Der fünfte Abschnitt unserer Wanderung von Hamburg nach Santiago de Compostela.
Von "Vezelay", Frankreich, nach "San Sebastian", Spanien.
Les mer
  • 39fotspor
  • 3land
  • 39dager
  • 489bilder
  • 10videoer
  • 673kilometer
  • Dag 10

    Flucht

    30. april 2019, Frankrike ⋅ ☀️ 14 °C

    Trip 5, Tag 10, Wandertag 8:
    Archignat - Malleret-Boussac, 27,5 km, Steigung 310 Meter, Gehzeit 5:37, Dienstag, 30.4.2019

    Bei Kaiserwetter schlenderten wir durch das gepflegte „Archignat“. Zum ersten Mal seit unserem Start in „Vézelay“, versprach ein strahlend blauer Himmel von Anfang an einen fantastischen Wandertag. Es war, als ob sich der Himmel für all die „Unannehmlichkeiten“ bei uns entschuldigen wollte. Wir dankten es ihm mit einem Klimaerwartungsindex von unerreichten 90%. Die zehn Prozent die noch fehlten waren der noch relativ kühlen Temperatur geschuldet.

    Unten im Tal kämpften die letzten Nebelfetzen vergeblich ums Überleben. Die morgendliche Szenerie erinnerte an unseren fantastischen, vierten Wanderabschnitt im letzten Jahr, von Koblenz nach „Vézelay“. Fast sechshundert heiße Sommerkilometer, in denen der Regen so fern war wie Sibirien von Deutschland und jeder Sonnenmorgen so vielversprechend und energiegeladen wie der Heutige. Nur mit der Hitze war es nicht so weit her und Sibirien doch deutlich näher als wir es wahrhaben wollten.
    Der Abschied vom „Château de Peufeilhoux“ war herzlich. Zwei Verrückte, die zu Fuß aus Hamburg angelatscht kamen und nach zwei Tagen wieder weiterlatschten, gab es ja schließlich nicht jeden Tag.
    Es war seltsam, die Gastgeber sahen zwar einerseits, dass wir zu Fuß ankamen, andererseits reichte ihre Vorstellungskraft aber nicht wirklich aus, um zu glauben, dass unsere Wanderung in Hamburg ihren Anfang nahm. Erzählten wir Einheimischen davon, wurden sie unsicher. Gedanken wie „will der mich jetzt verarschen" oder "hab ich etwas im Leben verpasst“, konnten wir deutlich spüren. Daran, dass uns mit jedem weiteren Wanderkilometer ein weiterer Punkt auf unserer Glaubwürdigkeitsskala abgezogen wurde, gewöhnten wir uns, es war uns wurscht, oder etwa doch nicht? Eigentlich tat es uns sogar ein bisschen weh, dass uns kaum einer glaubte, wo wir doch so stolz auf unsere Leistung waren.
    Nach diesem Tagesstart würde sich Marion jedenfalls beim besten Willen nicht mehr vorstellen können wie hart es gestern für mich war, diesen Ort hier zu erreichen.

    Egal, ich hatte eh nur noch die knusprig frischen Baguettes im Kopf die wir heute Morgen mit den gestern von Marion eingekauften Leckereien, akribisch belegten. Zuerst ordentlich Butter, dann Salamischeibchen, drüber Ziegenkäsestreifen, und zum Abschluss, als Doping, ein- oder zwei Gürkchen. Allein der Gedanke an die durchdesignten Baguettes brachte meine Zähnchen zum Tropfen. Bis zu ihrem Todesurteil mussten die traurigen Weißbrotstangen mit der unheilbringenden Vorahnung, allerdings noch in der „Todeszelle“-, den Tiefen unseres Rucksacks, „schmoren“.

    Auf der „Route d'Huriel“ (D 916 / D 148) schlichen wir uns auf leisen Sohlen aus dem Ort. Die offizielle „Straße“ fühlte sich eher an wie ein asphaltierter Luxus-Wanderweg in herrlicher Natur, was sich später noch ändern sollte.
    Nach drei Kilometern navigierte uns Komoot nach links, auf einen abzweigenden Feldweg.
    Abzweige sind immer spannend, weil man nie weiß was einen erwartet.
    In diesem Fall konnten wir gar nicht glauben was uns der gepflegte Weg präsentierte. Alles was eine grandiose Natur unter strahlend blauem Himmel so bieten konnte, wurde aufgetischt, wirklich alles.
    Wir wussten gar nicht wo wir zuerst hinsehen sollten. Alleen, Blumen, saftige, hügelige Weiden, Rinderherden mit Müttern, Kälbchen und Stieren, kleine Seen und Wäldchen, alles strotzend grün und weit und breit kein Mensch, nur wir.
    Hier war er wieder, der Moment, den man nur als Fernwanderer so erleben darf, danke, du herrliches Frankreich, Vive la France!

    Die Schönheit unserer Route mit den dafür nötigen Worten zu beschreiben, würde meinen nur begrenzten literarischen Horizont sprengen.
    Mit dem elften Kilometer passierten wir auf der „Route de Montluçon“ die „Grenze“ des nächsten Départements, das „Département Creuse“, der Region „Nouvelle-Aquitaine“ (Eine Art Bundesland). Ein kleines blaues Straßenschild wollte, dass wir das unbedingt erfahren.
    Die Einsamkeit der Gegend habe ich mal mit spaßeshalber Bayern verglichen. Während sich im „Département Creuse“ rund 20 Franzosen einen Quadratkilometer teilen, sind es in Bayern durchschnittlich 184 „Freistaatler“ die sich die Erde untertan machen dürfen, also rund 90% weniger Menschen. Entsprechend gering ist hier der Eingriff in die Natur, keine Strommasten, keine Autobahnen und nur wenige Gebäude die das Augenmaß für die Landschaft ins Verhältnis zur eigenen Größe gesetzt, noch nicht verloren haben, nichts beleidigt hier das Auge.
    Obwohl wir nun schon seit einigen Kilometern auf der kaum befahrenen Bundesstraße „D 916“, der „Route de Montluçon“, so vor uns hin schwebten, vermochte auch sie nicht unser „Naturflash“ in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen.
    In anderen Sphären und nach knapp 13 Kilometern „besuchten“ wir die 146 Einwohner von „Leyrat“ von denen wir, wie so oft, keinen Einzigen zu Gesicht bekamen. Wieder ertappten wir den „Gaul“ dabei, wie er einige der verkommenen Immobilien adoptierte und mit viel Fleiß allen möglichen exotischen Nutzungen zuführte, er war dabei kaum zu bremsen.

    Gleich hinter „Leyrat“ verabschiedeten wir uns von der Bundesstraße, um nunmehr unserem absoluten Lieblingstypen von Wanderwegen zu folgen, einer Mischung aus winziger, autoloser Straße und einem breiten Komfortwanderweg, asphaltiert und herrlich zu gehen. Es waren die „Lebensader“ zu den einzelnen Häuschen oder Gehöften die sich irgendwo, hier und da, unauffällig in die Landschaft integrierten. Wurden es einige Häuschen mehr, wie beispielsweise in „Merveranges“, das wir gerade passierten, protzten die vielleicht 20 Einwohner gleich wieder mit einem Ortsschild. Zufälligerweise habe ich im Internet später entdeckt, dass man hier Baugrundstücke für 5 Euro den Quadratmeter erwerben kann. Also auf ins schöne Frankreich, worauf wartet Ihr?
    Mittlerweile wieder zurück auf der Bundesstraße „D 916“ und einige missratene und kläffende Kötern später, war es soweit. Mit dem achtzehnten Kilometer marschierten wir in „Boussac-Bourg“ ein – unser Ort für unsere Tagespause, Ort der Hinrichtung! Die letzten Minuten unserer in der „Todeszelle“ schmorenden Baguettes hatten geschlagen, ein prächtiger Ort, um zu sterben, wie wir fanden.
    Irgendwo im alten 700 Seelen Dorf, saßen wir auf einer der reichlich vorhandenen, alten Mauern, und exekutierten unsere Baguettes, Bissen für Bissen ein Genuss. Wie es den Baguettes dabei ging war uns ziemlich wurscht.

    Noch den letzten Bissen kauend, besuchten wir das einmal mehr vor sich hin modernde, kleine romanische Kirchlein „Saint-Martin“, seit 1930 als „Monument Historique“ klassifiziert. Sicherlich wäre es in Deutschland, mit seiner massiven Eichenvertäfelung ein kleines Superlativ, in Frankreich aber erliegt man in dieser Hinsicht der Reizüberflutung. Man registriert es und legt es dann auch gleich wieder ab, irgendwo auf der „Festplatte“ im Ordner moderndes Gemäuer.

    Nächstes Zwischenziel war das gut zweieinhalb Kilometer entfernte fünf Häuser Kaff „La Planche au Pré“, am nördlichen Rand der Gemeinde „Bousac“ gelegen. Mit seinen unglaublichen 1.267 Einwohnern ist "Bousac" der Hauptort des gleichnamigen Kantons. Egal, dieser Ort hatte Pech, er lag nicht auf der imaginären Luftlinie vom Startpunkt unserer Wanderung, „Vézelay“, bis zu ihrem Endpunkt, „San Sebastian“, der wir routentechnisch immer folgten. Nur Orte die annähernd das Glück hatten, von ihr „gestreift“ zu werden durften unsere Bekanntschaft machen. Natürlich machten wir auch Ausnahmen, die mussten jedoch von den Orten sehr gut begründet werden.
    Obwohl es deutlich kürzer gewesen wäre wieder der Bundesstraße „D 916“ zu folgen, jetzt, nach „Boussac“, „Route de Boussac-Bourg“ genannt, zogen wir es lieber vor wieder in die Natur einzutauchen und links hinter dem Ort die Einladung einer kleinen Straße vom Typ „Lieblingsweg“, anzunehmen. Die zwei Kilometer Umweg waren uns egal.
    Irgendwann auf dem kleinen Sträßlein durchquerten wir ein landwirtschaftliches Gehöft. An einer kleinen Mauernische, am alten Hauptgebäude, stolperten unsere Augen über ungewöhnliches, dass sie nicht einzuordnen vermochten. Hier gab es skurriles Neuland zu entdecken. Wer hat schon jemals einen großen Münz-Automaten-, mitten im Nirgendwo und inmitten einer meterdicken Mauer eines einsamen alten Bauernhofes, gesehen, in dem man sich per Münzeinwurf unterschiedliche Honigsorten in Gläsern rausziehen kann? Wir waren tief beeindruckt von derart hoher Innovationskraft und Kreativität.

    Wieder zurück auf der „Route de Boussac-Bourg“ passierten wir „La Planche au Pré“ und hatten wieder das Glück, auf Lieblingswegen betörende Landschaften zu genießen. Allerdings entzog sich der schöne blaue Himmel mehr und mehr der Szenerie. Das nun etwas diffusere Licht tauchte das endlose Grasland rechts und links des Weges, das gleichzeitig die eingezäunte Heimat großer Rinderherden irgendwo am Horizont war, in nun strotzend-saftiges Dunkelgrün. Die fortschreitende Tagesdämmerung gebar gleichzeitig eine ganz besondere-, nunmehr mystische Stimmung.

    Mit fortschreitender Müdigkeit, immerhin hatten wir schon rund vierundzwanzig Kilometer auf dem „Buckel“, machte sich er „Gaul“ wieder in unseren Köpfen breit. Er realisierte, dass wir morgen am Ziel unserer heutigen Wanderung, dem „Le Rianon“, einem alten Bauernhaus irgendwo bei „Malleret-Boussac“, unseren nächsten freien Tag zelebrieren würden.
    Immerhin hatten wir in den letzten fünf Tagen einhundertfünfundvierzig Kilometer eliminiert. Besonders ich selbst hatte dazwischen keinen Tag Pause und der gestrige Tag brandmarkte immer noch fast jeden meiner erschöpften Muskeln. Insofern gab sich der Gaul in meinem Kopf besonders viel Mühe mir den morgigen Pausentag in allen Fassetten, als eine Art heiligen Wandergral, ins Hirn zu brennen.
    Da lagen wir also am Pool, richtig gehört, auch den sollte es dort geben, sonnten uns, schliefen bis Mittag, luden Dateien in die Cloud hoch, schrieben unsere Notizen nach, planten die kommenden Touren, ich schrieb an meinem Block, und, und, und ...
    Der Gaul war ein bisschen blöd, denn wir hätten eine ganze Woche freihaben müssen, um alle in unsere Köpfe projizierten „Urlaubsaktivitäten“ zu realisieren. Ich verscheuchten ihn, auch weil ich schon jetzt realisierteÜ 0, dass ein Tag wohl nur ein Tropfen auf einem sehr heißen Stein sein konnte. Dennoch, morgen war frei, great, yea!

