Mein Leben in Ghana

September 2022 - September 2023
A 362-day adventure by Jascha Read more
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    Vorbereitung und Flug nach Ghana

    September 10, 2022 in Germany ⋅ 🌧 16 °C

    10.9.22, 13:00

    Der Anfang ist das Schwerste.

    Das sage ich nicht nur, weil ich seit 10 Minuten auf den blinkenden Strich starre, um einen genialen Blogeinstieg zu finden, sondern auch, weil ich noch nie eine ungewissere Zukunft hatte, wie sie mir nun bevorsteht.

    Als ich gestern angefangen habe zu packen (jaja, ihr hattet recht, war natürlich zu spät) hat mein Bauch das erste mal gekribbelt. Aber nicht vor Nervosität. Mein ständiges Prokrastinieren hatte nicht nur damit zu tun, dass ich ein fauler Sack bin, sondern ebenso damit, dass ich noch keinen Weg gefunden habe, reflektiert, mit meiner Zukunft in Ghana, umzugehen. Deshalb ist der Anfang das Schwerste.

    Dennoch bin ich davon überzeugt, dass diese Schwierigkeit, einen neuen Lebensabschnitt einzuleiten, notwendig ist, um nachhaltige Charakterzüge zu entwickeln. (Quelle: Julians Terassenmonolog 2021, Ramatuelle)

    Dabei hat es ja noch nichtmal wirklich angefangen, denn ich befinde mich gerade über Andorra und das einzig ghanaische, das ich bisher sehen durfte, ist das T-Shirt meines schweigenden Nebensitzers.

    Es stinkt nach Fisch. Trotz Verpackung. Und immer noch erwartet mein Mittagessen, gegessen zu werden. Naja, an den Fischgeschmack muss ich mich wahrscheinlich eh gewöhnen, wenn ich in weniger als 10 Stunden an der Küste Accras wohnen werde. Warte was? Schon wieder erwische ich mich dabei, die Wahrheit über meine Zukunft auszusprechen. Realisieren tu ich’s trotzdem nicht. (Die Art von tun-Wort ist okay)

    Die Gang, mit der ich geh (Aminu Initiative e.V.), ist überaus sympathisch und ich freue mich auf das kommende Jahr mit ihnen. Der attraktive Mann neben mir, ist übrigens Fiete. Wir haben uns vor 2 Monaten auf dem Vorbereitungsseminar getroffen und sofort gut verstanden.

    Die Verabschiedung meiner geliebten Freunde und Familie war hart, aber wie gesagt, surreal. Meine Prediction: Mit zunehmender Eingewöhnung und Realisation, wächst auch das Heimweh und vor allem die Sehnsucht nach Euch. Ich versuche mich jetzt erstmal auf die bevorstehende Landung zu fokussieren und die ersten Tage gut zu überstehen. Ich halt euch auf dem Laufenden.

    Euer Jascha
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  • Day 8

    Erste Woche

    September 17, 2022 in Ghana ⋅ ⛅ 27 °C

    10.-17.9.22

    An dem Abend, bevor mein Wecker klingelte und wir uns auf den Weg zur Stadt “Flughafen Frankfurt” machten, meinte Julian noch, ich solle nicht jeden Tag oder Woche einen Blogeintrag machen, sonst werde es langweilig. (Siehe: https://findpenguins.com/88mwe5ec18g4e/footprin…)

    Naja, natürlich liegt es auch daran, dass ich gerade erst angekommen bin, aber es fühlt sich so an, als ob schon 2 Monate vergangen sind. Deshalb möchte ich nun von meinen ersten Tagen berichten.

    Es gäbe so viel zu berichten und ich würde euch auch am liebsten von all dem erzählen, das ich in meiner ersten Woche erlebt habe, aber ich hab’s vergessen. Ehrlich. In den letzten Tagen wurde ich von so vielen Eindrücken überfallen, dass mein Gedächtnis nicht mehr mitkommt. Ein paar prägende Momente versuche ich trotzdem zu sortieren.

    Also fangen wir ganz am Anfang an: Nach einer kurzen Wartezeit vor dem Flughafeneingang, wurden wir von mehreren, gutgelaunten Cin Gaban Nima Mitarbeitern (meine Partnerorganisation in Ghana) abgeholt. Für 6 von uns ging es in dem, mit 5 Plätzen ausgestatteten, Toyota nach Tuba. Fiete und ich durften in einem Sprinter in Richtung Nima fahren. Er auf dem Beifahrersitz, ich auf einem Hocker. Nima ist ein vorwiegend muslimisches Viertel, in der Nähe der Innenstadt, während Tuba ein abgelegenerer Ort ist. Schaut einfach auf google maps.

    Die grad genannten Sitzmöglichkeiten scheinen für uns erstmal provisorisch, gefährlich und illegal. Gefährlich und illegal sind sie auch, aber was ich sagen möchte, ist, dass in Ghana Wege gegangen werden, die für uns ineffizient und unausreichend wirken. Häufig sind es aber sehr viel klügere und einfachere Lösungen, denn das Ziel erreicht man hier immer. Selbst im lebensmüdem Verkehr.

    Es war schon spät Abends, als wir endlich unser neues Zuhause kennen lernen durften. Ich lebe auf einer Baustelle. Naja, das stimmt nicht ganz, denn mein Zimmer ist frisch renoviert und das Bad ist moderner als das in Deutschland. Einziges Problem: Das Wasser läuft nicht. Zumindest nicht immer. Die Gebäude um uns herum warten noch, oder freuen sich bereits, saniert zu werden. In meinem Compound ändert sich sehr viel, sehr schnell. Symbolisch für Ghana.

    Unsere Verantwortlichen haben uns direkt aufgenommen. Hier wird nicht von Mitarbeitern, Bossen oder Freiwilligen geredet, sondern von Familie. Allgemein ist der Umgang mit Menschen in Ghana viel familiärer.
    Ayuba, der Fahrer des Sprinters, redet beispielsweise ständig von seinen Geschwistern. An sich nichts Neues, aber spätestens, als ich mich seiner dritten Mutter vorstellte, wurde ich skeptisch. Ich fragte nach und lernte: Gute Freunde von sich und der (leiblichen) Familie, werden hier Mama, Tante, Bruder, etc. genannt. Habe auch schon ne neue Tante bekommen.

    Da wir noch nicht in unsere spezifischen Einsatzstellen können, versuchen wir uns irgendwie auf der Baustelle nützlich zu machen. Weshalb wir noch nicht auf die einzelnen Stellen können? Zwischen Abflug in Frankfurt und Landung in Accra hat sich unser geistiges Alter halbiert. Deshalb. Wir sind wie kleine Kinder, die immer und überall am Händchen gehalten werden müssen. Vor allem in der Zeit, bevor wir unsere SIM-Karte bekommen haben. (Neue Nummer: +233 594780874) Fortschritte sind aber zu verzeichnen. Heute haben wir, zum Beispiel, unser erstes selbstständiges Frühstück gekauft und unsere Kleidung gewaschen.

    Zu guter letzt, das Wetter. Mit Tiefstwerten von 20 °C, ist es wärmer, als bei Euch. Die meiste Zeit ist die Sonne sehr gut auszuhalten, da es häufig bewölkt ist. Trotzdem habe ich immer leichten Sonnenbrand…
    Geregnet hat es auch schon. Zwar erst einmal, was eigentlich zu wenig ist, wenn man bedenkt, dass wir uns noch in der Regenzeit befinden, aber ich kann mich nicht beschweren. An den Decken hier befinden sich auch fast überall große Ventilatoren, die für Wohlfühltemperatur sorgen.

    Ich habe zwar nur selten Wlan, aber versucht mich trotzdem gerne anzurufen, ich denk an euch.

    Ich wünsche einen frohen Herbstanfang und viele Lachfalten.

