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  • Day 26

    Tikal

    November 18, 2022 in Guatemala ⋅ ⛅ 26 °C

    Die Ruinen von Tikal sind eine der Hauptattraktionen von Flores. Die meisten Besucher fahren zwischen 4.30 Uhr und 6 Uhr los, um den Sonnenaufgang und die Tiere im Dschungel beobachten zu können. Joe und ich entscheiden uns für die zeitlich humanere Tour um 8 Uhr morgens.

    Um zehn nach 8 steht der Bus immer noch in Flores und wartet auf Nachzügler. Bei 80% deutscher Urlauber an Bord könnt ihr euch die Stimmung in etwa ausmalen. Einer fragt (berechtigterweise) weshalb 15 Leute warten müssen und Zeit verlieren, bloß weil ein Mitreisender ein schlechtes Zeitmanagement hat. Eine andere Mitreisende gibt lauthals Grammatiknachhilfe in Spanisch. Manchmal liebe ich es, wenn ich meine Mitmenschen einfach nicht verstehe.

    Es stellt sich heraus, dass der Fahrer versucht, den Bus bis auf den letzten Platz voll zu kriegen. Erst als das gegen zwanzig nach acht geschafft ist, können wir los fahren. Als erstes wird eine Tankstelle angesteuert, denn das hätte man wirklich vorher nicht erledigen können. Dann halten wir an einer Bushaltestelle.
    „Pass auf“, sage ich, „Die Leute da nehmen wir auch noch mit.“
    „Aber der Bus ist voll“, erwidert Joe.
    Die Tür schwingt auf und die Leute steigen ein. Es stellt sich heraus, dass man die Armlehnen an den Doppelsitzen zu Sitzplätzen umfunktionieren kann. Ihr könnt euch Joes Gesicht vorstellen, als er seine Armlehne aufgeben muss, damit eine fremde Frau neben ihm Platz nehmen kann. Ich bin heilfroh, dass wir vorne sitzen und unseren Fluchtweg behalten. Zugepackt bis auf die letzte Armlehne geht es über ruckelige Landstraßen eine Stunde lang nach Tikal. Weil der Bus über keine Klimaanlage verfügt, sind alle Fenster offen. Es zieht wie Hechtsuppe.

    In Tikal angekommen fängt es prompt an zu regnen. Irgendwie hatten wir diese Wetteroption im Regenwald völlig ausgeklammert. Wir finden aber einen Mann, der direkt neben den Eintrittsbuden Regenponchos verkauft und schlagen direkt mal zu, denn wir verspüren wenig Lust, über mehrere Stunden völlig durchnässt durch den Urwald zu waten. Joe wählt einen roten Poncho, ich entscheide mich für ein blaues Design, das beim Auspacken stark an eine übergroße Mülltüte erinnert.
    „Oh, wo habt ihr die her?“, fragt eine Frau, als wir wieder zur Gruppe stoßen und kaum dass wir es ihr erklärt haben, laufen fünfzehn Menschen durch den Regen und holen sich ebenfalls Ponchos.
    „Das ist doch Umweltverschmutzung“, sagt ein junges Mädchen abfällig in unserem Rücken, als ihre Freundin fragt, ob sie sich vielleicht ebenfalls einen Poncho kaufen sollen.
    Joe und ich tauschen einen stummen Blick. Wer mit einem Flugzeug nach Guatemala fliegt und in einem ausrangierten Bus nach Tikal fährt, sollte sich in Sachen Umweltschutz wirklich keine Sorgen mehr wegen eines Ponchos machen. Die beiden entscheiden sich dann doch dazu, einen Poncho zu kaufen, und kaum dass sie ihre Umweltsünde in Händen halten, lässt der Regen nach.
    „Na toll, jetzt hab’ ich mir den ganz umsonst gekauft!“, meckert das Mädchen.
    „Ja“, seufze ich, „Wäre er nur wiederverwendbar…“

    Wir belegen die englische Tour in Tikal. Unser Guide zeigt uns als erstes einen riesigen Baum, der als Baum des Lebens gilt. Wir reichen gerade mal bis zum Ende des Wurzelwerks. Außerdem macht er uns auf Affen in den Bäumen aufmerksam und versucht, eine Tarantel aus ihrem Erdloch zu locken. Sie ist nicht in Besucherstimmung, vielleicht ist sie aber auch umgezogen, weil ständig jemand in ihrem Zuhause stochert. Wie auch immer: wir sind nicht ganz unzufrieden über die entgangene Begegnung.