    Die letzte kleine Straße der wir nun bis zu unserem heutigen Ziel folgen würden, war an Einsamkeit kaum noch zu überbieten, keine Ahnung wann hier der letzte Mensch gesehen wurde. Am bereits dämmernden Horizont war weit und breit kein Bauernhof oder sonst ein Anzeichen von Zivilisation auszumachen, obwohl es nur noch rund zwei Kilometer Strecke bis zum „Le Rianon“ waren.

    Mangels Gelegenheit entzückten wir jede der weit entfernt am Horizont grasenden Rinderherden rechts und links der kleinen Straße. Sobald sie uns entdeckten kamen sie angerannt, egal wie weit entfernt sie waren, erstaunlich, wie schnell sie „größer“ wurden. Es waren große Rinderherden, sehr große, mit Müttern, Kälbchen und angsteinflößenden „Auvergne-Bullen“. Derjenige, der solche Monster schon einmal gesehen hat, weiß wovon ich hier schreibe. Die herantrabenden Tiere, mit ihren massigen, rund einer Tonne schweren Wächtern, bescherten uns jedes Mal ein reichlich beklemmendes Gefühl auf das wir gut hätten verzichten können. Gut alle hundert Meter eine andere Herde, immer aber feinsäuberlich durch elektrische Stacheldrahtzäune voneinander- und von uns, getrennt. Nur der parallele Teil des Zaunes hin zu unserem Stäßlein, vermochte die geballte Neugier uns gegenüber, zu bändigen.

    Irgendwann, einen Kilometer vor unserem Ziel, hatte es wieder eine Herde auf uns abgesehen. Wir wägten uns in trügerischer Sicherheit denn auch hier erkannte wir in einiger Entfernung Zaunpfosten parallel zur Straße. Während sich die Herde rasend schnell vor uns aufbaute, angeführt von einem Wächter der aussah, als ob er den größten Teil des Tages im Fitness-Studio verbringen würde, bemerkten wir, dass etwas nicht stimmte. Die Herde kam an den Zaunpfosten nicht wie erwartet zum Stehen, es fehlte der Stacheldraht, vermutlich zuvor schon einmal niedergetrampelt. In Zeitlupe realisierten wir, dass diese Herde nichts, aber auch gar nichts davon äüabhalten würde uns zu überrennen.

    Wir machten uns schnellen Schrittes aus dem Staub, immer der einsamen Straße entlang. Instinktiv war uns klar, dass wir keinesfalls rennen durften, dass hätte sie vermutlich provoziert.
    Die Herde erreicht nun unsere Straße die sie in Gänze, über bestimmt 100 Metern Länge, füllte. Wir marschierten schneller, die Herde auch, in gleicher Geschwindigkeit hinter uns her. Der Abstand betrug nur weniger als zwanzig Meter, Tendenz fallend.
    Keine Frage, wir waren Opfer des durchtrainierten „Stiernackens“ und seiner unterwürfigen Herde. Wir verdrängten den Gedanken was passieren würde, wenn er und sein Harem uns einholen würden. Laufen war keine Option, es hätte die Situation, wie schon gesagt, eskaliert. Wir hatten Angst, große Angst, wir waren auf uns allein gestellt, mitten im Nichts. Es blieb uns nichts anderes übrig als cool zu bleiben, oder zumindest so zu tun, was uns nicht besonders gut gelang.

    Und dann, kurz vor der Distanz Null, Glück im Unglück.

    Einige hundert Meter weiter stand die nächste Herde voller knuspriger Kühe auf einer anderen Weide, diesmal innerhalb des Zauns. Natürlich kam auch diese Herde zuvor aus der Ferne angerannt. Die kokettierenden Mädels am Zaun verschoben die Aufmerksamkeit „unseres“ Bullen schlagartig. Was waren schon zwei blöde Wanderer gegen eine ganze Herde wohlriechender, hübscher Frauen die man, vorausgesetzt man schafft es deren „Bodyguard“ zu überlisten, erobern- und in seinen Harem einzuverleiben konnte?
    Nach einer „Vollbremsung“ unseres, von Muskeln übersäten Machos, dem selbstverständlich auch sein sich hinter ihm zusammenrottender Harem folgte zu leisten hatte, machte er sich ans Werk.

    Ich muss gestehen, dass wir diesen Teil der Geschichte, fluchtbedingt, weniger aufmerksam beobachteten.
    Was weiter geschah und welche Rolle dabei der noch intakte Zaun spielte, wissen wir insofern nicht. Beide Herden standen sich jedoch unmittelbar gegenüber, die eine jenseits- und die andere diesseits des Zauns.
    Wir nutzten die Gelegenheit zur erfolgreichen Flucht.
    Nachdem sich unser Puls wieder um die achtzig einpendelte, erreichten wir bei fortgeschrittener Dämmerung unser Ziel, das „Le Rianon“.

    Wunderschön war es hier und die Begrüßung ebenso herzlich. Eigentümer war eine holländische Familie, Erica, Rob und deren beiden jugendlichen Söhne.
    Sofort erzählten wir von unserem Abenteuer. Rob telefonierte umgehend mit einigen Bauern in der Nachbarschaft, um den ahnungslosen Eigentümer der wildgewordenen Herde ausfindig zu machen und diesem dann seine neue Herausforderung schonend zu erklären. Wir konnten uns beim besten Willen nicht vorstellen, wie man eine solche Herde-, und vor allem den Stiernacken, wortgewaltig davon überzeugen konnte, freiwillig, doch bitte wieder nach Hause, auf die langweilige Weide zu traben, und den gerade erst neu entdeckten Mädels wieder das gewaltige Hinterteil zuzuwenden.
    Nicht unser Problem, verriet unser grinsen.

    Gemeinsam mit der Familie saßen wir an einem großen, rustikalen Esstisch. Wir genossen die von Erica zubereiteten Nudeln, mit Salat, einfach aber gut. Selbstverständlich gab es auch eine Vorspeise und ein Dessert, das musste in Frankreich wohl so sein, egal ob man Holländer war oder nicht.

    Müde und erleichtert ließen wir den Abend gemütlich mit der Familie, in historischer Ambiente, ausklingen. Das „Le Rianon“ war dafür die erste Wahl!

    Aber da war doch noch was? Ach ja, morgen war ja Pause, wow, und der Wetterbericht dazu meinte es gut mit uns.

    Die Vorfreude auf den langen Urlaubstag morgen hatte etwas Weihnachtliches.
    Noch lange beschäftigte uns der Stiernacken, sein Harem, und sein Eigentümer mit seiner gewaltigen Aufgabe, in dieser Nacht. Hier waren wir geschützt, ein beruhigendes Gefühl.
    Les mer

  • Dag 11

    Urlaub

    1. mai 2019, Frankrike ⋅ ⛅ 16 °C

    Trip 5, Tag 11, freier Tag im „Le Rianon“, Malleret-Boussac, Mittwoch, 1.5.2019

    Für mich gibt es kaum etwas schöneres als vom Krähen eines Hahnes und dem Gacker seiner Weiber irgendwo da draußen, bei gleißendem Licht, dass nur durch den halbtransparenten Stoff unserer teilweise zugezogenen Vorhänge ein wenig gedämpft wurde, aufzuwachen. Das Frühlingskonzert der paarungsbereiten Vögel im Hintergrund und das Summen erster Insekten ergänzte das Konzert in einer Perfektion, die nur eines zuließ, im Bett festkrallen und nie mehr aufstehen.
    Wie gerne hätte ich diesen Moment für die Ewigkeit konserviert. Kein Wecker der uns gnadenlos um halb sieben, zur zeitlich limitierten Morgenroutine der danach folgenden Wanderung treibt. Einfach nur liegen, einfach nur genießen, herrlich.
    Wir lagen im Bett und erfreuten uns der akustischen- und visuellen Szenerie, die kaum zu überbieten war.
    Das wunderschöne, alte Bauerngehöft, „Le Rianon“ mit seinen dicken, hell getünchten Natursteinmauern, war die perfekte Kulisse dafür. Hier fühlte es sich geborgen an, wie auf einer kleinen Insel in grüner Einsamkeit, die von Erica und Rob und seinem verstorbenen Vater, erschaffen wurde, was für eine Krönung unseres freien Tages.

    Als wir so gegen zehn vormittags, zwar noch verpennt aber dennoch bereits akustisch und visuell reizgesättigt, runter zur Stube kamen, wo unser seit Stunden gelangweiltes Frühstück auf uns wartete, realisierten wir, dass gut ein Viertel unseres Urlaubs bereits vorbei war bevor er überhaupt begann.
    Nach unserem Abenteuer mit dem Stiernacken und seinem Harem wurden wir hier gestern mit einem netten Abend inmitten der Familie entschädigt. Besonders die beiden Söhne beeindruckten durch ihre offene und freundliche Art.
    Von den vielen Aufgaben, die uns der Gaul gestern für den heutigen Tag ins Hirn brannte, würden wir kaum noch welche erledigt bekommen, Depp blöder.
    Von wegen am Pool sonnen, bis Mittag schlafen, Dateien in die Cloud hochladen, Notizen nachschreiben, kommende Touren planen, und meinen Block weiterschreiben, Spinner.

    Erica gab sich reichlich Mühe zwei „ausgemergelte“ Wanderer durch ein reichhaltiges Frühstück wieder einigermaßen auf Vordermann zu bringen. Viel gab es dabei zu erzählen, von uns, von ihrer Familie, über Frankreich und natürlich über unser Abenteuer. Als wir damit gegen Mittag fertig waren, verblieben nur noch zweidrittel unseres kostbaren Urlaubs und damit kaum noch Zeit für vom Gaul eingebrannte Aufgaben, Spinner.

    Wir erkundeten das Gehöft, die Sonne gab sich alle Mühe, um es entsprechend in Szene zu setzen.

    Neunzig Grand zum Hauptgebäude schloss sich die große Scheune an. Auch ihre dicken Natursteinmauern ließen keinen Zweifel daran, dass hier einmal für die Ewigkeit gebaut wurde.
    Das große- und durchaus beeindruckende Scheunentor war zur Hälfte geöffnet. Wir konnten gar nicht anders als einen verbotenen Blick ins Innere zu riskieren, dabei entdeckten wir Sonderbares.
    In der Scheune stand ein großer Zirkuswagen, so ein schöner alter wie beim Zirkus Roncalli. Es roch wunderbar nach Holz, wie in einer Schreinerei. Seine Außenwände waren offenbar neu aufgebaut oder abgeschliffen, vermutlich Kiefernholz. Wir wagten einen Blick in das wohlriechende Kleinod, das, noch ohne Einbauten, so riesig wirkte als hätte es mit seinem Äußeren nicht das Geringste zu tun.
    Mittendrin werkelte Rob, es war das Reich des Tausendsassas der unsere Neugier als Interesse wertete, sich darüber freute, und uns gerne davon erlöste.
    Der vermeintliche Zirkuswagen war eigentlich keiner. Seine Basis war das alte, heruntergekommene Chassis eines landwirtschaftlichen Anhängers. Mit ganz viel Hingabe und Schweiß wurde es zu dem, was es vorgab zu sein, Phoenix aus der Asche sozusagen.
    Robs Plan war den Gästen irgendwann einmal eine Art Zirkus-„Gite“ anzubieten.
    Ein „Gite“ ist ein kleines, freistehendes Häuschen, das meist zu einem „Chambre d'hôtes“ (Bed & Breakfast) gehört und zusätzlich als eine Art Suite angeboten wird. Franzosen lieben „Gites“, weshalb sie fast überall zu haben sind. Das „Le Rianon“ war ein „Chambre d'hôtes et table“, also ein Bed & Breakfast bei dem gegen Aufpreis auch Vollpension "mit Familienanschluss" angeboten wird. Zwar verfügte das „Le Rianon“ bereits über eine „Gite“ aber die Zirkus-„Gite“ würde das Highlight werden, keine Frage, wer hatte so etwas schon?

    Rob bot uns eine Führung über das Anwesen an die wir dankbar annahmen.
    Das „Le Reunion“ lag auf einem sanft nach Süden abfallenden Hang umgeben von Wiesen und Weiden die kaskadenförmig ins Tal des Flüssleins „Petite Creuse“, abfielen. Auf der anderen Seite des Tals, war der Ort „Malleret-Boussac“ zu erkennen und am Horizont, vielleicht fünfzig Kilometer dahinter, bäumte sich das französische Zentralmassiv mit erloschenen Vulkanen und bis zu 1.885 Metern hohen Bergen auf.
    Egal wohin man sein Auge schweifen ließ, nichts störte die Harmonie aus Anwesen Landschaft und Sonne. Eine Harmonie die mich stark an meine Heimat im westlichen Chiemgau erinnerte.