    Euer Jascha
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  • Day 11

    Kurze Geschichte

    September 20, 2022 in Ghana ⋅ ☀️ 27 °C

    Erzählung über meinen ersten Arbeitstag

    Schlechter werdenden Gewissens, schaue ich immer wieder nach unten auf den Startbildschirm meines Handys. Dann wieder nach oben. Keinen Zentimeter weiter.
    Mein Magen spielt bereits Basketball, ich fühle, wie sich eine Schweißperle an der rechten Augenbraue vorbeischleicht und auf meinen, hektisch auf und ab wippenden, Oberschenkel tropft. Ich werde die Wasserverkäuferin an meinem Fenster nicht los, da startet unser Taxifahrer einen Versuch der Deeskalation, indem er den, am Seitenspiegel vorbeirasenden, Rollerfahrer freundlich auf die Verkehrsregeln, hinweist, während sich Cleo von der Rückbank meldet. “Ich halte es nicht mehr aus, lass uns aussteigen!”

    Ich bin zu spät. Und das an meinem ersten Arbeitstag.

    Es war bereits die dritte Nachricht, die ich meinem neuen Chef, Eric, gesendet habe, um ihn über mein Zuspätkommen zu informieren. Graue Haken. Noch immer auf dem Beifahrersitz s(chw)itzend, hörte ich mich schließlich Cleo zustimmen. Ohne davon Notiz zu nehmen, bezahlte ich den Taxifahrer und stieg aus.

    Der stressigen Situation entkommen, atmete ich durch und sammelte mich. Der Gehweg wurde nun zur linken Spur, als Cleo und ich mit moderater Schrittgeschwindigkeit an den, im Stau stehenden, Autos vorbeizogen. Nach einem halbstündigen Spaziergang entlang des glühenden Highways kam ich um Zehn nach Zehn endlich an. Neun Uhr war ausgemacht.

    Unsicher klopfte ich an der Bürotür. Entschuldigung schon formuliert, hoffte ich aufs Beste, die folgenden Minuten wurden aber noch viel besser…

    Von Eric war breit und weit keine Spur und außer einer Person wusste niemand im gesamten Office, dass ich kommen würde, geschweige denn, was meine Aufgabe war.
    So stellte ich mich den Festangestellten vor und wartete gespannt. Eine Stunde später, also insgesamt 2 Stunden nach dem vereinbarten Termin, traf Eric ein.

    Mit seinen knapp 2 Metern, schüchtert er auf den ersten Blick natürlich ein, aber schnell wurde mir klar, dass er ein lustiger und liebevoller Brocken ist. Wir haben uns sofort gut verstanden. Er zeigte mir das Wichtigste, stellte mich dem Rest der Bande vor und zerstörte mich abschließend noch auf dem Basketballplatz. Ein gelungener, erster Arbeitstag.

    In Deutschland ist Unpünktlichkeit am ersten Arbeitstag zwar kein Weltuntergang, würde aber beim neuen, auf die Uhr schielenden, Arbeitgeber bestimmt für Zweifel sorgen. Der andere Bewerber wäre vielleicht doch gescheiter gewesen.

    In Ghana ist das kein Grund zur Aufregung, hier ist man nämlich zu spät und
    im Nachhinein, immer mehr an das entspannte, ghanaische Zeitgefühl gewöhnt, mache ich mich darüber lustig, aus dem Taxi gestiegen und den restlichen Weg in der Hitze gelaufen zu sein.

    Cleo ist übrigens eine Mitfreiwillige und Freundin von mir. Sie arbeitet direkt neben meiner Einsatzstelle in einem Theater. Wir fahren jeden morgen zusammen nach Jamestown. Unser neuer Arbeitsort, direkt an Accras Küste.

    Bald mehr.

    Euer Jascha
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  • Day 61

    Erste Zeit

    November 9, 2022 in Ghana ⋅ ⛅ 28 °C

    Ich heiße Jascha Hoffmann und Euch herzlich Willkommen zu meinem nächsten Blogeintrag!

    Um mal nicht alles in Wochen, Monate oder Jahre einzugrenzen, freue ich mich, euch mitteilen zu können, dass die erste Zeit meines FSJs (da ham mers wieder) vergangen ist und sie mich problemvoll gemeistert hat.

    Es ist mein bisher längster Aufenthalt weg von “Zuhause”. Weg von Euch. Mein Zeitgefühl verhält sich ambivalent, denn einerseits kämpfe ich immer noch gegen die Unmenge an mich überfallenden Eindrücken an, was mich in die erste Woche zurückversetzt. Auf der anderen Seite, im Hinblick auf Deutschland, fühlt es sich so an, als wenn ich mein letztes Schnitzel vor zwei Jahren gegessen hätte. Deshalb kommt es immer darauf an, wann ihr mich fragt. Abends, den ereignisreichen Tag verarbeitend, fühle ich mich wie frisch gelandet und beim Blick aufs Handy nach dem Aufstehen erschreckt mich das marschierende Datum.

    Krank sein in Ghana ist kein Witz. Letztens habe ich einen Magen-Darm Virus umher getragen und verzweifelte zwischenzeitlich daran, dass die Lebensmittel die ich zu mir nahm, egal ob flüssig oder fest, höchstens eine Stunde ihrer Zeit opferten, bis sie von meinem Körper gelangweilt waren und zu ihrem ursprünglichen Eingang zurückschossen.

    Zwei Tage lang, lag ich im Krankenhaus und habe mich in Form eines über mir hängenden Plastikbeutels ernährt. Es war beängstigend, 48 Stunden lang eine Infusion nach der Anderen gespritzt zu bekommen und den Mund nur zum Sprechen zu öffnen.

    Mein Körper brauchte eine Woche bis er sich erholt hat. Trotzdem ging es mir nicht sofort wieder gut, denn ich habe auch gemerkt, wie meine Psyche unter der Krankheit gelitten hat. Auch wenn sich bestens, wirklich bestens, um mich gekümmert wurde, ich immer eine liebevolle Person in meiner Nähe hatte und die Krankenschwestern, trotz zwölfstündiger Nachtschicht, lächelnd die Beutel auswechselten, habe ich mich das erste Mal unwohl gefühlt. Unwohl, weil ich lieber mit mir bekannten Gerichten, Magen-Roulette spielen wollte. Unwohl, weil ich das erste mal “Heimweh” bekommen habe.

    Warum ich “Zuhause” und “Heimweh” in Anführungszeichen einsperre? Obwohl ich mein einmetervierzig breites Bett, Zwieback, meine, mir Zitronentee hochbringende Mama und vieles mehr vermisste, entspricht “Heimweh” nicht der Wahrheit. Denn mein Heim befindet sich jetzt viertausend Kilometer südlich von den mir fehlenden Dingen. Mein Zuhause ist Ghana. Und das gilt es zu realisieren.

    Es ist herausfordernd und anstrengend, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es richtig ist und auch wenn ich ab und an überfordert bin und das Gefühl habe, keine Fortschritte, sondern eher Schritte zurück zu machen, sind diese Kleinigkeiten in meiner Sprache, Beweis dafür, dass ich eben doch fortschreite und mich einlebe.

