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- Apr 29, 2024, 9:35am
- ☁️ 12 °C
- Altitude: 357 m
- GermanyHesseHabichtswaldEhlen51°19’23” N 9°19’11” E
Zeit anhalten
April 29 in Germany ⋅ ☁️ 12 °C
Ich habe die Zeit angehalten. So kommt es mir vor. Wir sitzen in Nienhagen hinter dem Städtchen, mit Blick auf den Besinnungsgarten, die grünen Bäume im Frühlingskleid. An einem kleinen Stück Wiese, unter einem hohen Baum, der sich schützend über uns hält.
Am Morgen habe ich angefangen zu lesen, obwohl ich wegfahren wollte. Ich bin müde, aber ich lese, bis mir die Augen zufallen, lege mich zurück neben Hilde, die auf dem Bettzeug schläft. Mich ableckt, mich anschaut, lange nachdenklich, unbeweglich.
Spüre in mich hinein. Frage mich, ob es das Buch macht, dass meine Stimmung bedrückt. Mir sehr nahe kommt, weil ich gerade dieser Gedankenwelt begegnet bin. Louisa Waugh lebt in der Mongolei. Zumindest ein Jahr lang. Und sie kann gut schreiben. Dicht, aufwühlend, ernst und trotzdem Sehnsucht versprühen.
Leben aus zweiter Hand. Ob das meine Lebensphilosophie sei, hören Sie mal, die alte Stimme aus der offenen Tür schallt herüber. Wir haben Ihr Buch im Bücherschrank gefunden, im Dezember, letztes Jahr. Wir kommen ins Gespräch, sie haben kleine Geschenke für uns.
Erst als sie mir die Hundeleckerlies gibt, sehe ich das schwarze Tier unterm Tisch. Er sei krank, kann das nicht mehr fressen. Hilde hat ihn nicht mal gerochen. Wenn ich mich kurz zum Schlafen hinlege, wache ich aus unruhigen Träumen auf.
Zwei Mädchen spielen schon seit einer Stunde an der Drehschaukel, vielleicht zwölf Jahre alt, das Handy im Blick. Samstag im Ort, Hilde fragt nach Wasser, durch die offene Tür kommt kalte Luft, ich esse einen Joghurt, Mumford singt.
"Wenn ein Esel auf Reisen geht, wird er nicht als Pferd zurückkommen." (Thomas Fuller) Mein linker Fuß ist taub. Sein Knie habe ich zulange abgeknickt, dass er wohl einschlafen konnte. Wenn ich denke, wie oft ich in den letzten Jahren mit ihm umgeknickt bin, jetzt sind die Sehnen so verkürzt, dass ich abends lange brauche, bis die Füße sich entspannt haben.
Wir packen zusammen, ich möchte an einen anderen Ort fahren. Oder später, hierher zurückkommen. Aber ich muss uns bewegen, der Blick aus den drei Fenstern ermüdet mich, die Mädchen sind weggefahren, Wind ist aufgewacht, ein Vogel hat vom Zweig herunter sich entleert. Ein grüner Fleck lagert auf der Windschutzscheibe, der alte Mann schiebt den Rollator, am Eingang vom Altenheim lagern zwei Hunde, Hilde hat sie aus hundert Meter Entfernung durch dem geschlossenen Bus wahrgenommen.
Schnitt. In der Nähe ist eine Wiese. Wir fahren wieder dorthin, um ein wenig unter den hohen Bäumen zu spielen. Das Gras ist kurz, die Wurzeln der Bäume voll mit Gerüchen. Keine Mäuse. Ein guter Spaziergang führt zu Mauselöchern. So lange spielt sie im Bus die leidende Hilde.
Mit herabhängendem Kiefer, triefender Schnauze, gequältem Gesichtsausdruck, der ganze Hund schreit, ich muss raus, mich erleichtern. Bitte, du blöder Sozialarbeiter, hab Erbarmen. Halte ich an, fällt alle Dringlichkeit ab, die Hündin ist völlig entspannt. Ein Pseudopipilein für Papa zwingt sie sich ab, dann wird aber auch losgeschnüffelt.
Die Sonne scheint, hoch über den Baumspitzen tanzt der blaue Himmel seine weiße Wolkenflugmelodie. Jeder kleine Weg wird zu eine Oase des Vergnügens.
Da kommen die Bilder von weit her, fast überall in der Welt kannst du heute reisen, und ja, ich genieße es, sie sehen zu dürfen.
Auch wenn meine Schritte stolpern, und wir den Bus vielleicht nur für eine halbe Stunde verlassen können, bis die Schmerzen zu stark werden, um stehen zu können. Denn Mäuse haben einen begrenzten Bewegungsradius, und das, was Hilde ausbuddelt, ist manifestiert.