    Hinter dem Haus gab es einen einladenden- aber noch zu kalten Pool, daneben die „normale Gite“. Dem leicht ansteigenden Gelände hinauf erstreckte sich der leere Campingplatz. Eigentlich nur eine gemähte Wiese mit weitläufig vereinzelten Bäumen die im Sommer den begehrten Schatten spenden sollen. Zum Westen und Norden hin begrenzte ein kleines Wäldchen das Gelände. Zentrales Schmuckstück des Campingplatzes aber würde die Zirkus-„Gite“ werden, davon war Rob genauso überzeugt wie wir.
    Rob und Erica hatten noch viel vor, in ihrer nicht mehr ganz so neuen Wahlheimat. Holland war ihnen zu voll und zu teuer geworden, welch ein mutiger Schritt hin zu einem alternativen- und ruhigeren Leben mit Kindern, bewundernswert.

    Die Sitzgruppe zum Chillen auf der Wiese vor dem Haus, lud zum Verweilen ein. Der freie Blick zum Zentralmassiv, die Blumen, die Insekten, das Gacker der Hühner, das Krähen des Hahns und die wärmende Sonne, es war einfach herrlich. Wir waren die einzigen Gäste, niemand begehrte unsere kostbaren Plätze. Ab und zu konnten man Rob an seinem Projekt aus dem Schuppen im Hintergrund werkeln hören.
    Abhängen, einschlafen, abhängen, einschlafen und ein bisschen braun werden, zu mehr waren wir in diesem „Urlaub“ nicht mehr fähig.
    Zum ersten Mal erreichte der Klimaerwartungsindex die mittlerweile unerwarteten 100%. Dennoch, das noch zarte Grün der Blätter an den Bäumen zeugte davon, dass hier noch Frühling war und man mit allem rechnen musste, obwohl wir hier schon ziemlich weit im Süden waren.
    Erste Schlieren am Himmel, die unserer geliebten Sonne die ersten Kräfte entzogen, ließen es dann auch schnell „Unchillig“ werden. Gleichzeitig vermittelten sie eine Vorahnung dessen, was morgen wieder auf uns zukommen könnte. Ganz schnell warfen wir den Frühindikator wieder aus unseren Köpfen, der Gaul warf ihn wieder zurück, Spinner.

    Sechzehn Uhr, dreiviertel des Urlaubs gehörte bereits der Vergangenheit an, da fiel mir auch der Gaul wieder ein. Von seinem ganzen Gequatsche schaffte ich nur noch Fotos in die Cloud hochzuladen und wenigstens die wichtigsten Notizen der letzten Tage festzuhalten. Marion und Erica nutzten die Zeit, um unsere Vorräte an frisch gewaschener Wäsche wieder auf Vordermann zu bringen.
    Es war ein Jammer, dass wir hier nicht länger bleiben konnten, unsere enge Planung ließ keinen Raum dafür. Außerdem wäre der unvergessliche Eindruck vom „Le Rianon“ bei Regen sicherlich etwas entwertet worden.
    Umso mehr genossen wir abends das Dinner mit der Familie. Wir ahnten noch nicht, dass die Bäume morgen nicht weiter zum Himmel wachsen würden.
    Les mer

  • Dag 12

    Tiefpunkt

    2. mai 2019, Frankrike

    Trip 5, Tag 12, Wandertag 9:
    Malleret-Boussac - Guéret, 36,9 km, Steigung 640 Meter, reine Gehzeit 7:30, Donnerstag, 2.5.2019

    Die lichte Transparenz und die leuchtenden Pastellfarben unserer Vorhänge von gestern wurden an diesem Morgen von dem Tristen, draußen, eliminiert. Auch das Krähen der Hähne und das Gackern der Hühner hatte gegen das massive Geplätscher des „Schnurregens“, der durch unser weit geöffnetes Fenster herein plärrte, keine Chance. Das Cello-Konzert meines Handy-Weckers, das Punkt 6:30 ertönte, fügte der Szenerie noch die fehlende Melancholie hinzu. Schlagartig wurde klar, dass damit eine Woche Urlaub, komprimiert auf den gestrigen Tag, nun sein abruptes Ende fand. Es war, als ob wir für diesen Einen, herrlichen Tag, heute wieder büßen müssten. Alles tat noch weh, alles! Ein Tag frei war nichts für unsere geschundenen Knochen.

    Ohne auch nur ein überflüssiges Wort zu verlieren, spulten wir unser zeitoptimiertes, morgentliches Programm ab. Immer noch hinkend und völlig verpennt, schlichen wir uns die Treppe zur Stube hinunter.
    Erikas leckeres Frühstück war unser willkommenes Alibi um den Wanderstart wenigstens noch etwa hinauszögern, reiner Selbstbetrug bei der voruns liegenden, zehnstündigen Wanderung.

    In den letzten fünf Tagen vor unserem eintägigen „Urlaub“ im „Le Rianon“, sind wir 145 Kilometer marschiert, jeden Tag fast dreißig Kilometer. Der heutige Tag aber würde uns mit seinen fast siebenunddreißig Kilometern alles abverlangen, unsere bisher längste Tagesstrecke. Alles ab dreißig Kilometern ist pathologisch, das kennen wir schon, mangelnde Übernachtungsmöglichkeiten zwingen uns zu dem neuen Rekord.

    Erschwerend kommt eine durchwachsene- aber unvermeidbare Streckenführung hinzu. Zwar durchqueren wir die ersten fünfundzwanzig Kilometer vielversprechendes-, ländliches Frankreich, dafür werden wir aber die letzten zwölf Kilometer büßen und reichlich Bekanntschaft mit einer französischen Autobahn machen. Komoot lässt uns nicht erkennen, ob wir gefahrvoll direkt auf ihrem Standstreifen marschieren-, oder vielleicht parallel einen Weg dort finden werden.

    Ziel heute ist das Hotel „Brit Hotel Comfort Auclair“ in „Guéret“, immerhin eine Stadt mit fünfzehntausend Einwohnern. Wenig Aufregendes war im Internet darüber zu finden, kein gutes Vorzeichen.

    Das unablässige Plätschern draußen und das wenige Tageslicht, dass die Fenster beim Frühstückstisch nur verhalten preisgaben, ließen keinen-, aber auch gar keinen Zweifel daran, was uns heute bevorsteht.

    Erica sah uns mitleidig hinterher als wir uns nur höchst widerwillig, gegen neun, bei strömenden Regen und einer Eiseskälte, in voller Regenmontur, vom „Le Rianon“ entfernten. Den Koffertransport zum abendlichen Hotel wollte Rob erledigen.

    Den Regenhut tief ins Gesicht gezogen stapften wir mit wetzenden Regenklamotten stumpf und kommentarlos vor uns hin. Unsere Laufschuhe waren schon nach den ersten hundert Metern glitschnass, und es war kalt, sehr kalt, Anfang Mai bei schlechtem Wetter eben. Nichts erinnerte mehr an den schönen Tag gestern, es war eine andere, eine zutiefst düstere Welt. Jeder, vom Huhn bis Menschen, hatte sich längst in eine warme- und trockene Sicherheit gebracht.

    Nach rund sechs Kilometern liefen wir in „Clugnat“ und seinen 645 Einwohnern ein. Der Regen hatte endlich Erbarmen mit uns. Die tiefhängenden Regenwolken machten aber keinen Hehl daraus, dass sie es sich jederzeit anders überlegen könnten.

    „Clugnat“ ist eine Gemeinde im französischen Zentralmassiv. Sie gehört zur Region Nouvelle-Aquitaine, zum Département „Creuse“, zum Arrondissement „Aubusson“ und zum Kanton „Boussac“ (Falls es der frankreichinteressierte Leser genau wissen möchte).

    Bis hierhin hatten wir so gut wie nichts von unserem Weg mitbekommen. Fotografieren war wasserbedingt ebenso wenig möglich wie ein umherschweifender Blick. Unsere vom Regenhut geschützten Häupter waren die ersten Kilometer ausschließlich zur Straße geneigt, um dem reichlich angesammelten Regenwasser einen geordneten Abfluss von der Hutkrempe zu ermöglichen.

    „Clugnat“ war eine unauffällige- französische Kleinstadt der, wie bei fast allen ländlichen Kleinstädten hierzulande, die meisten Einwohner durch Abwanderung verloren gingen. Vor 60 Jahren zählte der Ort noch doppelt so viele Bürger.
    Ausgerechnet hier auf dem Dorfplatz, dessen Zentrum wie so oft von einem monomentalen Kriegerdenkmal „verziert“ wurde eine geöffnete Apotheke vorzufinden, grenzte schon fast an ein Wunder. Wir nutzten die Gelegenheit und deckten uns mit Blasenpflastern in allen Formen, Farben und Größen ein. Besonders Marion hatte vorzusorgen für die blasenfördernde Distanz.

    Nunmehr ein wenig glücklicher, weil in vermeintlicher Pflaster-Sicherheit wägend, trieb uns die Neugier in die alte, wenig geschmückte Kirche „Saint-Martial“, schräg gegenüber der Apotheke, ebenfalls am Dorfplatz gelegen.

    Ihre Wandgemälde, ein wenig an Höhlenzeichnungen erinnernd, waren alt, sehr alt. Ich würde auf frühes Mittelalter tippen. So etwas hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Durch die fast „primitiv“ wirkenden Wandbemalungen konnte ich das Alter des Kirchleins visuell erfühlen, beeindruckend.

    Obwohl ich zur spirituellen Welt genauso wenig Zugang habe wie ein Mensch zum nächstgelegenen Sonnensystem, verspüre ich dennoch in derart alten Kirchen so etwas wie Ehrfurcht. Sie stehen einfach da, erhaben über allem was ihnen schaden könnte, ein Fels in der Brandung. Diese hier ist gut eintausend Jahre alt, eintausend Jahre, das muss man sich einmal vorstellen. Eintausend Jahre brachte sie den Menschen Glück und Leid, bescherte ihnen Macht und Intrigen, war Lichtblick und düsterer Abgrund zugleich. Alles hatten Menschen hier erlebt, Gutes wie Böses.
    Für mich sind die zu erahnenden „Kirchen-Lebensläufe“ beeindruckend und beklemmend zugleich, egal ob es sich um eine monumentale Kathedrale oder um ein uraltes, vor sich hin moderndes Dorfkirchlein handelt, nur die Dimensionen und die Bedeutung der Protagonisten ändern sich.
    Auch hier erfühle ich so viel Geschichte, von der sie mir nichts erzählen will, schade. So gerne hätte ich dem Kirchlein zugehört, um „Früher“ zu verstehen. Vermutlich aber ist es besser die Geschichte dort zu lassen, wo sie ist, begraben unter meterhohem Schweigen.

    Die „Rue Jules Ferry“ führte uns hinaus aus dem unbedeutenden Ort, neues Zwischenziel war das vier Kilometer entfernte „Ligondeix“, nur eine Handvoll Häuser und noch viel unbedeutender als „Clugnat“.
    Die Wolken waren eine latente Bedrohung, dennoch war der Regen gnädig und erlaubte den gewohnten Weitblick über leichtes, unglaublich grünes Hügelland, wie immer war es menschenleer. Die dunklen Wolken überzogen es mit einem morbiden Vorhang, unserer Stimmung nicht unbedingt zuträglich. Die zarten Temperaturen taten ihr Übriges, Klimaerwartungsindex 20%.
    Über „Ligondeix“ kann ich nichts berichten. Hier gibt’s einfach nichts, worüber man berichten könnte, gefühlt das Ende der Welt. Bestimmt hätte „Ladapayre“, sechs Kilometer weiter, mehr zu bieten, es konnte gar nicht anders sein.

    Die kleine Landstraße „D68“ versprach uns direkt dort hinzubringen. Genau der Typ Straße den ich so liebe, keine Autos, viel Natur, gut zu gehen. Man fragt sich unweigerlich, wozu sie überhaupt gebaut wurde.
    Durch die weiterhin morbide Wolkenstimmung wurde die Anmut der Landschaft zur Theorie. Sie vermochte es nicht uns auch nur ein einziges Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Unsere sonst so reichlich vorhandenen Gesprächsthemen wurden Opfer unseres leidvollen Schweigens. Die Songs, der sanft aus meiner „JBL Clip-2“ Box tönenden „Joni Mitchell“ gaben ihr Bestes, um uns von dieser Monotonie abzulenken, vergebens, war doch ihre Musik an sich schon melancholisch.