    Ein weiteres, alltäglicheres Beispiel ist das Essenholen. Anfangs war es schwierig, Essenstände erstmal zu identifizieren und dann noch von anderen zu unterscheiden, denn die meist weiblichen Verkäuferinnen, schildern ihren Stand und ihre Speisekarte nicht aus, sondern kochen die Gerichte am Straßenrand und verkaufen dann mündlich. Jetzt, auch wo ich meine Gegend immer besser kenne, fallen mir kleine Details auf, die mich eine Bäckerei von einem Fufuladen (babamäßiges Gericht) unterscheiden lassen. Vor paar Wochen hatte ich, oder wir als Freiwillige allgemein, zusätzlich das Problem, dass wir nicht wussten wie viel wir bestellen sollen. Beispiel: Man bestellt nicht ein halbes oder ganzes Laib Brot, sondern den halben oder den gesamten Preis. Aus “Ein Laib Vollkornbrot, geschnitten bitte”, wird “Please, can I have Wheatbread, 14 Cedis (ungefähr ein Euro)” Sobald man also weiß, wie viel das ganze Laib Brot kostet, kann man rumspielen und nur ein Teil des Brots bestellen. Wenn man aber den Gesamtpreis nicht kennt, eben weil es keine Preisschilder gibt, entstehen viele, auch noch durch Sprachbarrieren verschärfte, Missverständnisse.

    Mir ist aufgefallen, dass solche Kommunikationsschwierigkeiten ein versteckter Segen sind. Man ist nämlich nicht nur dazu gezwungen, täglich seine Comfortzone zu verlassen, um stammelnd auf das gewünschte Brot zu zeigen, was wiederum Selbstvertrauen aufbaut, sondern man befindet sich auch automatisch immer in einem kulturellen Austausch, denn man kann nicht an einem Display bestellen, mit Karte zahlen und schließlich sein Essen wortlos an der Theke abholen.

    Lasst euch davon aber nicht voreinnehmen, denn in anderen Ecken Accras bekomme ich auf einmal das komisch-gewohnte Gefühl, im Industriegebiet Nellingens zu sitzen und ein McSundae Karamell auszulöffeln. Dann ruft mir die Realität wieder ins Gedächtnis, dass es global player, wie McDonalds wirklich auf dem ganzen Globus gibt.

    Was ich damit sagen möchte, ist, dass man hier an alles (und viel mehr) kommt und man theoretisch in den selben, zwar mit etwas abgeänderter Speisekarte, Fast Food Restaurants essen kann. Wenn ich daran denke, dass in meinem Koffer mehr als ein Liter deutsche Zahnpasta darauf wartet, endlich ausgepackt zu werden oder wenn ich mich an meine ewiglange Packliste erinnre, kann mein Zwei-Monate-in-Ghana-altes-Ich, gar nicht anders, als mein 24-Stunden-vor-Abflug-Ich, auszulachen.
    Falls jemand von euch vorhat nach Ghana zu reisen, entspann Dich.

    Zu guter Letzt, möchte ich euch noch einen Einblick in meinen Arbeitsalltag schenken.

    Wie der Name meiner Einsatzstelle, “DUNK”, verspricht, dreht sich vieles um Basketball. Aber nicht alles. Anfangs habe ich etwas am Projekt gezweifelt, vor allem weil mir aufgefallen ist, dass sobald man Leuten, außerhalb der nahen Umgebung, erklärt, dass man keinen Urlaub macht, sondern tatsächlich für eine Basketball-Bildungs-Organisation arbeitet, eher Fragezeichen, anstatt Glühbirnen über den Köpfen erscheinen. Nun bin ich fest davon überzeugt, dass DUNK nicht annähernd die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient. Mir fällt es an den Kindern und den hartarbeitenden Mitarbeitern auf. Unsere “Beneficaries” kleiden sich im Vergleich zu den anderen einheimischen Kindern gepflegter und weisen sie auf Fehlverhalten (zum Beispiel Müll rumliegen lassen) hin.

    Neben solchen Softskills erfahren sie natürlich auch übliche Bildung. In der Bücherei in Jamestown, die jeden Tag der 5-tägigen Woche geöffnet und beaufsichtigt ist, lernen die jungen Kinder das Lesen und die Älteren machen ihre Hausaufgaben.

    Dort durfte ich in der ersten Zeit kleineren Kindern die Wörter vorkauen und aufmerksam zuhörend, überprüfen, ob sie dem Wort einen Sinn zuweisen konnten und es entweder mit deutschem oder ghanaischem Akzent ausspucken. Falls nicht, habe ich das eigenartige Wort in noch kleinere Stücke gekaut und auf das dazugehörende Bild gezeigt. So konnten auch die komischsten Wörter geschluckt werden.

    Dies war ja ein Punkt in meiner damals ausgehändigten Job Description. Andere Punkte waren, Basketball zu coachen (assistieren), sowie, morgens im Büro, administrative Arbeit zu verrichten. Die Beschreibung war akkurat. Dennoch habe ich vor 3 Monaten gedacht, ich würde mich mehr auf dem Basketballplatz und in der Bücherei aufhalten.

    Vor ein paar Tagen hatte ich ein inspirierendes Gespräch mit meinem Chef, Mo, der mich realisieren lassen hat, dass jeder x-beliebige Jugendliche mit einem funktionierendem Schädel, etwas Verantwortung und ein wenig Basketballwissen, die damalige Vorstellung meiner Arbeit, erledigen könnte. Nun versuche ich das Basketball coachen und die Bücherei Aktivitäten, nicht als meine primären Aufgaben zu sehen, sondern als cooles Extra. Mir werden die Ressourcen bereitgestellt, selber Initative zu zeigen und diese in einem eigenem, kleinen, natürlich beaufsichtigtem, Projekt zu verwirklichen. Diese Realisation ist meine bisher größte Lernerfahrung und auch wenn ich mich noch nicht auf eine spezifische Projektidee festgelegt habe, spüre ich, wie ich die Herausforderung annehmen möchte.

    Mo und Ich glauben, dass ein großes Problem des weltwärts Freiwilligendienst, der fehlende Leistungsdruck ist.

    Ich kann nur von DUNK sprechen, aber durch die gerade beschriebene Flexibilität in meiner Arbeitsgestaltung fällt viel Verantwortung auf mich und meinen Willen, Initiative zu zeigen, zurück. Deshalb glaube ich, dass die nächsten Wochen sehr wichtig werden, da ich mein erstes Projekt in die Welt setzen möchte und der größte Teil meiner Arbeitszeit davon abhängig sein wird. Auf der anderen Seite, weiß ich, dass ich als Schüler zum Beispiel produktiver und noch ergebnisorientierter arbeiten würde, da ich extrinsischen Druck, durch die Notenverleihung spüren würde. Trotzdem habe ich das Verlangen, etwas beizutragen und, auch wenn es nur für ein klitzeskleines Projekt ist, unersetzlich und wertvoll, zu sein. Nebenher finden ja auch noch die Basketballaktivitäten statt.
    Diese Balance gibt mir die Möglichkeit, eine, in meinem Kopf herumschwirrende, Idee in etwas tatkräftiges zu verwandeln und, ohne dass ich von der auf mich zurollenden Verantwortung erschlagen werde, etwas hochziehen kann, von dem, die jugendorientierte und so leidenschaftliche Organisation, hoffentlich, profitieren kann. Bisher fühlt es sich nämlich noch so an, als ob ich DUNK, dafür dass sie mich liebevoll aufnehmen und bilden, nichts greifbares zurückgeben kann.

    Für mich ist DUNK eine Definition von Gemeinnützigkeit, da ich mit eigenen Augen sehe, wie die erarbeitenden Spendengelder so investiert werden, dass die Kinder und Jugendlichen, und sonst keiner, davon profitieren. Sei es mittels Trainingsequipment, Workshops, Turnieren, Kunststudio (https://www.instagram.com/slumartstudios/), Bücher, Stipendien oder Sonstigem. DUNK ist professionell und gut.

    Bisher habe ich mich morgens verschiedenen Aufgaben angenommen, wie zum Beispiel dem Basketball Inventar, Spielerprofile erstellen, Turniere zu planen oder die Bücherei intakt zu halten. Alles schön und gut, und sicherlich auch wertvoll, aber so langsam möchte ich anfangen, einen Fußabdruck zu treten.

