Trans Swiss Trail (4) - am Ziel
Morgens um sieben Uhr holt mich die Glocke von San Stefano endgültig aus dem Schlaf. Nach dem vierzehnten Schlag bin ich hellwach. Frühstück gibt es auf der Terrasse. Das Auf und Ab der letzten drei Tage war anstrengend und steckt mir noch in den Knochen. Ich verspüre wenig Lust aufs Weiterwandern, Ich bräuchte vielleicht einen Tag Pause vom Wandern. Der Gedanke lockt, noch eine Nacht in diesem netten Hotel zu bleiben. Dann könnte ich gemütlich mit dem Bus nach Lugano fahren, um einen geruhsamen Stadtbummel zu machen. Morgen könnte es dann ja weiter gehen.
Kaum satt, verwerfe ich die Gedanken jedoch wieder. Heute soll es weiter gehen auf meinem Weg, der ja nicht mehr weit ist.
Etwas widerwillig breche ich auf. Ein paar hundert Meter liegen bereits hinter mir, als ich meine Trekkingstöcke vermisse. Sie müssen noch in der Hotellobby stehen. "Brauche ich sie überhaupt noch?", frage ich mich, "schaffe ich die letzten Kilometer nicht auch ohne sie?" Eigentlich brauche ich die Gehhilfen nicht mehr. Schon will ich weiter gehen und sie zurück lassen, doch ich fühle meine innere Stimme sagen: "Sie haben dich über den halben E1 getragen, durch den ganzen Odenwald und den langen Schwarzwald, durch ganz Dänemark und jetzt durch die Schweiz bis hierher. Haben sie es verdient, stehen gelassen werden?". Die Spitzen sind vor Tagen schon abgefallen und damit sind die Stöcke eigentlich nutzlos geworden. Doch das ist egal. Ihretwegen bin ich schon einmal in Dänemark umgekehrt. Nun werde ich es wieder tun. Ein Wanderer geht eigentlich niemals zurück. Doch gelegentlich kommt es vor. Der Hotelbesitzer hält bereits nach mir Ausschau und reicht mir die Stöcke mit einem breiten Grinsen. Nun halte ich meine Stöcke ganz fest in den Händen.
Der Pfad führt durch die hügelige Landschaft der Capriasca in Richtung Lugano. Von der Kirche San Bernardo sind die Ausblicke hinunter zur Stadt und über den Lago di Lugano überaus eindrucksvoll. Auf der anderen Seeseite liegt der San Salvatore, der heute noch von mir bezwungen werden soll. Der Himmel über dem See ist von makellosem Blau. Es ist ein perfekter Wandertag. Breite Stufen geht es den Kreuzgang hinab in einen der Vororte Luganos. Die Häuser werden zahlreicher, die Hitze drückender. Ich nehme den Bus in die Stadt, denn ich mag nicht mehr laufen.
Rasch bin ich am Luganer Bahnhof. Hier meldet sich mein innerer Schweinehund mal wieder: "Schau, der Zug blinzelt dir zu, nimm ihn und fahre nach Hause". Tatsächlich! Der Zug lächelt sogar. Doch so einfach gebe ich nicht auf, sondern will meinen Weg schon noch bis zum Ende gehen. Die schönen Geschäfte der Innenstadt lenken mich ab und im Cafee Nassa gönne ich mir einen Kaffee. Nun kann es hoffentlich weiter gehen.
Kurz darauf sitze ich im Bus, um die Promenda Riva Antonia Caccia entlang zu fahren. Herrliche Ausblicke über den See bieten sich auch vom Bus aus, zu Fuß wäre es jedoch authentischer gewesen. Egal! An der Haltestelle Paradiso steige ich aus. Hier liegt die Talstation der Zahnradbahn, die mich den Monte San Salvadore hinauf bringen soll. "Lieber fünfzehn Minuten mit der Bahn die achthundert Höhenmeter rauf als stundenlang zu Fuß", sind meine Gedanken, während ich das Ticket löse. Heute scheint mein lazy day zu werden. Rasch erklimmt die Zahnradbahn den Berg, bald ist die Bergstation erreicht. Von dort ist der Weg zum Restaurant nicht weit, den viele Touristen auch einschlagen. Doch ich folge lieber dem Trampelpfad zur nahen Kapelle, dort gibt es ebenfalls einen schönen 360° Blick über den Lago.
Dann geht es den bewaldeten Bergrücken des Monte San Salvadore entlang. Noch einmal zeigt der Trail seine Zähne. Und am Ende treffe ich auf Stufen, die zum See hinab führen. "Um nach Morcote zu gelangen, müssen Sie tausend Stufen steigen", mahnte gestern der Hotelbesitzer in Tesserete, nun erinnere ich mich seiner Worte. Er scheint nicht untertrieben zu haben.
Ein eckiger Turm mit runder Spitze gerät ins Sichtfeld. Weit unten am See liegt die Pfarrkirche Santa Maria del Sasso. Ein Paar kommt von dort herauf. Als sie mich sehen, fragen sie schnaufend: "How far is it to the top?". "Thousend steps", antworte ich und schaue in entgleisende Gesichtszüge. Ohne weitere Worten drehen die beiden sich um. Schade, denn sie verpassen wunderschöne Ausblicke.
Doch ich muss gestehen, auch mich machen die Tausend Stufen allmählich fertig.
Dann - endlich - mündet der stufenreiche Weg auf einen Platz oberhalb der Pfarrkirche, der von einer Statue überragt wird. Das Abbild der heiligen Jungfrau Maria empfängt mich mit sanftem Lächeln und ausgebreiteten Armen. Der Stufen müde verweile ich still und andächtig in ihrem Schatten. Ich fühle, angekommen zu sein. Und allmählich weicht die Erschöpfung.
Ein kleines Stück Weg liegt noch vor mir. Ein Friedhof am See, an ihm geht es entlang bis zur Stadtgrenze, wo sich die Häuser immer enger aneinander schmiegen. Ein letztes Mal weitere Stufen hinab, dann verjüngt sich der Weg zu einem dunklen Tunnel, an dessen Ende es smaragdgrün funkelt. Da ist der See. Am Ende des Tunnels endet mein Weg an der Uferstraße. Gegenüber liegt eine Brücke.
Lange stehe ich auf dieser Brücke und blicke über den Lago. Ein Schiff könnte mich auf die andere Seeseite bringen, wo Italien liegt und der E1 durch die Lombardei verläuft. Immer weiter Richtung Süden, bis schließlich der südliche Endpunkt des E1 nach weiteren zweitausend Kilometern in Sizilien erreicht sein wird.
Aber das ist werden andere Geschichten erzählen.
Für die letzte Nacht dieser Tour finde ich ein kleines, feines Hotel am Ufer des Lago. Den lauen Abend verbringe ich auf der Terrasse mit schweifendem Blick über den großen, stillen See. Während ich mein Abschiedsessen genieße, verschwindet die Sonne glutrot hinter den Bergen, durch die es irgendwann auf dem E1 weiter gehen wird.Read more