    Einen guten Kilometer vor „Ladapayre“, riss uns das aggressive Gekläffe unzähliger Köter, irgendwo hier in der Nähe, aus unserer morbiden Lethargie, leichte Panik stieg in uns auf, ganz langsam, Zentimeter um Zentimeter, immer dem Hals entlang.
    Es war uns nicht möglich die Richtung zu erkennen aus der die Bedrohung kam. War es eine freilaufende Meute? Mit jedem Schritt wurde das Gekläffe bedrohlicher, ich verfluchte jeden Einzelnen von Ihnen, es fiel mir nicht sonderlich schwer. Angespannt folgten wir langsam der kleinen Straße.
    Erst hinter der Kurve wurde die Szenerie klarer, es war ein großes, eingezäuntes Gelände, Hundeknast. Um die zwanzig größeren Jagdhunde, alle bestimmt reinrassig, machten Ihren im Knast angestauten Aggressionen Luft.
    Das Gekläff war ohrenbetäubend, einen Aufseher gab es nicht. Und obwohl sie alle eingezäunt waren, schafften sie es uns eine ordentliche Portion Angst einzujagen. Immer noch steckte uns das Erlebnis mit dem Stier und seinen Kühen, vor zwei Tagen, in den Knochen. Unser Vertrauen in eingezäuntes Gelände hatte sich seitdem in Luft aufgelöst.
    Mit der Distanz wurde die Meute bedeutungslos, nur der unbekannte Züchter bekam noch sein wohl verdientes, verbal-virtuelles Fett ab.

    Emotionslos erreichten wir nach gut sechzehn Kilometern die Église „Saint-Sulpice“ am Ortsrand von „Ladapayre“ mit seinen 355 Einwohnern. Das geheimnisvolle „Chateau de la Dauge“, unmittelbar davor an der kleinen Straße gelegen, straften wir mit Ignoranz, zu erschöpft waren wir, ganz zu schweigen von unserer wolkenverhangenen Stimmung.
    Die Treppe am Eingang zum Kirchlein aus dem dreizehnten Jahrhundert wurde zu unserem Pausenplatz. Immer noch in quietschenden Regenklamotten gönnten wir uns frustriert einen Müsliriegel, Low Carb, versteht sich. Danach folgten zehn Minuten Schweigen. Menschen sahen wir wie immer keine. Wir waren die Einzigen auf diesem Planeten. Mut- und kraftlos hatten wir die immer noch einundzwanzig Kilometer bis zum erlösenden Bett vor den Augen, eine schier unlösbare Aufgabe. Ganz zu schweigen von den nebulösen, letzten zwölf Autobahnkilometern, von denen wir immer noch nicht wussten, wie sie zu meistern wären.

    Mit dem einundzwanzigsten Kilometer liefen wir in „Puy Gaillard“ ein. Nicht, dass die rund zwanzig Häuser und Bauernhöfe es irgendwie verdient hätten, hier erwähnt zu werden. Nein, es war der Himmel, der sich hier zum ersten Mal öffnete und der Sonne für einen kurzen Augenblick eine Bühne eröffnete, spannende Unterhaltung für uns armselige Kreaturen. Schwer zu beschreiben, wie sehr uns ihr gleißendes Licht das Leben zurückgab, es war gewaltig.

    Hinter Moulantier verließen wir die kleine, nahezu unbefahrene Straße und folgten einem Feldweg bis Ajain und seinen 1.130 Einwohnern. Der eineinhalb Kilometer lange Wanderweg wurde zum überwältigenden Naturschauspiel voller landschaftlichen Überraschungen und mit einem kaum zu überbietenden Wolkenspektakel, bei dem die Sonne stets die Oberhand behielt, reines Balsam für unsere geschundenen Seelen.

    Wir passierten eine Leerstehende- und unübersehbare alte Kloster- oder Schlossanlage, oder so etwas ähnliches, Schutz für die „Église de l'Assomption-de-la-Vierge d'Ajain“ aus dem dreizehnten Jahrhundert. Sie verbarg sich unmittelbar dahinter.
    Obwohl wir bereits vierundzwanzig Kilometer auf den Sohlen hatten-, eine konditionelle Grenze an der der Spaß langsam ein "Loch" bekam und an der man sich jeden überflüssigen Schritt nur noch nach genauer Abwägung genehmigt, konnten wir es nicht lassen einen Blick hinein ins modernde Kirchlein zuwerfen. Einmal mehr beeindruckend, Säulen mit mittelalterlichen Fratzen, ungewöhnliche Wandgemälde, kaum beachtete Kunstschätze beim Altar. Meinen „Splin“ mit der ungläubigen Ehrfurcht kennt ihr ja bereits.

    Kurz hinter dem Ortsausgang von „Ajan“ bekam der erst vor Kurzem wieder gewonnene Spaß weitere Blessuren, wir erreichten die „Route de Guéret“. Die Bundesstraße war diejenige, die nach rund zwei Kilometern irgendwo auf die Autobahn „Route Centre-Europe-Atlantique“ stoßen sollte, dort, wo auch das vermeintlich nebulöse Ende unserer heutigen Wanderung beginnen würde. Alles war möglich, auch eine Premiere auf dem Standstreifen der Autobahn, wir wussten es einfach nicht, Komoot konnte uns hier nicht weiterhelfen.

    Die nun folgenden, zehn Kilometer auf der „Route de Guéret“, waren wider Erwarten alles andere als schlimm oder nebulös. Die nahezu unbefahrene Bundesstraße (Der Verkehr hatte sich auf die Autobahn verlagert) verlief einfach in unmittelbarer Nachbarschaft zur parallel verlaufenden Autobahn, ohne Verkehrsstress, dafür aber mit jeder Menge Lärm den diese zu uns herüber plärrte.

    Nach dem dreißigsten Kilometer, immer noch auf der „Route de Guéret“, schmerzte bereits jeder Schritt. Obwohl wir nun bereits seit acht Stunden auf den Beinen waren und dabei deutlich mehr Tiefen als Höhen ertragen mussten, waren es immer noch sieben Kilometer bis zum rettenden Bett. Stumpf taumelten wir nebeneinanderher, das Dröhnen der Autobahn, direkt neben uns, wurde zur latent-akustischen Folter.

    Kurz vor „Guéret“ entledigte sich die Autobahn von der Hälfte ihrer gestressten Fahrer und ergoss sie auf unsere „Route de Guéret“, die nun zum zubringenden Verkehrsmonster mutierte, Feierabendverkehr!

    Zu unserem pathologischen Leid gesellte sich nun auch noch der ohrenbetäubende Zubringerverkehr, jeder wollte jeden an Lautstärke übertreffen, Gewinner waren hier eindeutig die Mopeds die auch bei den Abgasen auf den vorderen Rängen zu finden waren. Kaum zu glauben, dass mit nur 15.000 Einwohnern eine solche Effizienz an Lärm- und Abgas-Emissionen erreicht werden kann. Und dann war da noch die Stadt selbst, die sich immer mehr entlang der Einfallsstraße zum hässlichen Monster aufbaute und dabei selbst die Einfallsstraßen von Offenbach in den Schatten stellte (Die Offenbacher mögen mir das schlechte Rating eines Außenstehenden gegenüber ihrer Stadt bitte verzeihen).

    Mit dem fast siebenunddreißigsten Kilometer und nach neuneinhalb Stunden auf den Beinen, erreichten wir humpelnd, völlig kraftlos, hungrig, verdreckt und desillusioniert, das nicht gerade einladende „Brit Hotel Comfort Auclair“. Rob hatte unsere Koffer netterweise bereits heute Vormittag schon hier abgegeben.

    Schweigend bezwangen wir in Rekordzeit den Hunger mit einem überdimensionalen Steak, im knallroten-, hoteleigenen Steakhaus.

    Fitbit, mein Fitness Tracker, zeigte mir für heute 51.587 Schritte- und 6.378 Kalorien Energieverbrauch an. Cool, reinhauen was geht und dennoch abnehmen!

    Nun hatten wir keine Zeit mehr zu verlieren und nur noch einen Gedanken im Kopf: Duschen und schlafen, schlafen, schlafen!
    Les mer

  • Dag 13

    Klostertage

    3. mai 2019, Frankrike ⋅ 8 °C

    Trip 5, Tag 13, Wandertag 10:
    Guéret - Thauron, 30 km, Steigung 580 Meter, reine Gehzeit 6:14, Freitag, 3.5.2019

    Die Nacht war gefühlt ein Wimpernschlag als um sieben Uhr morgens das Cello-Concert, wie fast an jedem Morgen, erbarmungslos und verschwenderisch aus dem Handy krächzte. Schade um das schöne Concert. Trotz der neun Stunden Tiefschlaf, mehr am Rande der Bewusstlosigkeit, waren wir wie gerädert und eigentlich fühlte sich der neue Tag eher an wie das Ende einer Wanderpause, so kurzweilig war die Nacht.
    Nur mit Hilfe unseres Wundermittels, „Voltauren Resinat“, gestern Abend noch kurz vor dem Schlafen eingeworfen, konnten wir uns heute überhaupt noch bewegen. Dennoch war jeder Schritt schmerzhaft wogegen eine weitere Ibuprofen 600, eingenommen nach dem französischen Frühstück, wenigstens etwas Linderung versprach, alte Wandererfahrung.

    Um halb zehn standen wir wieder auf der Straße. Unseren Gepäcktransport übernahm ein Taxi. Den scheußlichen Tag gestern hatten wir mental verarbeitet. Es sah ganz danach aus, dass uns das Wetter heute wohlgesonnener sein würde, zumindest regnete es nicht mehr, das war ja schon mal was. Die Strecke von „nur“ dreißig Kilometern heute gab Hoffnung, waren das doch immerhin sieben Kilometer weniger als gestern. Wir waren wahre Meister im schmerzhaften Selbstbetrug. Gegenseitig ermutigende Worte, kombiniert mit neuer Tagesenergie und fernem Realitätssinn, das war eine stets gefährliche Mischung die dreißig Kilometer leicht mal eben so in einen lächerlichen Mittagsspaziergang transformierten, böse Falle mit schmerzhaftem Erwachen.

    Wir verließen Guéret in südlicher Richtung und schlossen, noch kurz vor dem Abschied, Frieden mit dem Ort der sich uns gestern, vom Norden herkommend, doch so feindlich, hässlich und nass präsentierte. Die kleine aufsteigende „Rue de Pommeil“, die uns aus dem Ort führte, war mit ihren bürgerlichen Häusern gefällig und bot zurückblickend, noch einmal zum Abschied, eine schöne Aussicht über die Stadt und ihre Dächer.
    Nach knapp zwei Kilometern führte uns die „Route des Bains“, rechts abzweigend, ein wenig mehr in Richtung vielversprechende Natur. Nach einem weiteren guten Kilometer verließen wir auch diese kleine Straße und folgten einem rechts abzweigenden Pfad, hinein in dichtes Unterholz, die Natur hatte uns endgültig wieder.

    Es war eine eigenartige Stimmung geprägt von Kälte und bedecktem Himmel, der es dem Wald, nach meiner Kategorisierung niedriger „Schmuddelwald“, unmöglich machte, bei uns einen freundlichen Eindruck zu hinterlassen. Menschen begegneten wir nicht, wie fast immer waren wir allein und genossen unsere Zweisamkeit.
    Nach einem weiteren Kilometer verließen wir den Single Trail, und sein wenig ansprechendes Unterholz und querten die „Route du CMCN“. Die Landschaft öffnete sich zu einem wahren Augenschmaus, strotzend grün und hügelig aber durch die immer noch tiefhängenden Wolken dennoch bedrohlich. Nur die wenigen kleinen blauen Löcher, die die Bedrohung bedrohten, machten ein wenig Hoffnung auf ihren Sieg.

    Das offene Landschaftsvergnügen währte leider nur ein kurzes Stück, gerade so als wollte der Wald uns eine letzte Gelegenheit geben noch einmal kräftig durchzuatmen, bevor er uns endgültig in seinen Rachen verschlingen würde.
    Der Rachen erstreckte sich über die nächsten fünf Kilometer.
    Aus dem niedrigen „Schmuddelwald“ wurde ein lichter Buchenwald dessen zartes grün seiner ersten Blätter alles andere als sommerlich anmuteten. Und auch die ersten Frühblüher zu seinen Füßen machten uns schnell klar, dass wir besser vier Wochen später unterwegs gewesen wären. Hier war immer noch kalter, beginnender Frühling. Unsere ganze Hoffnung lag bei den späteren Wanderabschnitten, dann, wenn wir hinter Bordeaux auf den Atlantik stoßen würden. Bis dahin hatte der Sommer noch viel Zeit sich zu sammeln und uns zu finden.