    Euer Jascha

    https://www.dunkgrassroots.org
    https://www.instagram.com/dunkgrassroots_gh/
    https://web.facebook.com/DUNKgrassroots/?_rdc=1…
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  • Day 61

    BILDER

    November 9, 2022 in Ghana ⋅ ⛅ 28 °C
  • Day 151

    Selbstverantwortung

    February 7, 2023 in Ghana ⋅ ☀️ 31 °C

    “Ein halbes Jahr braucht der Lehrer jetzt schon, bis er fertig ist mit Korrigieren.”

    Ich grüße Euch warm und ruhig. Die Schule hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf mich und ich fange jetzt erst an, angeeignete Denkmuster und Gewohnheiten zu entdecken. Wir haben eine Art zu lernen, gelernt. Aber eben nur eine. Das Fehlen eines Bestätigungssystem stresst mich.

    Recht Früh, ungefähr nach dem ersten Monat meines nicht mehr neuen Arbeitsalltags, habe ich das erste Rückbleibsel des Schulalltags entdeckt. Ein positives. Während vor fünf Jahren um 14 Uhr an einem durchschnittlichen Wochentag schon seit zwei Stunden verpixelte Schwerter und Baublöcke in meinem Kopf rumschwirrten, ist mein Arbeitstag heute gerade mal zur Hälfte vorbei.

    Es war ein nicht wertgeschätzter Luxus, die zweite Hälfte des Tags frei gestalten zu können. An einem Wochenende habe ich diese Erkenntnis gemacht, denn vor allem Sonntags und Montags klammere ich mich an die 48 frei gestaltbaren Stunden und schaue dem unaufhaltbaren Zeiger nach. (meine untere Woche endet Samstags)

    Ich bin mir sicher, dass auch dieser Stundenplan zur Gewohnheit wird und man leichter Wege findet, die Sekunden vor und nach dem Arbeitsblock energievoll zu nutzen, aber es kann langfristig doch nicht gesund sein, täglich acht Stunden im gleichen Setting, zu arbeiten. Mal davon abgesehen, dass es erschöpfend ist, den Großteil des Sonnenlichts in einem schattig, sitzenden Umfeld zu verbringen und es mir nicht möglich erscheint, sich, ohne Situationswechsel, für diesen langen Zeitraum zu konzentrieren, stresst mich das Konzept der Arbeitszeit mehr, als die zu verrichtende Arbeit selbst.
    Von 10 Uhr morgens bis 18 Uhr Abends fühlt es sich falsch an, arbeitsunabhängige Sachen zu tun. Ein Blick auf die, vom Doppelpunkt getrennten, Zahlen auf dem Handy reicht also aus, um in uns ein Gefühl von Unproduktivität auszulösen. Ausgeschlossen der Mittagspause natürlich. Eine Stunde in der man schnellstmöglich alle, am morgen ausgedachten, Gedanken wegschiebt.

    Mit meiner jetzigen Arbeitssituation bin ich trotzdem sehr zufrieden. Basketballtrainings am Nachmittag gleichen den interessanten, aber energieziehenden Vormittag aus, so dass ich mich im Konstrukt der Arbeitszeiten gut zurecht finde. Bei DUNK arbeite ich in einer mich inspirierenden Umgebung und ich bin einer Platform ausgesetzt, die es mir ermöglicht, kreative Gedanken zu teilen und verwirklichen. Ob ich’s dann auch wirklich mache und wie diese Projekte aussehen, ist meine Verantwortung.

    Selbstverantwortung ist ein Stichwort und Gefühl, das mich seit den letzten 4 Monaten begleitet. Auch das Verantworten hat einen Bezug zu meiner Schulzeit.

    Zehn Jahre lang hat uns unsere Jugend durch ein Labyrinth ohne Abbiegungen geschoben. Zeit als Antriebskraft. Abi als Ziel. Aber was als Perspektive?

    Minimale Gestaltungsmöglichkeiten machten das Schulleben bis hin zur Oberstufe zu einem starren, einfachen Weg, den man nicht hinterfragt hat. Wieso sollte man sich mit seinem “Leben nach der Schule” beschäftigen, wenn man Montags und Freitags drei Stunden Bio hat, oder Dienstags, Mittwochs und Donnerstags drei mal die Woche Sportunterricht?
    Die Fächer und Themen waren gesetzt, es gab also keinen Raum, in dem man sich selbst und seinen Interessen ausgesetzt war. Keine Motivation, über die vom Lehrplan diktierten Inhalte, hinaus zu denken.
    Ab der Oberstufe wurde es besser, weil es mehr Möglichkeiten gab, vor allem seine Leistungskurse, zu wählen. Aber nach dem man die 2 wöchige Frist zum Kurswechseln am Anfang der K1 verpennt hat, war die Wahl auch wieder einmalig und die, in Kursen getarnten, Fächer, gesetzt. Kein Raum für Veränderung. Kein Raum für Selbstbeschäftigung. Nur der Inhalt des jeweiligen Fachs selbst.

    In den Fächern selbst gab es ähnlich wenig Freiraum, was unter anderem dazu führte, dass die Frage, was ich denn später machen wolle, meist auf ein “Hasch ja au no Zeit” rauslief. Dadurch, dass es klar war, was wir wie, wo, wann und mit welchem Lehrer lernen, habe ich mich der Verantwortung entzogen, mich mit meinen eigentlichen Interessen und zukünftigen Lebensvorstellungen zu beschäftigen.

    Dieser Blogeintrag ist ein Ausschnitt meiner Gedanken, ich kritisiere nur indirekt das Schulsystem, indem ich einige überraschende Rückstände aufschreibe. Verbesserungsvorschläge habe ich nicht. Noch nicht.

    Lasst mich zum Einleitungssatz zurück kommen. Ein halbes Jahr ist es her, seitdem die Herzen im Klassenzimmer schneller schlugen, seitdem die rot umkreisten “Notenpunkte” darauf warteten, von fixierten Augen entdeckt zu werden. Das Seufzen, die Beleidigungen oder die “JA MANN!”s wurden nur gedämpft wahrgenommen, während die Gesamtpunktzahl mit der Zahl im Taschenrechner verglichen wurde.

    Eine Beobachtung: Auf dem Weg durch die Klassenzimmertür zum Schulhof, um sich bei den Anderen um die ungerechte mündliche Note zu beschweren, konnte man die selben, umkringelten, meist einstelligen Notenpunkte im Mülleimer finden.
    Die Klausuren und vor allem die wertvollen Antworten, wurden teilweise direkt weggeschmissen. Und somit das gelernte Wissen.

    Trotzdem fühlt es sich im Gegensatz zur Schulzeit jetzt so an, als ob ich nichts lerne. Dabei weiß ich, dass ich sogar mehr lerne. Wieso?

    Weil es kein Bestätigungssystem mehr gibt. Ein Teil von mir wartet wie gewohnt auf Benotungen, aber nun gibt es keine externe Instanz mehr. Kein Lehrer der mich korrigiert und bestätigt.
    Wenn ich damals sporttheoretische Prinzipien auswendig gelernt habe, hatte ich ein paar Wochen später einen Beweis, dass ich mir das Wissen angeeignet habe.
    Eine Metrik, die mir sagt, ob und zu welchem Ausmaß ich ein Thema gelernt habe. Dabei konnte ich die Prinzipien bis dahin gar nicht mehr auswendig.

    Heute sagt mir mein Nachbar, ich habe mich gut eingelebt. Dementsprechend muss ich ghanaische Verhaltensmuster gelernt und mir angeeignet haben, oder? Trotzdem fühlt es sich ohne Zahl, ohne Nummer, die evaluiert und bestätigt, nicht danach an.

    Eine letzte Sache: Der Notendurchschnitt zum Ende der Halbjahre, war eine Einheit, die Entwicklung angegeben hat. Zu wie viel Nachkommastellen
    hat man sich verbessert oder verschlechtert?

