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  • Day 22

    Abendsonne

    June 21, 2023 in Norway ⋅ ☁️ 13 °C

    Die Nacht habe ich richtig schlecht und wenig geschlafen. Mein Körper fühlt sich ein wenig an wie nach den ersten Etappen. Klar, die 36 km sind eine deutliche Leistungssteigerung. Zum Frühstück gibt es wieder Brot mit Käse und Salami. Dabei mache ich mir Notizen, was ich alles erledigen will bzw. muss.

    Als aller erstes schreibe ich meinen Tagebucheintrag von gestern. Gestern Abend hatte ich dazu einfach keine Lust mehr. Obwohl ich „frei“ habe, bin ich nur so mittelmäßig gelaunt. Die weitere Route macht mir Kopfzerbrechen. Mein Fuß ebenfalls. Ich konnte zwar seit Dalen, wo das Problem erstmals aufgetreten ist, in Summe jeden Tag gut laufen. Aber das sollte keinesfalls, so wie es ist, zum Dauerzustand werden. Und das Schuhthema nervt mich.

    Zu allererst kümmere ich mich um meine Wäsche. Waschmaschine und Trockner sind vorhanden und für zusammen 7 Euro auch bezahlbar. Am Campingplatz gehe ich so oft es geht barfuß, damit der Fuß sich erholen kann. Sobald ich aber doch mal in die Schuhe schlüpfe, spüre ich den Fußballen. Ich bin irgendwie genervt. Beim Rückweg von der Waschmaschine kommt mir ein Mann, etwas jünger als ich, mit großem Rucksack und Hund entgegen. Der Campingplatzbesitzer hatte gestern schon erwähnt, dass ein weiterer norwegischer NPLer hier mit seinem Hund übernachtet. Ich spreche ihn direkt an und frage ihn nach seiner Routenwahl. Er will es durch Jotunheimen, das vor uns liegende Gebirge, was mir so viel Kopfzerbrechen macht, probieren. Er ist sicher, dass es geht. Dafür mache er das ganze auch und nicht, um Straße zu laufen. Das stimmt auch mich optimistisch.

    Ab Mittag setzt der Regen ein. Ich liege im Zelt und schreibe Tobi, warum er sich gegen den Versuch entschieden hat. Er meinte, es hätten wohl zwei versucht, die seien aber umgedreht. Ihm sei das zu riskant. Bei Instagram schaue ich, ob ich über Hashtags aktuelle Bilder von dort oben finden kann. Aber so richtig Aussagekräftiges finde ich nicht. Dafür werde ich auf Peter aufmerksam. Ihm bin ich irgendwann mal gefolgt, weil er dieses Jahr auch Norge på langs läuft. Wie es aussieht, ist er irgendwo in Jotunheimen. peter_early_retired, also „Frührentner Peter“, scheint zumindest was sein Instagramprofil betrifft, ein ziemlich schräger Vogel zu sein. Aber mit guten Vibes! Ich schreibe ihn einfach mal an und warte was kommt. Aber eigentlich habe ich mich nach dem Austausch mit Tobi schon so gut wie entschieden: Ich gehe die unspektakuläre, sichere Variante.

    Den Nachmittag liege ich im Zelt und versuche etwas zu schlafen, während der Regen auf‘s Zelt prasselt. Als ich mich wieder aufraffe, hat Peter mir geantwortet. Ich sollte unbedingt auch den Weg gehen. Er käme aus der Schweiz und sei dementsprechend bergverwöhnt. Aber das hier sei der Hammer. Wir vernetzen uns auch über WhatsApp und tauschen uns hier weiter aus. Und plötzlich bekomme ich doch wieder Lust, es zu versuchen. Aber es gibt noch ein paar Fragezeichen. Peter schreibt, dass der Schnee auch Vorteile hätte. Dass man auf Schneebrücken die Flüsse überqueren könne. Hier bin ich aber ein kleiner Schisser. Allerdings sind das Dinge, die in meinen Vorstellungen immer schlimm sind. Vor Ort kann ich eine Situation dann wieder ganz anders einschätzen. Aber es kann auch sein, dass man eher ein Risiko eingeht, weil man nicht drei Tage zurück laufen möchte.