    Mit dem siebten Kilometer erreichten wir den mit 688 Meter höchsten Punkt der heutigen Wanderung, die bisher zweihundertfünfzig bezwungenen Höhenmeter hinterließen bei uns bereits erste Spuren einer leichten Erschöpfung. Der Waldweg veränderte mehr und mehr sein Gesicht. Die Monotonie des Buchenwaldes, zerschnitten vom kurvenlosen Wanderweg, wich einem abwechslungsreichen verschlungenen Pfad, durchsetzt mit großen Felsen und einem fortwährenden Auf- und Ab. Der abwechslungsreiche Pfad erinnerte mehr an einen Motorcross-Trail.

    Nach dem neunten Kilometer spuckte uns der Wald kurz vor „Le Mas Foreau“ wieder aus. Die wenigen gepflegten Häuser des winzigen Ortes waren eine willkommene Abwechslung, grüngeschädigt wie wir mittlerweile bereits wieder waren.

    Wir folgten der „Rue du Moulin“ die offensichtlich nur für uns irgendwann gebaut wurde, Autos fuhren so gut wie keine. Immer noch begegnete uns am heutigen Tag kein Mensch, Frankreich gehörte uns ganz allein, herrlich.

    Bei den nun folgenden fünf Kilometern verloren wir uns im Rausch der Sinne. Die offene und geschwungene Landschaft, okkupiert von gepflegten- und spärlich verteilten alten Häusern, sowie das zerbrechlich zarte Grün der Wiesen, Büsche und Bäume, versetzten uns fast schon in Euphorie. Wieder einmal wussten wir, warum wir das taten was wir taten, wandern, jeden Tag. Für uns kein Selbstfindungstripp, wie so oft von Fernwanderern heraufbeschworen, nein, uns reichte die Natur und die tägliche Veränderung, gefunden hatten wir uns ja schon.

    Hinter dem kleinen Ort „Massebrot“ stießen wir auf die „D940“ in der Karte zwar als gelbe Bundesstraße markiert, dennoch auch sie so gut wie unbefahren. Die grandiose Landschaft und ihre Farben, setzten sich fort. Es gab nichts was geeignet gewesen wäre diese Harmonie in irgendeiner Art und Weise zu stören, keine Strommasten, keine Windmühlen, keine herunter gewirtschafteten Bauten, alles war perfekt, ohne visuelle Verschmutzung.
    Eine kleine Mauer am Wegesrand nach dem achtzehnten Kilometer, war der ideale Platz für unsere Pause. Von den heutigen sechshundertdreissig Höhenmetern hatten wir bereits einen Großteil erledigt was unsere Muskeln mit fortschreitender Erschöpfung quittierten, eine Pause war insofern dringend nötig. Genüsslich kauten wir an unseren sorgfältig belegten Baguettes, die wir heuten Morgen noch schnell am Frühstücksbuffet stibitzten.

    Wir genossen die Stille an der vermeintlichen kleinen Bundesstraße, immer noch nahezu unbefahren, und die, anstelle von Autos, nur von einigen paarungsbereiten Vögeln angenehm gestört wurde.
    Während wir so genüsslich vor uns hin kauten (Man glaubt ja gar nicht wie gut so ein Baguette schmecken kann) realisierten wir, dass unser heutiges Ziel, das „l'Abbaye du Palais“, vermutlich ein echtes Highlight werden könnte, noch dazu für zwei Nächte. Für uns war das uns schon fast Urlaub, auch ohne Wanderpause, denn wir würden morgen von dort die nächste Wanderung starten- und vom Endpunkt wieder mit dem Taxi zurückkehren.
    Das l'Abbaye du Palais, mit vollem Namen "Abbaye du Palais de Notre Dame", wie der Name schon sagt, ein altes Kloster (Zisterzienser), wurde im zwölften Jahrhundert von Bernhard von Clairvaux gegründet.
    Die Bilder im Internet waren so fantastisch, wir konnten gar nicht glauben, dass es so etwas wirklich gibt. Nein, es musste einen Haken geben, ein modriges Zimmer, Toilette im Flur, Bruchbude, alles war möglich, wir waren auf alles vorbereitet, nur noch 12 Kilometer, dann würden wir es wissen.

    Der Himmel verwöhnte uns mehr und mehr mit seinem wunderschönem blau was die Blätter, Wiesen und Blumen um uns herum mit ihren zart-leuchtenden Farben honorierten, es war herrlich, nur kalt-, ja, kalt war es leider immer noch.

    Irgendwann passierten wir „Combeauvert“. Der winzige Ort erlangte durch das „Massaker von Combeauvert“ am 9. Juni 1944 traurige Bekanntheit. Hier wurden 31 Guerillas von den Deutschen hingerichtet. Ein Denkmal kurz vor dem Ort erinnerte daran, beklemmend.

    Nach neunundzwanzig köstlichen Naturkilometern standen wir, bereits deutlich erschöpft, nun auf der Brücke die uns über den Fluss „Le Thaurion“ bringen würde. Von der Brücke aus gab es eine Menge zu entdecken, spannendes Terrain. Der weißblaue Himmel spiegelte sein Antlitz eins zu eins im breiten-, langsam fließenden Gewässer, ein herrliches Schauspiel.
    Nur noch ein Kilometer, dann würde unsere ungeduldige Neugier befriedigt werden, aber der eine bergauf Kilometer sollte es in sich haben. Es nutze nichts, irgendwie mussten wir da hoch. Eigentlich nichts Besonderes, aber nach fast dreißig Kilometern doch schon eine nervige Hürde. Die fast einhundert gewanderten Kilometer der letzten drei Tage mit ordentlich Höhe dazwischen, wiesen unsere Kräfte deutlich in die Schranken. Wir schleppten uns Meter für Meter hoch waren aber dennoch von der Schönheit der Gegend, auch auf diesem letzten Kilometer, beeindruckt.

    Und dann endlich, wir standen am Eingangstor zur kleinen Privatstraße die abzweigend von der Hauptstraße auf das Klostergelände führte. Das rote Kreuzritter Kreuz am Tor war verheißungsvoll.
    Das Gelände war riesig, es hatte die Dimensionen eines Parks der weitläufig von gewaltigen Laubbäumen mit unterschiedlichem rot-grünen Blättergewand durchsetzt war. Das strotzende Grün der gepflegten, weitläufigen Rasenflächen dazwischen, beherbergte, verstreut über den Park, gewaltige, mittelalterliche Ruinen. Es war ein märchenhafter Ort. Ein derartiges Ensemble aus Bäumen, Wiesen und Ruinen sahen wir heute zum ersten Mal.

    Inmitten dieser gewaltigen Umgebung war das jüngere Hauptgebäude, nur einige hundert Jahre alt. Es wurde während der Französischen Revolution zerstört aber danach wieder aufgebaut. Den unmarkierten Eingang in diesem großen Gebäude zu finden war nicht trivial, eine unscheinbare Haustür erlaubte uns schließlich den Zutritt, man erwartete uns bereits.
    Hier drinnen war es mindestens genauso einzigartig wie draußen im Park. Das ehrwürdige Gemäuer erinnerte mehr an ein Schloss. Mit seinem alten Mobiliar perfekt in Szene gesetzt, es war der Wahnsinn. Die lange Tafel des beeindruckenden Kaminzimmers nebenan zeigte eindrucksvoll, dass hier gemeinsam mit allen Gästen getafelt wird, klar, wir waren ja auch in einem „Chambres d'hôtes“. Dinner gabs in einer Stunde, die nette holländische Gastgeberin brachte uns auf unser Zimmer.

    Die Inszenierung setzte sich auch hier fort, alles war geschmackvoll alt, passend zum Gesamten eingerichtet. Im Raum stand eine uralte Email-Badewanne, die ich und jede Faser meiner Muskeln voller Vorfreude wohlwollend zur Kenntnis nahmen. Von den Fenstern aus präsentierte sich der herrliche Park mit seinen Ruinen, er wirkte wie ein Gemälde von David Caspar Friedrich. So sehr wir uns auch bemühten, wir fanden kein Haar in der Suppe, alles war maximal begeisternd. Schon ärgerten wir uns, dass wir hier nur zwei Nächte bleiben konnten.

    Das fünfgängige Dinner war ein weiteres Highlight. Wir waren ca. fünfundzwanzig internationale Gäste die gemeinsam hier den Abend an der Tafel am lodernden Kamin schnatternd verbrachten. Alles spannende Menschen. Dennoch, wir waren die Sensation als wir berichteten, dass wir zu Fuß aus Hamburg hier waren, jeder wollte wissen, wie das geht.

    Und jeder von ihnen war verzaubert von diesem Ort.
    Les mer

  • Dag 14

    Allein

    4. mai 2019, Frankrike ⋅ 9 °C

    Trip 5, Tag 14, Wandertag 11:
    Thauron - Les Billanges, Église de la Nativité de Saint-Jean-Baptiste, 30,7 km, Steigung 470 Meter, reine Gehzeit 5:42, Samstag, 4.5.2019

    Der heutige Plan ist zur gut dreißig Kilometer entfernten „Église de la Nativité de Saint-Jean-Baptiste“ in „Les Billanges“ zu marschieren, und von dort vom wartenden Taxi wieder zurück zur Abbaye gebracht zu werden.
    Morgen sollte es uns dann wieder zurück zur Église bringen, von wo aus wir die morgige Tour starten wollen. So können wir zwei Nächte in der Ebbaye genießen, ohne einen Wandertag zu verlieren.
    Zunächst aber galt es erst einmal diesen Tag gut zu überstehen, denn auch die über dreißig Kilometer heute waren ein echtes Brett.
    Marion sah das etwas anders, das zeichnete sich schon gestern Abend beim Dinner ab. Zum einen, weil ihr die fünfundsechzig Kilometer der letzten beiden Tage ordentlich zugesetzt hatten und zum anderen, weil dieser Ort einfach zu schön war um ihn nur an zwei Abenden, völlig erschöpft und viel zu kurz, kaum genießen zu können. Sie wollte sich die Außenanlagen und den Park ansehen, für Beides reichte die Zeit aber leider nicht.
    Die Erschöpfung traf grundsätzlich auch auf mich zu.
    Allerdings bin ich ein zutiefst bichromer Mensch, bei dem es meist nur zwei Zustände gibt, nämlich Null oder Eins, ganz oder gar nicht, weiß oder schwarz, das war (leider) schon immer so. Diese Charaktereigenschaft bringt einen zwar recht oft recht weit, verhindert aber andererseits auch den Blick auf die schönen Dinge des Lebens dazwischen, die Farbzonen oder Grauschattierungen, so auch heute.
    Einen ungeplanten Tag hier zu verbringen, bedeutete einen Abschnitt unserer Wanderung, nämlich die dreißig Kilometer heute auf unserem Weg nach Compostela, nicht gegangen zu sein. Mit diesem Keks im Kopf hätte unser Projekt für mich seinen Wert weitgehend verloren, alle bisherige Leistung wären so für mich unbedeutend geworden, der Keks hätte mich zutiefst demotiviert. Ja, ich bin komisch, ich weiß, aber jedem seine Macke.

    Nein, dies war insofern keine Option für mich, somit musste ich mich heute wohl allein vergnügen, kein Problem. Einzig der Gedanke heute schon wieder dreißig Kilometer auf den Beinen zu sein und morgen noch einmal über dreißig, zügelte meine Motivation etwas. Keine Ahnung wie ich die einhundertdreißig Kilometer vom letzten freien Tag bis zum Nächsten in Limoges, mit ordentlich Höhe dazwischen, in nur vier Wandertagen überstehen sollte. Die Planung war mangels Übernachtungsgelegenheiten leider nicht anders zu machen.
    Seit Beginn dieser Etappe in Vézelay, verschaffte sich Marion immer wieder Luft um ihren Unmut über meine „schlechte Planung“ mit den vielen Kilometern in diesen vier Tage auszudrücken, ich konnte jedoch nichts dafür. Frankreich zeigt eben in den ländlichen Gebieten fast schon kanadische Verhältnisse, viel Landschaft, kaum Menschen, noch weniger Übernachtungsmöglichkeiten.

    Die Nacht im herrschaftlichen Bett war fantastisch, trotz- oder gerade wegen der Erschöpfung fühlte es sich an, als ob mich das Bett in sich hinein saugen würde, wir verschmolzen (Das Bett und ich).