    Dieser Vergleichswert alleine hat aber natürlich nicht gereicht. Man hat sich automatisch mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern verglichen. Dabei sollten die Notenskalen an sich doch der Vergleichswert und die Bestätigung sein, dass man etwas, zu einem gewissen Ausmaß, gelernt hat. Die Metrik alleine (1-6; 15-0) und die dazugehörigen Bezeichnungen waren aber mangelhaft und ungenügend.

    Das Zeugnis gab also eine Übersicht, wo man gerade steht, wo man stand und wo die anderen stehen. Durch “Was hast du für’n Schnitt?” wurden die Noten auch gerne auf die komplette Entwicklung, auf den ganzen Menschen projektiert, dabei erfassen sie nur so wenig.

    Eltern kennen das vielleicht. Auf die Frage, wie sich der Kleine denn mache, wird tendenziell eher auf die Schulentwicklung, in Form von Testergebnissen oder Lehrergesprächen, verwiesen und nicht darauf, wie er sich mittlerweile seine Schuhe selber bindet und den Schulweg alleine läuft. (Habe keinen Beweis und vielleicht kommt’s euch trotzdem bekannt vor.)

    Zahlen in Metriken sind anschaulich und bestätigend. Ich würde mich über eine Zwei im Verhalten, nachdem ich die letzten Jahre immer Dreier hatte und letztes Jahr sogar eine vier, auch mehr in meiner Entwicklung bestätigt fühlen, als wenn mir der Lehrer sagt “Du benimmst dich ja gar nicht mehr so schlimm wie Früher…”

    Es gibt keine Noten mehr. Seit letztem Sommer führt mich niemand mehr durch das Labyrinth. Aus keinen Abbiegungen, wurden unendlich viele. (M)eine Definition von Selbstverantwortung.

    Bilder und ein Update von mir folgen. Danke, dass Ihr euch die Zeit nehmt, meinen Blog zu lesen. Feedback und weiterleiten ist willkommen.

    Ganz liebe Grüße,
    Euer Jascha
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  • Day 230

    Tag

    April 27, 2023 in Ghana ⋅ 🌧 24 °C

    Mehr als die Hälfte meines, von Euch ermöglichtem, Freiwilligendienstes ist nun vorbei.

    Eine der ”richtigsten” Entscheidungen meines Lebens, denke und spüre ich.

    Ich erlebe unendlich viel, so dass es mir schwer fällt, an Erfahrungen festzuhalten. Zwischenfazite zu ziehen, zu reflektieren. Dafür nehme ich mir wenig Zeit.
    Dadurch, dass mein Aufenthalt in Ghana von einer 22 und 23 eingerahmt ist, entsteht ein eigenartiges Zeitgefühl.

    Einerseits finde ich acht Monate eine lange Zeit.
    Andererseits habe ich das Gefühl nur mit einschlafen und aufwachen beschäftigt zu sein, weil die Tage so schnell vergehen.
    Ein Grund dafür sind sicherlich meine Arbeitszeiten.

    Das Tor ist manchmal schon verschlossen, die letzten Nachbarskinder schauen in der, mit Fernseher ausgestatteten, Schneiderei gegenüber Serie und die Sonne ging vor 2 Stunden regelgemäß unter, wenn ich vom Tag in Jamestown, zu meiner Heimatstadt Nima zurückfahre.

    Lasst uns die Uhr neu aufziehen, während ich Euch von einem typischen Tag in meinem Leben erzähle.

    Von Dienstag bis Samstag (keine Schule = mehr Kinder) stehe ich um Acht auf, putze meine Zähne, ziehe mich an, vergesse zu frühstücken und plane mit Cleo die Hinfahrt zu unseren Arbeitsplätzen.

    “GuMo Jascha, Bolt oder Trotro?”

    Bolt, ein “Taxi” Vermittler wie Uber, ist in Deutschland reguliert. Hier nicht, was zu einer noch größeren Konkurrenz unter Transportdienstleistern führt. Ein großer Komfort, zu kriminell niedrigen Preisen, bei denen man sich manchmal fragen muss, ob die paar, stumm übergebenen, Cedis überhaupt die Tankkosten decken.

    Dann gibt es noch das Trotrosystem, über dessen unfassbare Verlässlichkeit und landesweiten, ‘tschuldigung, kontinentweiten, Umfang, ich einen eigenständigen Eintrag schreiben müsste.
    Zusammengefasst: Typisches Fortbewegungsmittel mit der Möglichkeit, etwas wachmachendes, wie zum Beispiel das Abfallen der Tür, zu erleben. Pro.

    Die Tendenz meine Lebenserwartung erheblich zu verringern und Unkomfortabilität stehen dem schwitzenden Minibus entgegen. Deshalb und vor allem, weil wir für’s Trotro eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, holt uns meist ein Toyota Vitz vor der Haustür ab. Das Vorkommnis dieses Automodels unübersehbar.

    An einer der ausführlichen Ampelphasen in Accras (Vulkan)ausbrechenden Verkehr, werden einem von Wassertütchen, bis hin zu Gesetzbüchern und Steinschleudern, ziemlich alles vorstellbare angeboten. Die gelassenen, zwischen den Autoreihen schlendernden Verkäufer*innen, müssen aufpassen, nicht von Motorrädern erwischt zu werden, während sie das Rückgeld durch die (immer) offene Fensterscheibe reichen.

    In Jamestown angekommen, biegen wir kurz vor dem bekannten Lighthouse ab und kommen mit Blick auf den Basketball Court und Cleos Stelle, dem Theater, zum Halt.

    Immer wieder werde ich von großen Zelten oder anderen Gerüsten auf unserem Platz begrüßt. Seine Funktion geht weit über die zwei Basketball Körbe hinaus.
    Es ist ein beliebter Veranstaltungsort in einer Stadt mit so wenig freien Raum. In Ghana ist es sowieso üblich, Feste mitten in der Öffentlichkeit zu feiern. Ein Grundstück, das alle Gäste bewirten kann, haben nur die Wenigsten im vollgepackten Accra. Dementsprechend kann es gut sein, dass man einen Umweg fahren muss, weil die Straße von einer Beerdigung besetzt ist.

    Das Besondere bei solchen Veranstaltungen ist, dass sich jeder zu jeder Zeit zusetzen kann. Ghanas (Gast)Freundlichkeit und Gemeinschaftlichkeit ist berührend.
    Es spiegelt sich in allen Bereichen wieder, vor allem aber beim Essen. “Your’re invited!” Eine, nicht nur daher gesagte, Aufforderung zum Teilen.
    Anfangs war es noch ungewohnt, gemeinsam von einem großen Teller zu essen. Jetzt käme mir die Frage “Getrennt oder Zusammen?” absurd vor. Heute zahlt einer, das nächste mal der Andere. Wenn es kein nächstes mal geben sollte, ist das auch gut, denn das was man hat, genießt man zusammen.

    Im stickigem Büro angekommen, begrüßen mich meine Kollegen freundlich.
    Abgesehen von der Hitze, herrscht im Büro eine optimale Arbeitsatmosphäre.
    Allgemein befinde ich mich bei DUNK in einer Umgebung, die mir das Gefühl vermittelt, wertvoller Teil eines großartigen Projekts zu sein. DUNK macht viel und ich sehe täglich, wie Leben positiv beeinflusst werden.

    Den administrative Morgen lasse ich gegen 14 Uhr hinter mir, wenn ich mich zielsicher auf die Suche nach Nahrung mache. In vier von fünf Fällen gönne ich mir Bohnen, in Kombination mit frittierten Kochbananen. “Red-Red” oder “Gob3” heißt das Gericht und mein Spitzname.

    Vollen Magens bereite ich schließlich das Basketballtraining oder die Nachmittagsaktivitäten vor. Natürlich macht es am meisten Spaß, meine Kids zu trainieren. Es gibt neben meinem U16 Team, aber auch noch die ganz Kleinen, eine Frau- und eine Mannschaft.