    Nur etwa 15% von Tikal sind ausgegraben. Der Rest dieser riesigen Stadt, in der zu Hochzeiten bis zu 200.000 Menschen gelebt haben sollen, wird von Dschungel überwuchert.
    „Jede Erhebung, die ihr hier seht, ist kein natürlicher Hügel, sondern ein Gebäude“, erklärt unser Guide.
    Es liegt nicht (nur) am Geld, dass die Pyramiden nicht ausgegraben werden. Sobald sie von Erde und Pflanzen befreit werden, sind sie Sonne, Regen und Wind auf Gedeih und Verderb ausgesetzt und würden verfallen. Nicht zu vergessen: das Element Mensch, das den ständigen Drang verspürt, sich in Jahrtausendealten Kulturstätten mit meist oberflächlichen Botschaften zu verewigen.

    Das Gelände ist so riesig, dass wir lange Wege durch den Dschungel zurücklegen. Etwas schade finden wir, dass viele unserer Gruppenmitglieder das innige Bedürfnis verspüren, sich nonstop mitzuteilen. Wir würden so gerne den Dschungel mit all seinen Geräuschen auf uns wirken lassen, das ist aber leider kaum möglich, da ständig jemand in unserem unmittelbaren Umfeld seine Reisepläne offenbart.

    In Tikal darf man tatsächlich, im Gegensatz zu Mexiko, noch vier Pyramiden besteigen. Weil so viele Touristen heruntergefallen sind, wurden fast überall Holztreppen angebaut, die die Absturzrate verringern sollen. Oben angekommen hat man einen herrlichen Blick über den Dschungel, aus dem immer wieder Pyramidenspitzen hervorstechen. Wir erhaschen einen Blick auf die Kulisse aus Krieg der Sterne, als Han Solo seinen Millennium Falken auf Yavin landet. Es ist sehr bizarr, sich im realen Leben in einem Star Wars Film wiederzufinden. Da sitzen wir auf den Stufen der Pyramide, schauen über den Dschungel und staunen über die Anzahl und die Höhe der Gebäude.
    „Eine Pyramide hat die Maya etwa zwanzig Jahre Bauzeit gekostet“, erklärt unser Guide.
    Das ist weitaus schneller als so manche Bauzeit im hochmodernisierten Europa (in Köln ist der Dom dafür das perfekte Beispiel…)

    Unser Guide erklärt, dass er in Tikal geboren wurde, seine Familie aber umziehen musste, als die Ruinen 1979 zum Unesco Weltkulturerbe ernannt worden sind. Und er ermutigt uns, Fragen zu stellen. Also frage ich, ob Spanisch seine Muttersprache ist oder ob er eine der alten Maya-Sprachen spricht. Plötzlich wird er sehr ernst. Spanisch sei seine Muttersprache. Das läge daran, dass in Guatemala über dreißig Jahre lang ein Bürgerkrieg geherrscht habe, der hier am schlimmsten ausgeprägt war. Es gab die ganz klare Anweisung, auf jeden Maya-Sprechenden zu schießen. Aus diesem Grund hätten seine Großeltern ihre traditionelle Kleidung abgelegt und mit ihren Kindern und Enkeln nur noch Spanisch gesprochen.
    „Ich spreche meine eigene Sprache nicht“, sagt er, „Ich verstehe sie nur. Aber hier drin“, er legt eine Hand auf sein Herz, „spüre ich, dass ich Maya bin.“

    Uns beschleicht das Gefühl, dass die Maya Kultur nie wirklich untergegangen ist. Sie wurde unterdrückt, aber sie ist nicht vollständig verloren gegangen.
    „Tikal wurde 1848 wiederentdeckt“, sagt unser Guide und winkt lachend ab, „Wir wussten all die Jahre, wo es liegt.“

    Kaum ist unsere Tour beendet öffnet der Himmel seine Schleusen und es schüttet aus allen Eimern. Joe und ich suchen im ehemaligen Königspalast Unterschlupf und freuen uns über unsere Ponchos. 

    Auch in Tikal wurden die Pyramiden übrigens so gebaut, dass der Laut des Quetzalcoatl erklingt, wenn man laut in die Hände klatscht; sowohl der Ruf des Weibchens als auch der des Männchens. Und wie bei fast allen Pyramiden hier geht die Sonne an bestimmten Feiertagen im Jahr in bestimmten Punkten der Bauwerke auf. Keiner weiß, woher die Maya dieses architektonische Wissen hatten, außer die Maya vielleicht selber. Und wären wir einer von ihnen, würden wir es auch nicht verraten. Wir würden uns nur darüber kaputt lachen, dass an einem Tag wie am 21.12.2012 sämtliche aufgeklärten Fernsehteams aus aller Welt ihre Sendestationen in Tikal aufbauen, um sicherheitshalber live vor Ort sein zu können, falls die Welt doch untergeht.
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