    Das Frühstück war zu unserer Freude nicht Französisch, sondern üppig amerikanisch, ganz nach meinem Geschmack. Mit einem vollen Bauch, gefüllt mit reichlich Baken und Spiegeleiern, sowie bewaffnet mit einem sorgfältig belegten Baguette im Rucksack, machte ich mich, trotz Resinat und Ibu noch arg vom Muskelkater gequält, auf den langen Weg,

    Bereits gestern, als wir kurz vor der Abbaye noch auf der Le Thaurion Brücke standen, stach mir in der Ferne ein stillgelegtes Eisenbahngleis in die Augen. Meine Recherchen ergaben, dass ich mir auf dieser Trasse eventuell mehrere Kilometer Wanderweg einsparen könnte, soweit die Idee.

    Nach zwei Kilometern beglückte ich die 254 Seelen in „Bosmoreau-Les-Mines“ (Ja, hier gab es sogar Einheimische zu sehen) mit meiner Gegenwart. Die einhundertfünfzigjährige Steinkohle-Bergbaugeschichte konnte man noch erahnen. Ein kleiner Museumsbahnhof mit den verrosteten Resten der ehemaligen Grubenbahn davor legten Zeugnis ab. Deshalb auch meine auserwählte, stillgelegte Schienentrasse.
    Hier wollte ich mein Schienenexperiment starten. Es gestaltete sich schwierig erst einmal dort hinzugelangen. Überall Gestrüpp durchsetzt mit Brombeeren das es zu durchdringen galt. Gut zerkratzt und leicht verschwitzt stand ich endlich auf dem alten Gleisbett, um von nun an Schwelle für Schwelle abzuschreiten, etwas nervig, weil deren Distanz so gar nicht meiner Schrittlänge entsprach. Ich assoziierte mein Tun mit dem einsamen Leben eines amerikanischen HoBos.

    Die Böschung rechts und links der Trasse wurde immer höher und das darauf wachsende Gestrüpp immer üppiger. Es beugte sich zunehmend über das Gleisbett, so als ob es mich anspringen wollte. Am Horizont zeichnete sich bereits ab, dass sich das Monster die Trasse ganz einverleiben würde.
    So kam es auch. Nach nur zweihundert Metern war Schluss, die Trasse wurde vom Monster einfach verschluckt, ein Durchkommen unmöglich. So viel Energieverschwendung bereits am Anfang meiner heutigen Wanderung, ätzend. Es blieb mir nichts anderes übrig als wieder zurückzugehen und den Kampf mit Brombeeren und Konsorten, hinaus zur Straße, wieder aufzunehmen.

    Ziemlich ramponiert und von oben bis unten zerkratzt, stand ich wieder auf meiner geplanten Route, deutlich geläutert von so viel Schnapsidee.
    Irgendwann passierte ich „Murat“ mit seinen zweihundertachtzig Franzosen.
    Das Wetter wurde spannender und schwankte latent zwischen Sonne und Regen. Die Folge war gefühlt jede halbe Stunde die Regenklamotten umständlich an- und auszuziehen. Die Regenjacke war weniger das Problem, die Regenhose war da schon umständlicher.
    Dennoch, ich war allein und konnte mein Wandertempo weitgehend selbst bestimmen. Getrieben vom Gedanken heute noch möglichst viel von der Abbaye mitzubekommen, schwebte ich mit sechs Kilometern pro Stunde über die kaum befahrene Landstraße. Für die schöne Landschaft hatte ich mittlerweile keinen Blick mehr, man verblödet im Paradies wenn man es zu lange genossen hat, ich wollte nicht weiter verblöden und so schnell wie möglich heim, zu Frau und Abbaye.

    Mit dem achtzehnten Kilometer wetzte ich in meinen Regenklamotten durch „La Forêt“. Von seiner Handvoll Einwohner begegnete mir keiner.

    Nach weiteren zehn Kilometer und drei weiteren mal umziehen stand ich zum dritten Mal am heutigen Tag auf einer Brücker über der „Le Taurion“. Dem Fluss machte es anscheinend Spaß sich in riesigen Bögen durchs Land zu schlängeln.

    Bis zur „Église de la Nativité de Saint-Jean-Baptiste“ in Les Billanges waren es jetzt „nur“ noch gute zweieinhalb Kilometer. Der vom Hotel arrangierte Rücktransport, ein Taxi mit einem marokkanischen Fahrer, wartete bereits. Für das mittelalterliche- und sicherlich nach Schimmel müffelnde Kirchlein hatte ich keinen Nerv mehr, es gab in Frankreich einfach zu viele davon.

    Das kommunikative Wesen des Fahrers und mein Sendungsbedürfnis ließ uns schnell Freunde werden, die Fahrt zurück verging dank angeregter Unterhaltung im Fluge.

    Endlich wieder in der Ebbaye.

    Marion empfing ihren leicht herunter gerissenen- und ziemlich ramponierten Mann sehr entspannt. Sie berichtete mir von Ihren Entdeckungen im Ebbaye-Park insbesondere vom imposanten Pool, der leider zu dieser Jahreszeit noch nicht in Betrieb war und ich von meinen heutigen Abenteuern, insbesondere vom Monster.
    Leider ging schon wieder die Sonne unter, so dass ich heute wohl wieder nichts vom umgebenden Park sehen würde, egal, ich wäre eh nicht mehr dazu in der Lage gewesen.

    Auch das heutige Tageshighlight war das Dinner am Kamin mit den leckeren fünf Gängen und den illustren Gästen die einmal mehr Mitleid mit mir hatten, musste ich doch heute schon wieder soweit wandern … Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass Fernwandern auch ein Vergnügen sein kann.

    Mich freute es besonders, dass Marion mental wieder hergestellt- und für morgen wieder fit war.

    Ihre Entscheidung heute auszusetzen war die Richtige.
    Les mer

  • Dag 15

    Südfrankreich

    5. mai 2019, Frankrike ⋅ 6 °C

    Trip-5, Tag-15, WT 12:
    Les Billanges, Église de la Nativité de Saint-Jean-Baptiste - Limoges, 32,7 km, H490, A590, reine Gehzeit 6:42, Sonntag, 5.5.2019

    Gestiefelt und gespornt saßen wir ein letztes Mal an der Frühstückstafel in der schönen Ebbaye. Marion gut erholt und voller Tatendrang ich erschöpft und nur noch an den freien Tag, morgen in Limoges, denkend, Limoges, endlich!

    Noch einmal dreiunddreißig Kilometer, und dann nur noch abhängen, morgen den ganzen Tag, was für eine Verheißung.
    Die anderen von Frühstückstisch teilten noch einmal ihr Mitleid mit uns armen Fußgängern, dann standen wir wieder auf der Straße, voller Wehmut diesen besonderen Ort nach so kurzer Zeit schon wieder verlassen zu müssen. Aber wir kommen wieder, ganz bestimmt.

    Langsam schlichen wir uns auf der „Route d'Entrecolles“ in Richtung Süden aus dem kleinen Ort.
    Gleich am Ortsausgang entdeckten wir das Symbol eines Jakobsweges, wir befinden uns zufällig auf dem „Saint Jacques du Limousin-Périgord“, einem Abschnitt der „Via Lemovicensis“ und einer der vier Haupt-Jakobswege in Frankreich. Er führt über neunhundert Kilometer von Vézelay nach „Saint-Jean-Pied-de-Port“ an der spanischen Grenze in den Pyrenäen und ist ein Zubringer zum „Camino Francés“. Es ist der Jakobsweg in Spanien nach „Santiago de Compostela“, den jeder kennt.

    Obwohl der Via Lemovicensis einer der Hauptzubringer-Pilgerpfade zum Camino Francés ist, sieht man hier kaum bis gar keine Pilger. Fast alle starten ihren Weg nach Santiago erst in an seinem Ende, in Saint-Jean-Pied-de-Port.
    Die neunhundert Kilometer von Vézelay bis hierher haben wir auf eigenen Wegen zurückgelegt, umso überraschter waren wir, dass uns unsere Navigation zufälliger Weise nun ebenfalls auf die Via Lemovicensis geführt hat.
    Lange wird das Vergnügen aber wohl nicht währen. Unser Plan ist es Santiago über den spanischen, achthundertachtzig Kilometer langen „Camino del Norte“ zu er erwandern. Er beginnt im Baskenland, in „Irun“ am Atlantik, gleich hinter der französischen Grenze, also weiter im Norden. Nur sechs Prozent aller Pilger wählen diesen deutlich anstrengenderen- aber vermutlich schöneren Küstenweg nach Santiago. Insofern werden wir die Via Lemovicensis irgendwo hinter Limoges wieder in Richtung Bordeaux auf eigenen Wegen verlassen.

    Von Regen scheinen wir heute verschon zu werden, der weißblaue Himmel macht Hoffnung. Nach einem halben Kilometer erwartete uns links ein Forstweg, er wolle uns die kommenden drei Kilometer seine romantische Heimat zeigen, hat sich gelohnt.
    Kurz vor „Saint-Laurent-les-Églises“ und seinen achthundertachtzig Franzosen trennten sich jedoch unsere Wege.
    Wir folgen nun der „Route de Lascaux“ und danach der „Route de Bussin“, kleine, unbefahrene Straßen, eingebettet in vielversprechende Natur.

    Nach den ersten sieben Kilometern erwartete uns Stolz nun ein zwei Kilometer langer Single Trail, er lud uns ebenfalls ein seine wildromantische Heimat kennen zu lernen, auch er hielt was er versprach.

    Mit dem zwölften Tageskilometer liefen wir in „La Maisonette“ ein. Einige versprengte Häuser und Bauernhöfe boten visuelle Abwechslung, es gab einiges zu glotzen, alles nicht der Rede wert, Kleinigkeiten, aber eben doch eine willkommene Abwechslung.

    Die heutige Tour führt uns durch drei Täler. In ein jedes sind einhundert Meter abzusteigen, um kurz danach wieder auf dieselbe Höhe hinaufzukriechen, zwei davon hatten wir bereits hinter uns und unser Akku damit bereits deutlich schwächer.

    Bei den nächsten vier Kilometer bis „Le Buisson und seinen 1.943 Einwohnern durchwanderten wir eine nicht alltägliche, liebliche Auenlandschaft in grandioser Natur und folgten weiter der „Route de Puy Neige“ (D207).

    Mit dem vierzehnten Kilometer hatten wir endlich auch das Dritte- und letzte Tal abgehakt. Ab jetzt sollte es eigentlich entspannter für uns weiter gehen, aber die drei Täler hinterließen bereits deutliche Spuren bei unserer Kondition.

    Für diejenigen unter den Lesern, die es noch genauer wollen, wir befinden uns mittlerweile im „Département Dordogne“ in der Region „Nouvelle-Aquitaine“.

    Ab den zweiundzwanzigsten Kilometer ging es dann wohltuend abwärts zum Tal des Flusses „La Vienne“ an dem auch „Limoges“ und seine Sage und Schreibe 133.000 Einwohner ihre Heimat gefunden haben. Es viel uns nach so viel Einsamkeit schwer uns eine solche Massen an Menschen auf einem einzigen Haufen vorzustellen.

    Der Wald gab den schönen Blick über das Tal und seinen Fluss frei. An den abfallenden Hängen klebten bereits die ersten Häuser der 6.038 Einwohner von „Le Palais-sur-Vienne“, bereits ein Vorort von Limoges. Wie gesagt, derart „große“ Ortschaften waren wir nicht mehr gewöhnt, und deren Straßenverkehr schon gar nicht.

    Die Einfamilienhäuser und Villen zogen sich weiter der Straße entlang. Bei genauerem Hinsehen auf die Häuser und Gärten hatte sich jedoch etwas verändert. Erst allmählich wurde uns klar, dass es die Architektur der Häuser war, die sich hier schlagartig und grundlegend verändert hat, quasi von einem Meter zum Anderen. Der bisherige, französische Landhausstiel wich einer nun durchgehend mediterranen Bauweise, eine komplett andere Architektur als ein paar Kilometer zuvor, bemerkenswert.
    Wir waren plötzlich in Südfrankreich.
    Aber auch die Palmen, und die mediterranen Pflanzen in den Gärten legten unmissverständlich ein südliches Zeugnis ab, wir konnten uns vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen. Nie hätten wir diesen solchen Wechsel derart intensiv aus dem Auto mitbekommen.

    Unsere Augen lechzten nach dieser willkommenen Abwechslung, hier war es plötzlich wärmer und mediterran gefällig, es war herrlich.

    Mit dem fünfundzwanzigsten Kilometer, unten am Fluss angekommen, standen wir auf der Brücke über die „La Vienne“. In der Ferne sahen wir bereits den gewaltigen Turm der „Kathedrale Saint-Étienne“ wie eine Nadel, hoch über Limoges, aufragen.