    Ein kurzer Exkurs in meine Vorbereitungszeit in Ostfildern.
    Geplagt von Zukunftsängsten, lag ich eines frühjährlichen Morgens im Bett und scrollte durch weltwärts FSJ Angebote. Einzige Bedingung, Ausland.

    Nach einer Stunde Zukunftsbeschäftigung, bin ich über meine jetzige Gegenwart gestolpert und war interessiert. Noch am selben Tag, eine Woche vor der Bewerbungsfrist, habe ich also angefangen mein Motivationsschreiben an Aminu e.V. zu formulieren.
    Vier Wochen später lief ich, zwar immer noch übermüdet, aber entspannter zur Schule, da ich endlich wusste, dass etwas auf mich warten würde und ich nicht planlos dem postschulischem Chaos ausgesetzt sein würde.
    Was genau mich in Ghana erwarten würde? Darüber habe ich mir nie wirklich Gedanken gemacht. DUNKs Präsentation auf weltwärts Website reichte mir anscheinend. Wenn immer ich von meinen ghanaischen Zukunftsplänen erzählt habe, musste ich selbst grinsen, weil es so surreal schien.

    In Ghana gelandet, merkte ich schnell, wie gut es mir tat und tut, dass ich mich damals nur eine Stunde mit meiner Zukunft beschäftigte, denn gemachte Erwartungen stellten sich schnell nicht nur als unrealistisch, sondern als lächerlich, heraus. Die Umstände hierzulande sind unvergleichbar (weder negativ noch positiv), weshalb man große Anpassungsfähigkeit entwickeln muss.
    Wenn man also von Anfang an so gut wie keine (bewussten) Erwartungen hat, erleichtert das einiges.
    Erwarte das Unerwartete habe ich gepredigt, als mich letztens meine Mama und mein Bre besucht haben. Ein lebenswichtiges Mantra für mich.

    Zurück nach Jamestown.
    Eines dieser unerwarteten Phänomen ist die vielfältige Rolle eines Jugendtrainers. Erst jetzt fange ich an meine ehemaligen Trainer, mit ihren verschiedenen Persönlichkeiten und ihren unermüdlichen Aufwand wertzuschätzen.

    Ich denke, nicht nur jemand, der Übungen vormacht, zu sein, sondern manchmal fühle ich mich wie ein Vater. Basketball und das Umfeld bei DUNK bedeuten den Kindern unvorstellbar viel. Es ist eine Art Flucht aus einem schwierigem Alltag. Zeit, in der man unbedingt(e) Freude haben kann.
    Viele meiner Kinder sehe ich jeden Tag, so bin ich nicht nur für ihre basketballarische Entwicklung verantwortlich, sondern auch Bezugs- und Erziehungsperson. Anfangs habe ich das noch nicht so gesehen, aber umso mehr Zeit ich mit Allotey, Oko, Rauf, Atta Ayi und Co verbringe, desto mehr Verantwortung übernehme ich.

    Den letzten Pfiff gepfiffen, fülle ich noch ein digitales Anwesenheitsformular aus, um unsere Monitoring & Evaluation Protokolle einzuhalten und lasse die Bälle, Leibchen und Hütchen an den vorgeschriebenen Platz bringen. Zu guter Letzt, kriegt jeder ein oder ein halbes Tütchen Wasser.

    Während ich vor einem Jahr unter der Spielerbank noch zwischen den vielen, mit Sprudel-, Isotonic-, oder Magnesiumwasser gefüllten, Flaschen suchen musste, können sich unsere Spieler diesen Luxus nicht leisten. Wahrscheinlich nicht mal vorstellen.
    Einen eigenen Ball hat keiner meiner 16-jährigen Jungs, wir spielen meist ein halbes, höchstens ein Spiel pro Monat, auf Grund von zu hohen Transportationskosten.

    Auf dem Heimweg grüße ich noch die bekannten Gesichter an den Haltestationen und schaue zufrieden durch die Gegend.

    Tolles Leben.

    Am Ende des Tages bin ich d’accord mit meinen Arbeitsgewohnheiten und
    habe versucht keine Wertungen in meine Alltagsbeschreibung einzubauen.

    Manchmal…
    …vergesse ich mich selbst und meine Geliebten und ich bin mir auch sicher, dass es mir langfristig nicht gut tun würde, so viel (gedankliche) Zeit auf Arbeit zu verbringen.

    Meistens…
    … bin ich dankbar für mein Leben in Ghana und meine Integration bei DUNK und vertraue in eine fortschreitende Entwicklung, durch Aussetzung in einem inspirierendem Umfeld.

    Grüße und ein riesiges DANKESCHÖN an all meine Spender*innen. Ihr ermöglicht mein Glück.

    Euer Jascha
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  • Day 340

    Door of No Return

    August 15, 2023 in Ghana ⋅ 🌙 25 °C

    1

    Es ist halb Sieben, dunkel und deshalb ruhig. Ich sitze vor unserem Tor in der Oku Street und möchte eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von einem Stimmungswechsel, den ich so noch nie erlebt habe.

    Sie soll mit dem Schwirren des Ventilators anfangen, der den Raum schön kühl hielt, so dass wir uns ausgeschlafen auf den Weg zum Castle machen.

    Eine gut besuchte, von den Kolonialmächten eingeweihte, Kirche singt fröhlich vor sich hin. Die Lieder drehen sich um Freiheit und der Befreiung des Bösem. Am geöffneten Tor ist eine, ebenso munter vor sich hinwehende, Englandflagge befestigt.

    Ein paar Schritte weiter, nun nur noch 15 von der Sklavenburg entfernt, kommt ein Künstler auf Lena und mich zu. Souvenirs an diesem schönen Ort wolle er verkaufen. Neben ihm, ein älterer Mann, der fragt ob wir ihn mit nach Europa nehmen würden. Wir verneinen höflich und gehen weiter.

    Hinter dem Tor begrüßen uns mehrere Verkaufsstände mit prachtvollen, typisch(en,) bunten Kleidern. “AKWAABA!” (Willkommen auf Twi) Heißt es auf der Holztafel über dem sitzenden Verkäufer.

    2

    Glück hätten wir, gerade würde eine neue Führung starten. Wir sollen uns einfach der wartenden Gruppe am “Male Dungeon” (Männerhöhle) anschließen, meint die nette Frau an der Rezeption, während sie mir das Rückgeld in die Hand legt.

    Der breite Hof und die gepflegten, weißen Wände hoch zu dem ehemaligen Gouvernorszimmer haben mich auch dieses Mal unwohl beeindruckt fühlen lassen. Umgeben von einem feinkörnigen Sandstrand, glatten Steinketten und dem auflaufendem Meer, ist das Castle einfach ein wunderschön gelegener Ort. Ein halbes Jahr früher habe ich schonmal eine “Tour” durchs Castle absolviert. Damals schon konnte ich den Widerspruch von unvorstellbarem Leid in einer Photoshoot-Location, nicht verarbeiten.

    Auf den schattigen Eingang der Höhle zulaufend, entdecke ich unsere Gesellschaft. Schwer ist das nicht, denn die Gruppe aus Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz ist auffallend gekleidet. Über den Kopf ragende Reiserucksäcke, Allwetter Jacken, wasserfeste Wanderschuhe und mulit-purpose Reißverschlusshosen. Perfekt gewappnet eben für das klimatisierte Auto und die asphaltierten Straßen. Unsere Vorstellung von Afrika ist ein Witz.

    Dem Kreis beigetreten, geht es auch schon los. Der im African Print (bunter, kunstvoller Stoff) gekleidete “Tourguide” stellt sich vor. Mr Tetteh. Ein Nachname, den ich häufig in Jamestown, meinem Arbeitsplatz, höre.

