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- Sep 18, 2016
- ⛅ 13 °C
- Altitude: 680 m
- GermanyBaden-Württemberg RegionOberharmersbachSchapbach48°22’31” N 8°11’10” E
E1-58-D-Harkhof (21km)
September 18, 2016 in Germany ⋅ ⛅ 13 °C
Südwärts auf dem Westweg (6)
Morgens mache ich gerne Gymnastik. Normalerweise spreize ich die Arme, beuge sie dann zu den Fußspitzen und dehne so die Beine, Trizeps, Schultern und die vom Wandern müde Rückenmuskeln. Dann strecke ich die Arme weit in die Höhe, bis es nicht mehr geht, dehne so den Rücken und er ist mir dankbar dafür. Dann biege ich den Oberkörper erst nach links, anschließend nach rechts. So wird die Hüftmuskulatur gedehnt. Ich mache es mit geschlossenen Augen, denn das ist wichtig für die Entspannung des Geistes. Der Körper ist mir dankbar dafür und ich mache es auf jeder Wanderung so. Ich denke, es hält mich fit.
Doch heute klappt es nicht, denn das Zimmer ist einfach zu klein. Während die eine Hand an den Kleiderschrank stößt, berührt die andere Hand die Duschkabine, die im Zimmer steht, was meine Entspannungsübung empfindlich stört. Und beuge ich mich vor, berühren die Fingerspitzen die Bettkante. Meine Güte, ist das Zimmer klein! Entnervt beende ich meine Morgengymnastik.
Dagegen war die Nacht sehr ruhig, hier störten keine Geräusche den friedlichen Schlaf. Nur der Regen tropfte die ganze Nacht ohne Unterlass ans Fenster. Und es regnet noch. Das schöne Sommerwetter scheint endgültig vorbei.
Ich sitze zusammen mit Marie am Frühstückstisch. Das Buffet ist üppig und lecker. Hin und wieder wandern unsere Blicke besorgt Richtung Fenster. Draußen regnet es ununterbrochen. Drinnen ist der Regen das bestimmende Thema.
„Ich habe meine Regenjacke vergessen“, meint Marie bekümmert.
„Du kannst doch einen Regenschirm nehmen. Die Pension hat sicher einen für dich“, empfehle ich ihr.
„Nein. Ich habe mir das schon überlegt. Ich schneide mir wohl einen Müllsack zurecht.“
„Marie Müllsack!“ entfährt es mir spontan und ich muss laut lachen. Ich erzähle ihr vom Appalachian Trail. Dort erhält ein Wanderer einen Trailnamen, den er fortan statt seines eigenen Namens verwendet, solange er auf dem Trail wandert. Er deutet auf eine Eigenart hin und bildet sich meist wie von selbst. Irgendwann ist der Name da. Marie hätte dort bestimmt ihren Namen jetzt verpasst bekommen. Auf dem AT würde sie jetzt nur noch Marie Müllsack genannt werden.
Ihr gefällt der Name.
Neben uns sitzt ein Pärchen mittleren Alters. Auch sie sind auf dem Westweg unterwegs und weiter hinten sitzen zwei ältere Damen, die ich gestern überholt hatte. Auch sie sind auf dem Westweg unterwegs, wie uns das Pärchen verrät. Wir alle haben also denselben Weg und, wie sich herausstellt, auch dasselbe Ziel. Heute streben wir alle zum Harkhof. Das ist für den Westweg vielleicht normal, weil auf ihm viele Wanderer unterwegs sind und es nicht so viele Unterkünfte gibt, aber für mich als Weitwanderer ist es eine neue Erfahrung. Bisher war ich fast immer alleine unterwegs, habe auf den Touren oft keinen Menschen getroffen und wenig gesprochen. Meine Abende habe ich meistens alleine verbracht. Auf dem Westweg ist alles anders. Und das gefällt mir gerade richtig gut.
Nun aber ist es Zeit, aufzubrechen. Jeder in seinem Rhythmus und zu seiner Zeit. Ich mache mich erst auf den Weg, als die anderen schon weg sind. Ich habe mich mal wieder mit dem Wirt verquatscht.