Die Welt ist schön. Dafür musst Du nicht weit fahren. Es ist die Sehnsucht, die uns treibt, nicht an einem Ort bleiben zu wollen. Nicht nur, wenn wir jung sind. Obwohl in den jeweiligen europäischen Ländern, die wir bereisen, inzwischen die Zahl der "bürgerlichen Nomaden", die die Grenzen selten überschreiten, ständig gewachsen ist. Vier Tage an einem Ort, eine Woche, dann vielleicht fünfzig, hundert Kilometer weiter fahren. Braungebrannt, wir brauchen nichts. Ein Ehepaar mit zwei Hunden, zwei Fahrzeugen, manchmal getrennten Wegen, ich höre zu. Was sich verändert hat, wie das Reisen jedem sein eigenes Gefühl hinterlässt.
Zusammen ist man weniger alleine. Auch wir müssen uns neu justieren. An dem Prioritäten wird sich wenig ändern. Die Mäusebuddlerin ist das schwächste Glied in der Verbindung, ihre Bedürfnisse werden hochangesiedelt. Aber wir überlegen schon, wie jeder sein Wohlgefühl leben kann.
Wir müssen uns kennenlernen, jeder in seiner Eigenart, unter den unterschiedlichen Bedingungen. Auch wir wissen kaum noch, wie Wohnung geht, können uns aber überraschend schnell dran gewöhnen. Der aufrechte Gang, die Tür zur Wiese, der dunkle Raum, in dem das Wasser fließt.
Zu Dritt im Bus, gebeugt leben, ausgestreckt geht nur draußen und im Liegen. Eine Boxio ist eingezogen, auf ihr koche ich morgens Kaffee, obwohl sie eher für die Verdauung dient. In der Zeit gehen wir spazieren, die Hilde und ich. Die am meisten von der veränderten Situation profitiert. Mehr Spaziergänge, mehr Streicheleinheiten, mehr Zusammenhalt.
Heute sind wir alleine unterwegs. Dort war Deutschland geteilt. Im Februar 1990 wurde diese Brücke geöffnet. Eine kleine Straße, östlich von Wittingen. Dann kommt Diesdorf mit einem kostenlosen Stellplatz, oberhalb von der Kirche, die geöffnet ist, nicht weit von einem Superbäcker, wie es in den Bewertungen heißt. Des deutschen Campers höchste Priorität, morgens müssen Brötchen auf den Frühstückstisch, ein Ei und Butter. Gute Butter. Das Ei vom Feld, Bio muss auf der Packung stehen.
Gute Butter, sagt sie, liebe ich. Zu einem starken Brot, dem man die Kraft ansieht. Leberwurst, nickt Hilde. Bio sei ihr egal, auch Ei. Bisher war nur abends trockenes Baguette mit Leberwurst angesagt, aber warum nicht, mal flexibel sein.
Ich liebe Hundelogik. In der letzten Zeit telefonieren wir viel, das wird ein Ende haben. Obwohl ich auch mehr lese, was gut ist. Heute Abend bringen wir den Sohn zum Flieger, mit seiner Familie geht's in den Süden, weg von der norddeutschen Kälte. Auch wenn es nur eine Woche ist.
Einfach mal das Land wechseln. Die Leute austauschen. Sich selber verändern fällt da deutlich schwerer. Will auch nicht jeder. Wir sind schnell zufrieden. Besonders Sonntags. Der Himmel hat sich verändert. Mehr Wolken weniger blau. Windstill. Die Sonne versteckt, habe ich sie doch entdeckt im Grün des Laubs, im Frühlingshauch.
Schnitt. Nachmittags singen die Vögel, auf einem Parkplatz in Neuhaus schlafe ich wiederholt. Trinke Tee. Schafgarbe, Fenchel, Kümmel, Kamille. Vermutlich ist mir die kalte Dose Klöpse nicht bekommen. Erhöhte Temperatur kommt nicht gut, wartet der Sohn doch auf eine Fahrt zum Flughafen. Man empfiehlt viel zu trinken.
In Brome gäbe es das beste Eis, leider heute nicht für mich, aber ein schattiger Parkplatz an der Burg, die in der Sonne steht. Verwunschene Häuser am Wegesrand, Fachwerk und Blumen, Rosen und alte Zäune.
Er möge doch noch mal den Bauch abtasten. Es ist Sonntag. Mein Doktor ist ein Freund, der sich Zeit nimmt. Jederzeit. Jede Zeit. Möge sie ihm immer und lange noch gewährt sein. Sein Go und mach langsam, er würde nichts Bedenkliches fühlen, aber mit dem Fieber soll ich nicht mehr weit fahren.
Am Flughafen nimmt der Sohn mich in den Arm. Zweimal. Vater sein ist nicht immer einfach gewesen, aber herzlich geblieben. Ich schau ihm nach. Starte den Motor, wir fahren in die Nacht hinein ein.
Mitternacht. Ehlen. Stellplatz. Das Fieber ist gesunken.Read more