    Um den vermeintlichen Straßenverkehr nach Limoges zu entgehen, beschlossen wir auf der anderen-, gegenüberliegenden Uferseite, die verbleibenden acht Kilometer zur Stadt zu gehen, eine gute Wahl, hier gab es keine Autos.
    Der schöne Weg, eingebettet in eine gefällige Auenlandschaft, war zufällig auch wieder ein Teil der Via Lemovicensis. Im Boden eingelassene Jakobsmuscheln aus Messing legten Zeugnis ab.

    Mittlerweile waren wir mit unseren Kräften endgültig am Ende. Wir schleppten uns eigentlich nur noch und konnten es kaum erwarten unsere gestressten Muskeln und Knochen endlich im „Appart-Hotel Villa Beaupe“ aufs vermeintlich weiche französische Bett zu schmeißen.

    Einzig das bunte Treiben am Flussufer riss uns aus der Lethargie der Schrittfolge und lenkte uns willkommen ab. Hier grillten Familien, angelten deren Väter oder joggten die Söhne und Töchter, ja, es gab viel zu entdecken.

    Mit dem einunddreißigsten Kilometer standen wir wieder auf einer uralten Steinbrücke über der La Vienne, diesmal unmittelbar vor Stadt, die sich nun mächtig auf einem Hügel, gemeinsam mit der Kathedrale thronend, eindrucksvoll vor uns aufbaute. Die Erkenntnis, dass es zum Hotel nur diesen einen Weg über den Hügel mit der Kathedrale gab, wirkte ernüchternd, unsere Beine waren mittlerweile kraftlos.

    Mühsam schleppten wir uns die nicht enden wollende Steigung hinauf zum Berg, eigentlich ein Witz, nicht aber nach gut dreißig Kilometern und schon gar nicht nach einhundertzwanzig Kilometern in den letzten vier Tagen.

    Es dauerte etwas, bis wir die Villa Beaupe gefunden haben, sie lag etwas zurück versetzt in einem Hinterhof an einer gut befahrenen Straße. Vom Verkehrslärm waren wir völlig entwöhnt, hier würden wir das leider nachholen.

    Die Villa in weiß war top restauriert und unsere Ferienwohnung modern und komplett ausgestattet, nur eben etwas laut von der Straße her.

    Das französische Bett aber hielt was es versprach, es war kuschelweich.

    Morgen haben wir Urlaub. Man mag sich gar nicht vorstellen wie man sich auf einen einzigen Tag derart freuen kann.
    Les mer

  • Dag 16

    Limoges, frei

    6. mai 2019, Frankrike ⋅ 11 °C

    Trip-5, Tag-16:
    Limoges, frei, Montag, 6.5.2019

    So richtig funktionierte das mit dem Vorsatz „Ausschlafen“ nicht, denn den einen wertvollen Tag wollten wir natürlich nicht vergeuden, zu viel hatten wir uns für heute vorgenommen.

    Gemütlich saßen wir in unserer Ferienwohnung am Frühstückstisch, kauten auf unserem Baguette und glotzten französisches Frühstücksfernsehen. Die Zutaten fürs Frühstück haben wir gestern Abend, auf dem Weg zur Villa Beaupeyrat, noch irgendwo eingesteckt.

    Französisches Frühstücksfernsehen war witzig. Im Grunde wie deutsches Frühstücksfernsehen nur mit einem Unterschied. Hierzulande wird aus allen Bundesländern berichtet, in Frankreich ebenfalls aber zusätzlich auch noch aus deren Überseegebieten wie Französisch-Guyana, Neu Kaledonien oder französisch Polynesien, eine wilde Mischung, fanden wir wirklich sehr lustig.

    Es drängte uns in die Stadt, unser Verlangen nach Geschäften, Menschen und etwas Kultur war gewaltig. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite und die Temperaturen ließen es zum ersten Mal zu den Kaffee im Freien zu genießen, für uns es gab kein Halten mehr.

    Limoges war eine schöne, alte Stadt, die sich über mehrere Hügel ausdehnte. Wir ließen uns einfach treiben, durch die Gassen, die Geschäfte und über den Markt. Es fühlte sich merkwürdig an einen Tag ohne Ziel zu „vergeuden“, es war herrlich. Wir saßen im Straßencafé, beobachteten die Menschen und ließen uns die Frühjahrssonne ins Gesicht brennen.

    Eine Besichtigung der Kathedrale Saint-Étienne, die wir gestern auf dem Weg zu unserem Appartement mit Ignoranz bestraften, war selbstredend, ein gewaltiges Bauwerk.

    Den ganzen Tag verbrachten wir in der Stadt. Wir beendeten ihn mit einem leckeren Dinner in einem französischen Bistro.

    Beim Rückweg zum Appartement war es bereits Abend. Uns fiel auf, dass die Stadt nahezu komplett dunkel war, wir fragten uns warum. Allmählich viel uns auf, dass so gut wie vor jedem Fenster die Rollos heruntergelassen waren, kein Wohnungslicht fand mehr den Weg nach draußen, die Straßen waren dadurch nahezu schwarz, beinahe gespenstisch.

    Jedem seine Macke.
    Les mer

  • Dag 17

    Rote Rosen

    7. mai 2019, Frankrike ⋅ 14 °C

    T5, Tag 17, WT 13:
    Limoges-Châlus, 35,6 km, H690, A600, reine Gehzeit 9:45, Dienstag, 7.5.2019

    Frühstück bei Kaiserwetter, da schmelzen die heutigen gut fünfunddreißig Kilometer doch schon fast von allein dahin.
    Wir waren gut erholt (Man wird ja bescheiden) und unsere „Optimismus-Tanks“ schon fast wieder vollständig hergestellt.

    Wir starteten diese erneute Monsterdistanz zwar mit Respekt, dafür aber siegessicher in Richtung Südwesten.
    Unser Weg führte uns, mehr oder weniger, wieder einmal der „La Vienne“ entlang die wir nach gut sieben Kilometern ein letztes Mal über eine Brücke auf das Südufer, in der Hoffnung damit auch die Autos zurückzulassen, querten.

    Nach gut neun Kilometern verließen wir die „Rue de Lestrade“ rechts nach „Chez Picat“ wo uns gleich hinter dem Kaff wieder einmal eine meiner absoluten Lieblingsstraßen erwartete, klein, asphaltiert, keine Autos und schöne Natur, die sich im weiteren Verlauf in weites Ackerland wandelte.

    Mit dem zwölften Kilometer betraten wir eine Handvoll alter Häuser, namens „Nouailhas“, und obwohl die alten, vermutlich ehemals landwirtschaftlichen Gebäude alle recht dicht zueinanderstanden, gab es auch hier keine Menschen. Wo waren die nur alle?

    Gleich an einem der ersten alten Häuser fiel uns eine pompös- und über und über mit roten Blüten gekrönte Hausfassade auf. Es war eine rote, zart duftende Rose mit riesigen Blüten die wir bis dahin in einer solchen Größe, Farbe und Schönheit noch nie gesehen hatten. Dazu muss man wissen, dass Marions absolute Lieblingspflanzen Rosen und Kamelien sind, in unserem Garten Ihre Babys, so zu sagen. Wir waren Beide echt von den Socken über so viel verschwenderische Blütenpracht. So etwas entdeckt man vermutlich einmal mehr nur als Wanderer. Die Rose musste auf Grund ihrer Größe uralt gewesen sein.

    Ein alter Brunnen, direkt daneben, vor der wärmenden Hauswand, bot Gelegenheit für eine kurze Rast. Wir konnten diesen Ort nicht einfach so verlassen, die Sonne schien und der Rosenstrauch hatte uns fest in den Bann gezogen, aus Marion wurde meine Rosendame. Sie ließ es sich nicht nehmen dem Strauch eine Blüte zu entreißen, um damit Ihr Haar zu schmücken, danach krönten wir unsere kleine Pause mit einem Eiweiß-Riegel.

    Nur mit eiserner Disziplin konnten wir uns dem Zauber der Rose wieder entziehen und folgten nun einem Feldweg, der wegen des überhängenden Blattwerks der begleitenden Bäume eher einem Tunnel glich, romantisch.

    Nach zweiundzwanzig Kilometern passierten wir die wenigen Häuser des absolut unbedeutenden „Flavignac“, die liebliche Landschaft öffnete sich, wurde weit und war eingebettet in sanftes Hügelland, ohne Menschen, wo sind die alle hin? Der Himmel bot einmal mehr das dazu passende, grandiose Schauspiel.
    Es wäre mühsam die einzelnen Stationen der abwechslungsreichen, sich permanent verändernden Landschaft zu beschreiben, sie war schön, aber dennoch unbedeutend.

    Mit dem vierunddreißigsten Kilometer betraten wir, bereits ziemlich am Ende mit unseren Kräften, endlich „Châlus“ dessen Eintausendsechshundert Einwohner auch hier verschwunden waren und nach weiteren Eineinhalb Kilometern standen wir vor unserer heutigen Herberge, dem Chambres d'hôtes „Au fil du temps“. Ich denke wir waren die einzigen Gäste zu dieser Jahreszeit, im Sommer sieht das vermutlich anders aus.

    Auch waren wir wieder an dem Punkt, wo jeder weitere Meter Wegstrecke bedeutender Argumente bedurft hätte, wir wären echt fertig und hatten einen riesigen Hunger. Leider machte der Gastgeber keine Anstalten uns zu fragen, ob er etwas dagegen unternehmen darf, leider.

    Mit diesem Loch im Bauch konnten wir uns leider noch nicht unserer wohlverdienten Ruhe zuwenden, wir mussten das Loch unbedingt stopfen und machten uns auf, ein geöffnetes Restaurant in Dorf zu finden. Der Hunger war ein so bedeutendes Argument.

    Wir fanden das „Le Sax'o“, beherbergt in einem uralten Gemäuer mit gigantischem, offenem Kamin. Ein großartiges Restaurant, gut besetzt von satten und zufriedenen Gästen mit einem gehobenen Alkoholspiegel zu fortgeschrittener Zeit. Wir waren vermutlich die letzten Gäste, die noch etwas zum Essen bekamen.

    Obwohl wir uns zuvor im Hotel noch „restaurierten“ und auch unsere Wanderklamotten gegen die Abendgarderobe tauschten, sah man uns auch ohne Rucksack und gut gekleidet an, dass wir irgendwie anders waren. Schnell berichteten wir den neugierigen und kommunikativen Gästen, mit gehobenem Alkoholspielgel, darunter einige Engländer, von unserem Fußmarsch von Hamburg bis hierher. Wie immer vermochte es kaum einer zu glauben oder die Leute konnte sich das einfach nicht vorstellen.

    Wir hatten einen schönen und lustigen, redseligen Restabend, bereichert mit köstlichen Speisen. Dieses Restaurant ist eine echte Empfehlung.

    Zufrieden konnten wir uns nun der wohlverdienten Ruhe zuwenden.
    Les mer

  • Dag 18

    Durchgestanden

    8. mai 2019, Frankrike ⋅ 11 °C

    T5, Tag 18, WT 14:
    Châlus - Nontron, 34,7 km, H470, A440, reine Gehzeit 6:33, Mittwoch, 8.5.2019

    Das Kaiserwetter beim Frühstück von gestern mussten wir heute mit strömenden Regen büßen, was für ein Scheiß. Schlimmer konnte der Blick aus dem Fenster nicht sein und dann auch noch mit fast fünfunddreißig Kilometern vor der Brust.
    Unsere Unterkunft, das „Au fil du temps“ war ein gediegenes, aber etwas altbacken und morbide wirkendes Haus völlig ohne Geräusche, es war fast unerträglich still hier. Wie schon erwähnt waren wir die einzigen Gäste. Der Gastgeber war nett und gab sich alle Mühe mit uns.

    Punkt neun standen wir auf der Straße, in voller Regenmontur und Regenhut wetzten los. Noch einmal kamen wir am gestrigen Restaurant „Le Sax'o“ vorbei und entdeckten dabei auch noch eine alte Burgruine hoch über der Stadt thronend, es war die Burg „Châlus-Chabrol“.
    Sie wurde im elften Jahrhundert von den Vizegrafen von Limoges erbaut. Aber damit nicht genug, hier wurde Löwenherz, als er die Burg belagerte, am 25. März 1199 von einem Pfeil oder einem Armbrustbolzen schwer verwundet und verstarb daraufhin wenige Tage später. Trotz strömenden Regens überkam mich die Ehrfurcht, Richard Löwenherz hier? WoW! Ich hoffe nur er hatte besseres Wetter an seinem Schicksalstag.