Es regnet immer noch. Vor mir dampft der Wald. Hinter mir verschwindet die Zuflucht im Nebel. Die Regenjacke ist schon nass, aber nur von außen, nach innen lässt sie keinen Tropfen durch. Ein Hoch auf das gute Material! Wie ergeht es wohl Marie mit ihrem Müllsack? Und Martina mit ihrem Regenschirm, den sie ja heute wohl den ganzen Tag brauchen wird. In der einen Hand den Regenschirm und in der anderen den Rucksack, den sie hinter sich her zieht? Und ihre selbstgenähten Wollsachen werden heute sicherlich einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt.
„Ob sie heute aufgeben wird?“, frage ich mich. Hoffentlich nicht!
Der Weg ist passend für das feuchte und nebelige Wetter: Wald links und Wald rechts. Weit schauen kann man nicht, aber es gibt wohl auf dieser Tour auch gar nicht viel zu sehen außer Wald. Mitunter kommt er sogar sehr nahe und der breite Forstweg wechselt für lange Zeit mit einem schmalen Pfad, der über die Höhen des Schwarzwalds führt.
Eine kurze Rast in der Lettstedter Hütte gibt mir für eine halbe Stunde Unterschlupf vor dem Nieselregen. In der Hütte bin ich nicht alleine. Eine Frau hat mit ihrem zehnjährigen Sohn ebenfalls Schutz gefunden und erzählt, dass sie die letzte Nacht im Auto verbracht haben.
Weiter geht es. Die Frau und ihr Sohn gehen in die eine Richtung, ich in die andere. Ich bin wieder alleine. Gräser und Farne streifen an meinen Hosenbeinen entlang, die Wassertropfen durchnässen Hose und Wanderstiefel. Die nahen Bäume recken ihre dunklen Stämme lang in die Höhe. Manchmal ist der Wald so dicht und dunkel, dass ich den Namen „Schwarzwald“ nun verstehe. Abgestorbene Bäume stehen am Weg, geisterhaft greifen ihre Äste wie Arme nach mir. Hin und wieder ist es unheimlich im Wald und gelegentlich fühle ich mich unwohl auf den
schmalen Pfaden.
„Was soll passieren?“, versuche ich mich dann zu beruhigen. Ich denke an den Kahlen Asten, auf dem ich hoch oben im letzten Jahr stand. Auch dort dichter Nebel, auch dort griffen Baumgeister nach mir. Da war ich noch im Rothaargebirge.
Mitten im Wald steht plötzlich das nächste Portal vor mir. Die Freiersberger Hütte gab dem Portal ihren Namen. Oder war es umgekehrt? Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Bezeichnenderweise ist das Portal ganz aus Stein und wird die Nässe überdauern. Die Steine triefen genauso wie ich. Weiter, hier ist es zu nass für einen längeren Aufenthalt.
Nur zwei Kilometer weiter liegt die Haaghütte und die trockene Bank auf dem Balkon lädt zur Rast ein. Die Hütte ist groß und hat einen angrenzenden Raum. Die Tür ist nicht versperrt. Neugierig betrete ich den dunklen Raum, kann einen Tisch, vier Stühle und vier Schlafstellen an der Wand ausmachen. In der Mitte des Raumes steht ein Ofen, daneben liegt Brennholz. Hier könnte man also bequem übernachten. Isomatte und Schlafsack auf der Schlafstelle ausgebreitet und fertig. Nur mit dem Ofen sollte man wohl vorsichtig sein, denn der ganze Raum ist rußgeschwärzt. Womöglich ist der Abzug verstopft. Einen Tag später soll ich einen Wanderer an der Kreuzsattelhütte treffen, der mir erzählt, dass er in der Haaghütte übernachtet habe. Er hätte versucht, Feuer zu machen und verqualmte die ganze Bude.
„Und meine Nacht war kurz, denn ich hatte ein unheimliches Erlebnis. Irgendetwas schlich um die Hütte und machte ganz eigenartige Geräusche. Ich glaube, es war ein Luchs, der herein wollte. Aber zum Glück hat er es nicht geschafft.“
Ich muss lachen und an die Schmiererei denken, die ich über dem Hütteneingang fand:
"Heike + Martin auf dem Westweg. Kämpften hier nachts gegen Mäuse, groß wie Hunde. Ansonsten tolle Hütte! 3.9.2012 "
Ob ich mich trauen würde, ganz alleine in einer solchen Schutzhütte zu übernachten? Noch bin ich mir nicht sicher. Aber ich werde es bald versuchen müssen.
