Satellite
  • Day 74

    Epilog 3: Reisen - des Narren Paradies?

    March 15, 2018 in Chile ⋅ ⛅ 8 °C

    Christoph weist mich auf eine Textstelle hin, die pointiert gegen das Reisen Stellung nimmt. Sie stammt aus Ralph Waldo Emersons "Von der Schönheit des Guten", ist also schon gut hundert Jahre alt:

    "Ich bin kein großer Fürsprecher des Reisens, denn ich bemerke, dass die Menschen in fremde Länder rennen, weil sie in ihrer Heimat nicht gut tun, und dass sie wieder in ihre Heimat zurückrennen, weil sie auch an den neuen Orten eine Null waren. Gewöhnlich reisen nur leichtfertige Charaktere. Wer bist Du denn, dass Du keine Aufgabe hast, die dich zu Hause zurückhält?
    ...
    Der Stoff aus dem die Länder gemacht sind, ist überall derselbe. Glaubst du wirklich, dass es irgendein Land gibt, in dem man nicht Milch kocht, Kinder wickelt, Reisig brennt und Fische kocht? Was irgendwo wahr ist, ist überall wahr. Und du kannst hingehen, wohin du willst, du kannst immer nur soviel Schönheit und Wert vorfinden, als du selbst mitbringst.
    ...
    Reisen ist des Narren Paradies. Unsere ersten Reisen zeigen uns, dass alle Orte gleich sind. Zu Hause träume ich davon, dass ich mich in Neapel, in Rom an Schönheit berauschen und meine Melancholie verlieren werde. Ich packe meinen Koffer, umarme meine Freunde, steche in See und wache glücklich in Neapel auf. Aber da sitzt noch immer neben mir jene starre, unerbittliche, unveränderte Tatsache meines traurigen Ich, vor der ich geflohen bin."

    Reist man also, weil man sonst nichts zustande bringt? Und ist die Welt überall gleich? Aus meiner Sicht: zweimal Nein.

    Sicherlich hat jeder Reisende andere Motive. Schon innerhalb unserer Bikergruppe gab es durchaus unterschiedlich Erwartungen und Antriebe. Aber eine Flucht vor dem "eigenen traurigen Ich", das war die Tour bei keinem der Teilnehmer. Ganz im Gegenteil: Sich in anderer, unvertrauter Situation neu zu erproben, das trifft es viel eher. Denn vieles muss auf einer solchen - zumindest für meine Verhältnisse sehr großen - Reise neu erlernt werden. Es gilt viel Praktisches zu bewältigen, die Speisekarte will entziffert, die Wäsche gewaschen, das Motorrad gecheckt, das Navi programmiert, das Wetter vorhergesagt und die Schotterstraße bewältigt werden. Zwar kehrt auch hier auf Dauer Routine ein, aber es fordert neu heraus. Und es tut gut, wenn es klappt.

    Vor allem aber: Die Welt ist keineswegs überall gleich. Das gegrillte Meerschweinchen, die kippelnde Fähre am Titicacasee, die Einsamkeit der Tankstellen in Patagonien ... es macht einen sprachlos vor Staunen. Noch mehr natürlich die Unterschiedlichkeit der "Lebenskonzepte", etwa des Melonenverkäufers auf seinem Fantasiegefährt, der deutschstämmigen Hildegard, die in Puyuhuapi ein Hotel betreibt, der kleinen Paola im SOS-Kinderdorf, des Punkfans Antonella auf dem Campingplatz oder der Pabstmädels in Trujillo - wenn diese Buntheit der Menschen nicht fasziniert, was denn dann? Und natürlich überwältigen auch die Anden, die Alpakas, die Riesenbromelien und noch so vieles mehr.

    Zwar ist richtig, dass erst die Fremde lehrt, was wir an Heimat besitzen (Fontane), aber durch eine solche Reise wird einem auch die eigene Heimat ein wenig fremder. Muss denn alles so sein wie zuhause und wie es immer war? So gesehen: Am Ende dieser herrlichen Tour weiß ich zwar, wo ich hingehöre, aber ein bißchen Südamerika bleibt möglicherweise doch an mir kleben. Hoffentlich.
    Read more