    Nach einem kurzem Rückblick auf den Bau der Burg, dem ursprünglichem Zweck und einem Hagel von Jahreszahlen, übernimmt Mr Tetteh geübt die Führung. Aufpassen sollen wir, die abgelaufenen Backsteine seien rutschig und hart.

    3

    Im “Male Dungeon” wird der Boden schrittartig weicher. Es fühlt sich an, als ob man auf einer dünnen, schwarzen Matratze läuft. Ähnlich beschreibt es Mr Tetteh auch, nur dass die einzentimeterdicke Schicht nicht aus Kunstoff sei, sondern aus dem Urin, Blut und restlichen Körpersubstanzen ehemaliger, festgefangener Sklaven.

    Entlang Westafrikas Küste gab es zahlreiche solcher “Haltestationen” für Sklaven. Nachdem sie aus dem Landesinneren teilweise monatelang zur Küste wandern müssen, kommen sie schwach und aneinander gekettet an den Burgen an.

    Einmal da, werden die Ketten abgenommen und mit einem Platz im Dungeon ersetzt. Drei bis Zwölf Wochen müssen sie nun unter höllischen Bedingungen auf ihr Schiff Richtung Europa oder Nordamerika warten.

    Nachdem Mr. Tetteh noch das Licht ausmacht und uns realisieren lässt, dass es in dem Dungeon keine Fenster gibt, lediglich ein Atemloch, gehen wir weiter zum Schrein.

    4

    Mir ist das auf englisch ähnlich ausgesprochene “Shrine” nicht bekannt, frage also nach.
    Schon fast begeistert schießt es aus allen Richtungen los: “Wie du kennsch des net?” - “Schrein gibts auch im Deutschen” - “It’s where you pray” - “Isch wie ne Kirche für andre halt…” Es kommt noch mehr, meine Gedanken fügen sich aber nicht mehr zusammen. Ich bin irgendwie geschockt, denn diie laute Teilnahme unserer Gruppenkollegen passt mal so gar nicht zu meiner Stimmung und das erste Mal in meinen zwei Besuchen frage ich mich, wieso ich hier ruhig sein will.
    Warum fühlt sich jeder spaßige Gedanke an diesem Ort falsch an?

    Mr Tetteh unterbricht meine Reflexion. Ob ich (es) nun verstanden hätte, was ein Schrein ist, schaut er mir in die Augen. Um ehrlich zu sein, bin ich mir immer noch nicht ganz sicher. Nichtsdestotrotz steigen wir wieder hoch auf den Hof. Die weißen Wände spiegeln das grelle Sonnenlicht, unsere Augen sind zugekniffen. “Boar isch des heiß, wie lang no?” schallt es von hinten.

    5

    Drei Zurufe braucht es, bis sich die Gruppe endlich vor den offenliegenden Grabsteinen in der Mitte des Hofes versammelt hat. Mr Tetteh erzählt die Geschichte eines Ghanaers, der mit den Engländern zusammengearbeitet hat und Seinesgleichen versklavte. Seiner Taten zur Ehre, begruben ihn die Engländer neben einem ehemaligem Gouverneur und seiner Frau. Verhungerte Sklaven wurden kurzerhand ins Meer geschmissen.

    Zwei Neuankömmlinge wollen der Gruppe beitreten. Mr Tetteh winkt abweisend.

    6

    Vor sichtig berührt sein Handrücken den Türrahmen. Erfahrung hat Mr Tetteh wohl gezeigt, dass er unsere Köpfe vor dem niedrigen Eingang der Todeszelle beschützen muss. In der stickigen Zelle erklärt er uns, dass sie zur Abschreckung potentieller Rebellen gedient hat.
    Stolz unterbricht der Italiener. Die zu Tode verurteilten Sklaven würden nicht erschossen werden, denn sie seien das Schwarzpulver nicht wert gewesen. Letzte Woche habe er schon zwei Burgen besucht, morgen soll noch eine folgen.
    Per zögerlichem Nicken nimmt ihm Mr Tetteh das Wort und dann schirmt seine Hand auch schon wieder den Türrahmen ab.

    7

    Vor der Treppe, die zur Sklavenverkaufshalle führt, hält Mr Tetteh abrupt. Ich laufe direkt hinter ihm, muss also schnell auf den Stopp reagieren.
    Leicht verwundert hebt sich mein Blick hoch zu seinem Gesicht und ich treffe seine Augen. Diese sind lang nicht mehr so begeistert, wie sie es waren, als er die vielen Jahreszahlen aufsagte. Seine Wangen sind rot und die Stirn wirkt angespannt. Auch die Schultern sitzen tiefer und die Arme schwingen nicht mehr mit, wie sie es anfangs getan haben. Er wirkt angestrengt.

    Mehr und weniger aufmerksam sehen wir ihm dabei zu, wie er das zu Ende bringen will, was er in der Todeszelle angefangen hat, zu erzählen.
    Folter und die ekelhaftesten Dinge hätten Europäer dort durchgezogen. Wir kommen an der einzigen Stelle der Führung an, die mich routinelos schlucken lässt.

    Nach einer Zeit kann ich den Augenkontakt einfach nicht mehr halten. Die Vorstellung der rumgezogenen Leichen ist kaum auszuhalten. Mr Tetteh erzählt nämlich so, wie Großeltern es tun. So Echt, so nah. Ich fühle mich unwohl und irgendwie schuldig. Meine Arme kitzeln. Wie kleine Lanzen stechen die Haare in die Haut. Bei dem Gedanken, was für schreckliche Sachen hier passiert sind, bekomme ich Gänsehaut.

    Und genau an diesem Punkt, dem womöglich emotionalsten des Tages, scheint die Sonne den Sicherungskasten unserer Gruppenkollegin endgültig durchgebrannt zu haben: “WHO’S FOR DRINKS ET SE BEACH? DRINKS ET SE BEACH?” Unterbricht sie, mit heftigem Akzent, Mr Tetteh

    Daraufhin zieht sich mein Bauch zusammen und Mr Tettehs gestikulierender Arm bleibt in der Luft stecken.
    Seine Worte: verwichen.

    Entsetzt warte ich aufs Einschreiten von Mr Tetteh, ihrem Mann oder sonst wem, aber die vierzigjährige Dame erntet eher Zustimmung, als dass jemand ihr unangebrachtes Verhalten kritisiert.

    Mr Tetteh seufzt gekonnt, legt seine Arme an, dreht sich um und besteigt tourgemäß die Treppen.

    Während der Rest der Gruppe folgt, bleibe ich starrend stehen. Ich spüre Lenas Hand auf meiner Schulter: “Es gibt nunmal solche und solche Menschen, zeigt dir wenigstens, wie du tickst.” sagt sie und geht voran.
    In ihrem Schatten sehe ich meine Füße die Treppe hochlaufen. Meine Gedanken werden aber für den Rest der Tour unten, bei dem in der Luft zurück gelassenen Arm und den Getränken am Strand, bleiben.

    8

    Mein Bewusstsein nimmt sich dem, was Mr Tetteh erzählt, nicht mehr an. Ab jetzt, werde ich nur noch hinterherlaufen und auf das Ende der Führung warten. Der Drang, den Vorfall am Schluss anzusprechen ist so groß, wie die damit verbundene Spannung und das Konfliktpotential.

    Nach der Verkaufshalle laufen wir ein Geländer entlang, Mr Tetteh erzählt irgendwas von Kämpfen unter den europäischen Besatzungsmächten, aber ich höre eigentlich nur, wie sich die Worte in meinem Kopf melden und wieder verschwinden. Dazu werde ich nervös, denn umso häufiger sich die konfrontierenden Formulierungen wiederholen, desto mehr verpflichte ich mich auch, am Ende der Führung, das Verhalten der Frau wirklich zu kritisieren.