Mein Wasser kocht gerade, da kommen die beiden älteren Damen direkt aus dem Nebel auf mich zu. Ich lade sie auf einen Tee ein. Sie nehmen dankbar an und setzten sich zu mir auf die Bank. Der heiße Tee wärmt die Finger und auch den Bauch. Herrlich. Wie wenig es braucht, um zufrieden zu sein. Die Damen hält es nicht lange und sie sind schon fort, als ich meine Sachen wieder verstaue. Offenbar brauche ich mehr Pausen als andere. Nur Martina braucht noch mehr Pausen als ich.
Der erste Wegweiser weist zum Harkhof, doch es sind noch ein paar Kilometer dorthin. Weitere Hinweisschilder sollen folgen. Es ist ja auch die einzige Herberge in dieser einsamen Gegend, man sollte sie also finden.
Irgendwann teilt sich der Wald, ich trete auf eine Wiese. Hier sollte man weit schauen können, aber der Nebel verschluckt alles. Irgendwo tönt eine Kuhglocke, ansonsten herrscht friedliche Stille. Wo nur liegt der Hof? Da, wieder ein Wegweiser. Er weist nach rechts, wo es steil bergab geht. Und da endlich taucht wie der fliegende Holländer ein großes Gebäude aus dem Nebel auf. Zuerst sehe ich nur Kuhställe, dann endlich auch das Wirtshaus. Warmes Licht strömt aus den Fenstern. Oh, wie ich mich nach Wärme und Trockenheit sehne! Zaghaft öffne ich die Tür. Herzlich werde ich begrüßt und gleich bestelle ich Kaffee, dazu Apfelkuchen mit Schlagsahne. Der wird hier selbst gemacht und die Äpfel schmecken wie frisch gepflückt. Kumpel ruht neben mir und ist froh, endlich dem endlosen Regen entronnen zu sein. Marie gesellt sich hinzu, sie ist schon lange vor mir angekommen und ist in der Gemeinschaftsunterkunft am Kuhstall untergebracht. Sie legt ein Notizbuch auf den Tisch, beginnt, Notizen aus einem Heft in ein anderes zu übertragen. Sie hat eine wunderbare Handschrift und bewegt die Hand, in der sie den Stift hält, langsam und bedächtig über das Papier, während sie Buchstabe für Buchstabe kunstvoll aneinander reiht. Sie gibt sich wirklich
Mühe.
"Warum machst Du das?", frage ich.
„Ich übertrage mein Reisetagebuch, damit meine Eltern es lesen können. Meine
Aufzeichnungen sind auf mehrere Zetteln verteilt, so will ich es ihnen nicht geben."
So erlebt sie also auf dieser Wanderung ihr Abenteuer ein weiteres Mal, so wie auch ich meine Wanderungen während des Schreibens auch immer noch ein drittes Mal erlebe. Allerdings erst nach der Tour.
Die Eheleute treten herein und auch die beiden Damen finden sich ein. So wird es ein gemütlicher Abend in der Schwarzwälder Stube weitab aller Orte und Straßen.
Genau so, wie der Schwarzwaldprospekt es beschrieb.Read more
Sommersprosse Anders sah es in dem Teil bei uns im Frühsommer des Jahres auch nicht aus. Es gab schlicht keine Aussicht im Nebel und Regen. Zum Glück änderte sich das Wetter später und in Basel war es schließlich viel zu heiß.
Michael-wandert Man muss es annehmen, wie es gerade ist.
Traveler Gab es bei dir schon die "kleinen Stühle" mit Blick auf den Harkhof?
Michael-wandert Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich sie im Nebel nicht gesehen. Oder der Blick war stur auf den Harkhof fokussiert. Was hat‘s damit auf sich?
Traveler schau mal hier die Bilder an: https://findpenguins.com/1rhdgj7g5c0ez/footprin…