    Die „Route des Feuillardiers“ führte uns die nächsten drei Kilometer hinaus aus der Stadt. Danach folgten wir, rechts, einer kleinen und kaum befahrenen Straße, wo wir nach weiteren fünf Kilometern das nächste Monument erspähten. Es war die „Burg Montbrun (Dournazac)“, eigentlich mehr ein eindrucksvolles Lustschloss, erbaut zwischen dem zwölften und fünfzehnten Jahrhundert.
    Die Burg steht seit 2009 zum Verkauf, falls einer von Euch Interesse hat …

    Abgesehen von dieser geschichtlichen Augenweide waren wir, trotz Regenklamotten mit höchstem Regenschutzsiegel, bereits klitsche Nass, inklusive der Klamotten darunter und es war kalt, sehr kalt.
    Wir hatten bereits die Nase gestrichen voll und wollten uns gerne in einer Kneipe, direkt an der Straße mit Aussicht zur Burg, wärmen. Leider war sie geschlossen, unerträglich so etwas.

    Ein paar hundert Meter weiter verließen wir auch diese Straße, um links einem Pfad dem Berg hinauf zu folgen. Eigentlich war der Pfad-, und im Übrigen auch die weiteren Pfade, mehr ein durchgehendes Schlammloch, das wir am Abzweig nur äußerst zögerlich betraten. Bereits nach den ersten Metern waren auch unsere „wasserdichten“ Schuhe völlig durchnässt und verschlammt. Jeder Schritt gab schmatzende Geräusche vor sich. Es half nur eines, frierend die Augen zu und durch. Wenigsten war der Pfad unter Bäumen, wo der Regen nicht ganz so hart auf uns einschlug.

    Nach gut zwanzig Kilometern kauerten wir uns eng unter einem Baum am Wegesrand zusammen und mampften nass, frierend, schweigend und frustriert, das einzige Highlight des Tages, unser Pausenbaguettes. Das Regengeplätscher war die Musik dazu. Wir hatten nur einen Gedanken im Kopf, „Was machen wir hier eigentlich“?

    Es half alles nichts, da mussten wir durch. Hier gab es niemanden den wir hätten rufen können, kein Taxi, keinen Bus, einfach nichts. Menschen gab es eh wieder keine zu sehen, wir waren die einzigen Deppen, die es bei dem Wetter vor die Haustür trieb.
    Den weiteren Tourenverlauf zu beschreiben wäre mühsam, die Landschaft war uns egal, wir waren nur mit uns und dem Durchhalten beschäftigt. Fotos zu machen war wegen der himmlischen Wasserfluten nahezu unmöglich.

    Nach gut dreißig Kilometern hatte der Regen kein Wasser mehr. Zum ersten Mal am heutigen Tag konnten wir uns wieder entspannt bewegen, es war befreiend. Wobei das mit dem entspannten Bewegen so eine Sache war, denn wir waren mit unseren Kräften bereits am Ende und hatten nur noch unser Tagesziel im Kopf, das „Le Puy Gites & Bed and Breakfast“.

    Es war kaum zu glauben, aber einhundert Meter vor unserem Ziel ließ sich auch noch die Sonne blicken, ganz so als ob alles den ganzen Tag Bestens gewesen wäre.

    Das „Le Puy Gites“ lag am Rande eines riesigen Tals und bot eine fantastische Aussicht darauf. Das vermutlich ehemals landwirtschaftliche Gemäuer war ansprechend restauriert und erinnerte eigentlich mehr an eine Ranch, Pferde und Koppeln gab es hier auch.

    Der Gastgeber, ein witziger Engländer so um die sechzig, erwartete uns bereits, wir waren auch hier die einzigen Gäste.
    Unser Zimmer war enorm schwulstig, vollgestopft mit hochwertigem Plüsch, die Geschmäcker sind halt verschieden.
    Unser Gastgeber aber wusste was sich gehört und zauberte uns noch einen reich gedeckten Tisch, über den wir uns nur so hermachten, ausgehungert wie wir waren.
    Es folgte noch eine nette Unterhaltung wo wir, fast wie immer, einem ungläubigen von unserem Projekt und unseren kleinen Abenteuern berichteten.
    Nach einer ausgedehnten, heißen Dusche gab es nur noch eines, mit vollem Bauch im weichen Bettchen versinken und diesen Tag ganz, ganz schnell wieder vergessen.
    Les mer

  • Dag 19

    Templer mit Seeigel

    9. mai 2019, Frankrike ⋅ 12 °C

    T5, Tag 19, WT 15:
    Nontron – Cercles, 31,8 km, H390, A490, reine Gehzeit 6:17, Donnerstag, 9.5.2019

    Der Morgen zeigte sich von seiner besten Seite, vergessen waren die Strapazen von gestern. Die klare Luft, der blaue Himmel, und das satte grün der Landschaft zogen uns förmlich hinaus zu unserer heutigen Wanderung von knapp zweiunddreißig Kilometern, nach „Cercles“. Unseren englischen Gastgeber ließen wir wieder allein in seiner Einsamkeit.
    Wir folgten der kaum befahrenen „Route du Marquis“ inmitten herrlichen Natur. Leider war es nach ein paar Kilometern schon wieder vorbei mit dem schönen blau am Himmel. Auch mit den intensiven Farben hatte es ein Ende als das triste Grau das strahlende Blau ersetzte. Alles Liebliche wandelte sich schlagartig in einen kalten, grauen Frühlingstag.
    Nach sieben Kilometern passierten wir die wenigen, versprengten Häuser von „Brissonneau“, ein Straßenkaff, das wir mit Ignoranz straften, es gab ja eh keinen Franzosen zu sehen.

    Zwei Kilometer weiter betraten wir „Saint-Front-sur-Nizonne“ und suchten nach seinen einhundertneunundfünfzig, unsichtbaren Einwohnern. Hier zog uns die romanische Dorfkirche „Eglise Saint Front“ aus dem 12. Jahrhundert in ihren Bann. Leider wollte aber die Kirche nichts von uns wissen, sie war geschlossen. Dennoch, der Bau- und besonders das Eingangsportal beeindruckten einmal mehr durch sein archaisches Äußeres.
    Wir folgten der „Route de la Chapelle“ und erspähten beim zwölften Tageskilometer eine alte Ruine am Straßenrand, keine Ahnung, um welche es sich dabei handelte. In jedem Fall spukte der Gaul wieder ordentlich in unserem Hirn herum und brachten unsere Fantasie wieder so richtig in Wallung, eine willkommene Abwechslung von der Wandermonotonie. Was hätten wir alles daraus machen können, wir träumten von einer einzigartigen Event-Location.
    Die Landschaft war makellos, hier gab es nichts, was sie in irgendeiner Form beeinträchtigen könnte, reine Natur, keine Windmühlen, keine Strommasten, wenige alte Käffer, keine Menschen, fast wie immer, wir waren ganz allein.

    Nach weiteren drei Kilometern erspähten wir nahe „Les Brageaux“ so etwas wie ein einsames beeindruckendes Gutshaus oder Schloss, in jedem Fall war es alt und vermutlich bewohnt, worauf einige geöffneten Fenster hinwiesen. Der Park davor erschien uns wie geschaffen für eine Rast. Weil die Wiese zu nass war, kauerten wir uns an einen trockenen Baum, zelebrierten einmal mehr unser Baguette und lauschten der Stille, die trotz der feuchten und noch kühlen Jahreszeit von dem Zirpen der ersten Grillen gekrönt wurde.
    Wir folgten immer weiter der „Rue du Passadour“. Die Weite der jungen-, leicht hügeligen-, und strotzend grünen Getreidefelder rechts der unbefahrenen Straße war beeindruckend. Nur der Horizont zeigte den im Wind tanzenden Feldern ihre Grenzen.
    Nach gut Siebenundzwanzig Kilometern verließen wir die einsame Straße, um auf einem Feldweg der Natur noch näher zu sein.
    Plötzlich riss mich Marions plötzlicher Aufschrei aus meiner tiefen Wanderlethargie. Sie blickte auf den Feldweg und deutete auf einen runden Stein, es war ein versteinerter Seeigel, vermutlich Kreide Zeit, siebzig Millionen Jahre alt, hier, völlig unerwartet. Fossilien waren das Letzte, was ich auf diesem Feldweg erwartet hätte. Dazu muss man wissen, dass ich manchmal wie besessen nach Fossilien suche, beispielsweise auf Helgoland, dann erliege ich dem „Jagdinstinkt“.
    Wegen ihres enormen Alters ziehen sie mich förmlich in ihren Bann. Immer schon gab es auch in der Familie einen Wettstreit wer die besten davon findet. Umso herber war diese „Niederlage“ für mich. Ich gönnte Marion dennoch den Triumpf, bin ich doch sonst oft der „Gewinner“.

    Nach gut dreißig Kilometern erlöste uns endlich der Wegweiser nach „Cercles“ von unserer Ungeduld. Die kleine, links abzweigende Straße „C1“, führte den Berg hinauf und hatte sich fest vorgenommen es uns noch einmal so richtig zu zeigen. Nach der bereits hinter uns liegenden Strecke hatte sie es jedoch nicht besonders schwer.

    Am Horizont kam „Cercles“ langsam näher.
    Als wir den kleinen Ort mit vielleicht zwanzig bis dreißig Häusern betraten war klar, dass dieser-, mit seinen einundsechzig Einwohnern, eingebettet in grandiose Natur, ein ganz Besonderer war. Es sah so aus, als wäre nur ein kleiner Teil der Häuser bewohnt, einige der historischen Gebäude wirkten verfallen.
    Viele Orte in Frankreich sind alt, aber der hier war historisch, uralt. Die Häuser waren keine „normalen“ alten Gebäude, nein, fast alle Häuser waren kleine Monumente, gebaut aus großen Quadern. Und so erinnerte das Dorf-Ensemble auch eher an eine alte Burg. Umso mystischer, weil auch hier keine Menschen zu sehen waren, vermutlich irgendwo versteckt hinter den meterdicken Mauern.
    Auf die Idee, dass überhaupt hier jemand wohnt, kamen wir eigentlich nur, weil vor den Häusern vereinzelt Autos standen. Es hätte aber auch genauso gut ein Museumsdorf sein können.
    Im Zentrum des kleinen Ortes war die beeindruckende Kirche „Cercles - Église Saint-Cybard“, beschützt von einer Ringmauer. Beeindruckend, weil auch Sie anders war, besonders alt, erbaut 1169, zur selben Zeit als auch der Ort entstand.
    Über die Geschichte des Ortes gibt es nur wenig Überliefertes, vermutlich aber wurde er von den Templern errichtet, so sah er auch aus.
    Wir suchten unsere Unterkunft, das Chambres d'hôtes „L'Echappée Belle“ von Marie Descreaux. Nicht einfach zu finden, da sich die Häuser von außen mit ihren gewaltigen Mauern und kleinen Türen, ohne Namen und Hausnummern alle sehr ähnlich waren, und zum Fragen gab es keinen.
    Irgendwann klopften wir dann an der richtigen Tür, und Marie, vielleicht um die Mitte vierzig, öffnete uns mit ihrem netten französischen Lächeln, sie erwartete uns bereits.
    Sie wohnte alleine hier, Ihre Kinder studieren irgendwo in Frankreich. Das altehrwürdige Gemäuer, von ihr selbst mit eigenen Händen restauriert, war innen ein schwieriger Kompromiss zwischen einem archaisch-historischem Gebäude und ein bisschen Wohnkomfort.
    Beides in einer passenden Form in Einklang zu bringen war eine schwierige Herausforderung. So saß man beispielsweise am Küchentisch in einer Küche mit einer modernen Kochzeile aber direkt vor einem gigantischen, offenen, Steinkamin aus dem Mittelalter, inmitten von meterdicken Quader-Mauern.
    Unser Zimmer war im zweiten Obergeschoß unter dem Dach und von gleicher Monumentalität. In die Wand vor den beiden Fenstern waren Steinstufen als Sitze eingebaut, ganz so wie es früher die Wachposten bei den Burgen zur Beobachtung der Umgebung hatten. In meiner Fantasie sah ich hier noch die Templer sitzen.
    Die Zimmer-Einrichtung war frech und farbenfroh Französisch, eine wilde und witzige Mischung.
    Marie sorgte für uns und zauberte uns ausgehungerten Wanderern noch ein köstliches Abendbuffet. Wir hatten viel Spaß mit ihr und dank „Google Translate“ eine angeregt-witzige Unterhaltung auf Deutsch-Französisch, es gab viel zu lachen.
    Später im Bett ließ uns die weitgehend unbekannte Geschichte des Gemäuers nicht los, der Raum war erfüllt von seiner tausendjährigen Geschichte. Auch die absolute Stille leistete ihren anregenden Beitrag dazu, sorgte sie doch im Einklang mit dem Gemäuer für einen gewissen „Spukfaktor“.
    Les mer