    9

    Die Frau wischt sich den Schweiß ab.

    10

    Der letzte Raum, den wir gezeigt bekommen, ist gefüllt mit Souvenirs und Mitbringseln. In mir kommen ähnliche Gefühle auf, wie vor dem Castle, als uns die Künstler und Touristände entgegenkamen. Dieses Aufeinanderstoßen von Kommerz und Gedenkkultur inmitten einer ehemaliger Sklavenburg reibt sich in mir.

    Nur kurz denke ich darüber nach, dann wiederholen sich die Sätze, die unsere Gruppe ansprechen sollen.

    11

    Ein letztes Mal warten wir geduldig auf den Rest der Gruppe. In einem kahlen Durchgang hinter einer Aussichtsplattform soll die Führung enden. Die Decke ist hoch. Bevor Mr Tetteh sein Schlusswort aufsagen wird, frage ich, ob ich etwas sagen könnte. “No problem.” Nickt er mir zu.

    Ich bitte um Aufmerksamkeit: “Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit…”

    Ein “Ohooo!” erkennt sicher meiner Bitte an. Die Frau betont es aber so, wie ältere Geschwisterteile es tun, um die Jüngeren am Widersprechen zu hindern. Ich ignoriere die Provokation und merke wie sich mein Mund zu den einstudierten Phrasen anfängt zu bewegen: “As much as we are here as toursits that explore Ghana, we also came here to learn and remember. Right? In my opinion I find It inappropriate and disrespectful to discuss fun afternoon activities. Thank you.”

    12

    Die Zufriedenheit, es ausgesprochen zu haben vergeht schnell. In Kürze werde ich nämlich einen kollektiven Stimmungswechsel von fröhlich neugierig zu verachtend verletzt beobachten. Lena und ich werden Opfer dieser Ausgrenzung sein und auch wenn ich an Kontern und Rechtfertigungen feilen werde, werde ich kein einziges Wort mehr sagen.

    13

    Gespannt verschränke ich meine Hände hinter dem Rücken und warte auf die Reaktion meiner werten Kolleg*innen. Diese kurze Ruhe entsteht, es ist als ob man einem Kind Handyverbot gibt. Mit geöffnetem Mund und gehobenen Augenbrauen wird realisiert, dass man eine Grenze überschritten hat, doch im allernächsten Moment ist es schon wieder vergessen, denn die heiße Wut heute Abend keine Videos mehr schauen zu dürfen, lässt jeden vernünftigen Gedanken verdampfen und das muss raus geschrien werden.

    Ich meine, dem Italiener kein Handyverbot gegeben zu haben und trotzdem läuft er rot anlaufend und Finger zeigend auf mich zu. Sein Schnauzer fährt Achterbahn, so wie sich die Beleidigungen überschlagen: “FUCK OFF! We don’t - PISS OFF! - wan’t you here! Who are you to say this? You little- You didn’t even pay for this tour, we don’t want to talk to you, you fucking Freelancer!”

    Der Mann kommt immer näher und mit meinen Armen hinter dem Rücken fühlt es sich an, als ob ich meine Verteidigung aufgeben hätte. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so sicher in dem was ich gesagt habe, bleibe aber trotzdem ankernd stehen. Nun ist er schon fast in meiner Zone, die, in der anderen verschränkten, Hand zuckt schon, da unterbricht ihn die Frau schwäbisch: “Ha ne, also echt net, des hör i mir net ah” Auch sie tritt näher und spricht mir zu: “Ich glaube, vor allem in Ihrem Alter, haben Sie nicht das Recht sowas zu sagen, also bei allem was Recht ist.”
    Schnaubend dreht sie sich wieder zur links und rechts diskutierenden Gruppe und lässt ein “Mir ham ja au sechs Milliona Juda aufm Gwissa, isch net so als ob mir ned wissa wie’s dene ganga isch” los.

    Ich muss wohl doch versehentlich ein Handyverbot ausgesprochen haben. Und was ein schlimmes, denn anders kann ich mir diese Reaktion nicht erklären.

    Wieder schlucke ich das Wasser, dass sich unter meinen Augen ansammelt runter. Es schmeckt nicht gut, denn egal wie sehr ich das unangebrachte Verhalten der Gruppe, vor allem den Vorfall der Frau, verurteile, von einer Gruppe ausgegrenzt zu werden, fühlt sich nie gut an.

    Um den Italiener davon abzuhalten, mir noch näher zu kommen, greift Mr Tetteh ein: “Please can we calm down? Please- Please the tour is ending.” Zieht natürlich nicht, also probiert er eine andere Strategie: “I’m sorry for this incident and the behaviour of this young man. I apologise for his actions. I thought he was part of your group, that’s why I let him speak.”

    Mal ganz abgesehen von dem Fakt, dass eine vermeintliche Professorin ihr respektloses Verhalten Sklaven gegenüber mit der Opferzahl des Holocausts rechtfertigt bin ich nun komplett entsetzt. Mein Mund steht offen. Die einzige Person, neben Lena, von der ich Unterstützung erwartet habe, entschuldigt sich in meinem Namen. Völlig verstört schüttle ich meinen Kopf, innen drin schüttelt sich alles mit, ich kann die Folge von Angriffen, Unwahrheiten und Ausgrenzung nicht verarbeiten.

    Nach einem letztem “Don’t follow us, find your own way out, piss off!” Führt uns Mr Tetteh die Treppen runter zum Burgausgang. Trotz der uns umzäunen Blicke folgen Lena und ich die Treppe hinunter. Die Frau beschwert sich bei ihrem Mann: “Du i sag’s dir, des isch die Jugend. So frech. Des merksch bei meinen Studenten au immer mehr”. Kurze Pause. “Typisch deutsch mal wieder”.

    14

    Mit “Te oyɔɔ tɛŋŋ?” ziehe ich Mr Tetteh aus einer Gruppe Pause machender “Tourguides”. Damit frage ich ihn auf Ga, wie es ihm gehe. Durch seinen Nachname, den ich häufig in Jamestown höre, konnte ich seinen Ursprung erraten. Er ist überrascht und antwortet, dass es ihm gut gehe. Ob ich in Ghana lebe, möchte er wissen.

    Den Smalltalk lassen wir schnell hinter uns und ich komme direkt zu meinem Anliegen. Mittlerweile ist die Konfrontation mit der Tourgruppe 20 Minuten her, sie haben sich in einen komfortablen Privatbus gesetzt und fahren durstig Richtung Strand, während Lena und ich wortlos den Wellen hinterherschauten und versucht haben, uns zu sammeln. Vollkommen aufgesammelt werden wir erst am nächsten morgen sein.

    Aus Höflichkeit entschuldige ich mich dafür, dass ich der Auslöser für das hässliche Ende war. Kopfschüttelnd und Arme wackelnd weist er meine Aussage zurück, sie haben sich falsch benommen, ich hätte ja recht.
    Mr. Tetteh seufzt: Er müsse aber die Gruppe als Ganzes behandeln und seine oberste Priorität sei ein reibungsfreier Ablauf der “Tour”. Eigentlich hätte er mich gar nicht zu Wort kommen lassen sollen, aber er dachte ich sei Teil der geschlossenen Gruppe gewesen.

    Um Ehrlich zu sein, bin ich von seiner Unehrlichkeit enttäuscht. Als der Konflikt entstand, hat es nämlich nicht lange gebraucht, bis er sich der feurigen Gruppe angeschlossen hat. Da hieß es noch nicht, die Frau hätte sich schlecht benommen und die Gruppe sei anstrengend, wäre unaufmerksam.

    Ich verstehe seine Aufgabe, Konflikte zu vermeiden. Die Missachtung einer historischen Gedenkstätte und des Schicksals Sklaven verstehe ich jedoch nicht.
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