    Ich lass das Thema erstmal ruhen. Mein Plan für heute Abend ist, erst in die Sportgeschäfte nach Schuhen schauen und danach Pizza essen. Allerdings sehe ich bei Google, dass die Sportgeschäfte hier um 17.00 Uhr schließen. Das nervt mich wieder etwas, weil ich die Schuhfrage gerne heute schon angegangen wäre. Ich prüfe meine Schuhe, die ich unter einem Vordach einer Hütte zum Trocknen hingestellt habe. Sie wiegen immer noch unfassbar viel und sind total nass. Ich stelle sie ohne zu fragen in den Raum, wo Waschmaschine und Trockner sind. Hier stehen die Heisswasserkessel und es ist hier deutlich wärmer als anderswo. Ich hoffe, dass die Trocknungsdünste gut abziehen. Niemand mag eine Sauna mit Obazda-Aufguss. Aber das ist mir gerade egal.

    Heute bin ich einfach nicht gut drauf. Viele ungeklärte Fragen und am späten Nachmittag das Gefühl, nichts geschafft zu haben. Peter schickt mir den Link zu seinem Blog, wo er auch ein paar Videos verlinkt hat. Er hat seine Tradition darin gefunden, an irgendwelchen Orten ein Tänzchen aufzuführen. Mal im Fjell, mal im Supermarkt. Dabei filmt er sich. Er ist definitiv ein lebensfroher Mensch! Etwas schräg aber absolut gut drauf. Die Videos hat er mir geschickt, weil ich ihm geschrieben habe, dass ich heute ein kleines Tief habe. Er wollte mich aufheitern, was er auch geschafft hat. Er schreibt, er sieht das Nordkap als „Nice to have“ und dass auf dem Weg dorthin soviel schief gehen könne. Wenn das sein ultimatives Ziel sei und er irgendwann aus irgendeinem Grund abbrechen müsse, sei er gescheitert. Er versucht lieber, jeden Tag zu einer Party zu machen.

    Recht hat er. Natürlich macht diese Einstellung nicht potenzielle Gefahren wett, die in den Bergen lauern. Aber es motiviert mich, zumindest weiter über den Versuch nachzudenken, Jotunheimen anzugehen. Überhaupt glaube ich, dass gerade die augenscheinlich „schrägen Vögel“, wie ich Peter direkt meinen Stempel aufgedrückt habe, diejenigen sind, die das Leben wirklich leben. Denn wenn man es wirklich schafft, so zu leben, dass es einem egal ist, was andere über einen denken, dann wirkt man wohl zwangsläufig „schräg“. „Befreit“ wäre aber vielleicht das bessere Wort.

    Jetzt, wo ich in der Abendsonne sitze und diese Zeilen schreibe bin ich richtig dankbar für diesen netten Austausch mit Peter. Wir kennen uns gar nicht. Und trotzdem verbindet uns die gemeinsame Reise.

    Vorhin war meine Laune noch schlecht. Ich habe mich bei Regen auf den Weg Richtung Geilo „City“ gemacht, der Campingplatz liegt zwei Kilometer ausserhalb, um mit Pizza und Bier wenigstens ein Highlight heute zu haben. Aber kurz bevor ich das Ziel erreicht habe, habe ich mich entschlossen, das auf morgen zu verschieben und stattdessen etwas für heute Abend im Supermarkt zu kaufen. Die Pizza soll ein Highlight sein, das ich genieße. Auf dem Rückweg telefoniere ich mit Nicole und die Stimmung wird zunehmend besser. Auch der Regen hat aufgehört. Ich setze mich auf einen Stuhl auf die Terrasse der unbewohnten Hütte nah bei meinem Zelt und esse zu Abend. Und als meine schlechte Stimmung vollends verzogen ist, kommt auch die Sonne raus und scheint mir ins Gesicht.

    Morgen soll das Wetter besser werden. Ich glaube, morgen wird ein guter Tag!
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