entspannte und interessante Persönlichkeiten, ungewöhnliche Partys, Strandkultur, tolles Essen... Das ist es für mich. Vor allem nach dem kalten und stressigen Norden, entfaltet Goa seinen einzigartigen Charm: Entschleunigung.
    Goa ist nicht Indien, Goa ist Goa.

    Eines Abends werden wir von Technomusik und Scheinwerfern wie die Motten ins Licht, zu einer Party gelockt. Nach dem Eintritt hechtet Tejas wie von der Tarantel gestochen los und springt einem jungen Lockenkopf in die Arme. Sein bester Goa -Buddy, ein Engländer der mit dem Fahrrad von Großbritannien bis Indien geradelt ist. Die beiden wussten nichts über den Verbleib des anderen und die Freude der beiden über das unverhoffte Wiedersehen ist so ansteckend, dass ich Robert auch überschwänglich umarme. Seine Erlebnisse fesseln mich, ich habe tausend Fragen an ihn. Wir tanzen gemeinsam im Sand und ich bin zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder richtig entspannt und glücklich.
    Der nächtliche, lange Heimweg führt uns am menschenleeren Strand entlang. Der liegende Halbmond strahlt uns an und die lauwarmen Wellen, die um die Füße sprudeln, glitzern. Sie übertönen mit jedem weiteren Schritt stärker die Musik aus der Ferne. Die Szene ist so schön, dass man sie am liebsten in einer Glaskugel einfangen möchte um sie später wieder zu erleben. Plötzlich eine Sackgasse: ein Kanal aus dem Inland ist durch die Flut so angeschwollen, dass er uns vom Land abschneidet. Gehen wir nun den ganzen Weg zurück und nehmen ein Taxi? Zwei Einheimische auf der anderen Seite machen uns Mut: noch können wir hindurchwaten. Unser gesamtes elektronisches Equipment haben wir im Rucksack, ich will kein Risiko eingehen, aber Tejas setzt sich durch und wir tasten uns vorsichtig in den Strom. No risk, no fun. In der Mitte des Kanals ist der sandige Boden ausgewaschen, meine Füße treten plötzlich ins Leere und ich schwimme hektisch gegen die Strömung an. Die zwei Einheimischen ziehen uns aus dem Wasser. Wow, das war gefährlicher und nasser als gedacht. Das Lachen über das Abenteuer vergeht uns schnell als wir Tejas nasses Handy aus der ungeschützten Seitentasche holen. Pfutsch.

    Ich überrede Tejas noch Mal zum Arzt zu gehen, der grünes Licht für seinen Zustand gibt. Alles heilt wunderbar, es werden sogar schon die Fäden gezogen. Wir feiern mit Kuchen und Kerzen seine "First week of survival". Ich könnte Tejas nun reinen Gewissens alleine lassen und meine Reise fortsetzen. Theoretisch. Aber:
    Meine Abenteuerlust ist tot, mir wird ganz anders wenn ich daran denke, alleine weiter zu reisen.
    Ich kann tagelang keine Kraft für die Planung aufbringen, alles sträubt sich dagegen. Es scheint undenkbar die Goa-comfort-zone zu verlassen.
    So kenne ich mich ja gar nicht.
    Vermutlich ein Überbleibsel vom Unfalltrauma. Ich beschließe radikal gegen zu halten. Jetzt erst Recht und volle Pulle.
    Ich fühle mich überhaupt nicht danach aber glaube fest daran, dass es der einzige Ausweg aus der Schockstarre ist.

    In einem Schwung Energie recherchiere ich die Ausreise, fast egal wohin, Hauptsache ostwärts. Eine schwer erkämpfte Entscheidung fällt, ich buche die Flüge. "Treffe ich die richtige Entscheidung?" frage ich Max am Telefon. "Ja. Kontrolliere die Daten bevor du buchst, ok?" ...und ja, was soll ich sagen, ich hatte einen Denkfehler und hab den falschen Flug gebucht.
    Shit happens. Wer's nicht im Kopf hat, hat's im Geldbeutel, gell? Egal. Teuer umbuchen und akzeptieren.

    Der Abschied von Tejas ist still und schmerzhaft.
    Aus wenigen Tagen gemeinsamer Reise, sind unverhofft 4 Wochen geworden. Es ist viel passiert und ich bin hin und hergerissen zwischen der Freude wieder alleine zu sein, und dem Kummer, ihn nicht mehr bei mir zu haben.
    Wir versprechen uns ein Wiedersehen, mehr sagen wir nicht. Der Anblick seine kleiner werdende Gestalt auf der Strasse, als ich mit dem Taxi davon fahre ist kaum zu ertragen.
    Auch am Flughafen quält mich die Frage wieso ich unbedingt weiter muss. Wieso nicht hier bequem 2 Wochen eine ruhige Kugel schieben?
    Treffe ich wirklich die richtige Entscheidung?

    🥇 bester Käsekuchen der Welt
    👨 Tejas, Robert
    🎵 Goodnight Moon - Boogie Belgique
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